10ObS42/25m – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi, den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Anja Pokorny (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch Mag. Christian Pachinger und Mag. Florian Mayr, Rechtsanwälte in Bad Schallerbach, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, vertreten durch Dr. Anton Ehm und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2025, GZ 12 Rs 5/25d 26, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Zwischenurteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 25. November 2024, GZ 17 Cgs 353/23z 20, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Rekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger erlitt am 11. 8. 2023 bei einer dienstlichen Überstellungsfahrt mit einem Traktor unter Alkoholeinfluss (1,5 Promille) einen schweren Verkehrsunfall mit Polytrauma, weil er zu schnell in eine Kurve einfuhr und von der Fahrbahn abkam.
[2] Der Kläger begehrt die Zuerkennung einer vorläufigen Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß.
[3] Dem hielt die Beklagte im Wesentlichen entgegen, dass der Kläger verunfallt sei, weil er aufgrund alkoholbedingter überhöhter Geschwindigkeit in einer Kurve von der Fahrbahn abkam und damit auf eine Art, die geradezu typisch für Unfälle sei , die die Folge einer Alkoholbeeinträchtigung seien. Die objektive Beweislast dafür, dass nicht die Alkoholisierung, sondern andere Ursachen den Unfall auslösten, treffe unter diesen Umständen den Kläger.
[4] Das Erstgericht stellte mit Zwischenurteil fest, dass das Polytrauma des Klägers Folge eines Arbeitsunfalls ist. Es traf eine Negativfeststellung zur Frage, ob der Kläger den Unfall aufgrund seiner Alkoholisierung verursacht hat.
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Versicherungsanstalt Folge, hob das Urteil auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung auf.
[6] Nach Ansicht des Berufungsgerichts sei der Beklagten vorerst der Beweis des ersten Anscheins gelungen, dass der Unfall wegen der Alkoholisierung erfolgt sei. Damit treffe den Kläger die Beweislast dafür, dass andere Umstände zumindest mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit den Unfall verursacht hätten. Diesbezüglich sei das Ersturteil mit einem sekundären Feststellungsmangel behaftet, weil nicht geklärt worden sei, dass der Unfall ausschließlich – wie vom Kläger vorgebracht – auf die überhöhte Geschwindigkeit, seine erhöhte Risikobereitschaft und eine „Art Betriebsblindheit“ zurückzuführen sei, weil er gewohnt sei, große Traktoren seines Arbeitgebers zu lenken.
[7] Den Rekurs ließ das Berufungsgericht – auch mit Blick auf 10 ObS 52/90 – zur Klarstellung der Frage zu, ob im Anlassfall das Abkommen des Klägers von der Fahrbahn wegen der erheblichen Alkoholisierung ein typischer Geschehensablauf sei, der die Anwendung des Anscheinsbeweises rechtfertige.
[8] Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich der – von der Beklagten beantwortete – Rekurs des Klägers, mit dem dieser die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Rekurs ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.
[10]1.1 Die Grundsätze der Beweislastverteilung gelten auch in Sozialrechtssachen (RS0086050). Dementsprechend trifft den klagenden Versicherten die objektive Beweislast für die rechtsbegründendenTatsachen (RS0039936 [T4]; RS0086050 [T12, T15]). Begehrt der Kläger den Zuspruch einer Versehrtenrente, hat er daher auch den kausalen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zur Verletzung führenden Unfall nachzuweisen (10 ObS 30/91).
[11] 1.2 Die Beweislast für rechtsvernichtendeoder rechtshemmende Tatsachen trifft hingegen die beklagte Versicherungsanstalt, die dem Anspruch des Klägers unter Geltendmachung solcher Tatsachen entgegentritt (10 ObS 30/91; RS0083992).
[12]1.3 Daher ist der Unfallversicherungsträger dafür beweispflichtig, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine „Lösung vom Betrieb“ eingetreten ist (10 ObS 30/91; 10 ObS 16/11t ErwGr 5; RS0083992; RS0084082). Darunter fällt auch eine Alkoholbeeinträchtigung, sofern diese die rechtliche erhebliche Ursache für den Eintritt des Versicherungsfalls war, der Zusammenhang zwischen dem Alkoholgenuss und dem Unfall damit nicht rein zufällig, sondern der dem Alkohol innewohnende Gefahrenbereich für den eingetretenen Schaden ursächlich war (RS0083992 [T1]; RS0084617). Die Lösung des betrieblichen Zusammenhangs durch eine allein wesentliche Alkoholisierung ist daher durch die beklagte Versicherungsanstalt zu beweisen (10 ObS 423/98y).
[13]1.4 Allerdings sind auch im Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen die Regeln des Anscheinsbeweises (modifiziert) anzuwenden (RS0110571), worauf sich auch der Versicherungsträger bei einem ihm obliegenden Beweis rechtsvernichtender Tatsachen stützen kann (10 ObS 133/98a; 10 ObS 423/98y; RS0109888). Der Anscheinsbeweis beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RS0040266).
[14]1.5 Ereignet sich der Unfall auf eine Art, die geradezu typisch für Unfälle ist, die die Folge der Alkoholbeeinträchtigung des Lenkers sind, so ist dem Sozialversicherungsträger vorerst der Beweis des ersten Anscheins gelungen, dass der Unfall seine Ursache nicht in den üblichen Gefahren des Arbeitswegs hatte, sondern die Folge der Alkoholisierung des Versicherten war. Die objektive Beweislast dafür, dass nicht die Alkoholisierung, sondern andere Ursachen den Unfall auslösten, trifft unter diesen Umständen den Versicherten (RS0109888).
[15] 2. Die angefochtene Entscheidung orientiert sich an der aufgezeigten Rechtsprechung. Eine zu korrigierende Fehlbeurteilung zeigt der Rekurs nicht auf.
[16]3.1 Der (an sich revisiblen, vgl RS0022624) Frage des Vorliegens eines typischen Geschehensablaufs kommt grundsätzlich keine erhebliche Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu (RS0022624 [T4, T5, T8, T11]).
[17]3.2 Zudem ist die vom Zweitgericht im Zulassungsausspruch zitierte Entscheidung 10 ObS 52/90, in der die Frage des Anscheinsbeweises gar nicht thematisiert wurde, mit der hier vorliegenden Konstellation schon deshalb nicht zu vergleichen, weil der dortige Unfall nicht auf eine (festgestellte) Fahruntüchtigkeit wegen Alkoholisierung zurückzuführen war. Im gegenständlichen Fall steht aber fest, dass die Geschwindigkeitswahrnehmung des Klägers wegen der Alkoholbeeinträchtigung „verzerrt“ war. Wenn das Berufungsgericht auch wegen dieses Umstands – und in Anschluss an 10 ObS 133/98a – den konkreten Unfallshergang wegen der Alkoholbeeinträchtigung als typischen Geschehensablauf qualifiziert, der den Anscheinsbeweis rechtfertigt (vgl zB RS0040266), kann das die Zulässigkeit des Rekurses nicht stützen.
[18]3.3 Davon abgesehen setzt sich das Rechtsmittel mit der Zulassungsfrage des Zweitgerichts argumentativ auch nicht näher auseinander und hinterfragt nicht ansatzweise, ob im Anlassfall der Anscheinsbeweis überhaupt zulässig ist. Die Klägerin argumentiert lediglich dahin, dass „der beklagten Partei – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – der Beweis des ersten Anscheins geradezu nicht gelungen (ist)“. Ob aber der Anscheinsbeweis im konkreten Einzelfall aber tatsächlich erbracht wurde, fällt nicht in den Bereich der rechtlichen Beurteilung, sondern ist eine reine Frage der nicht revisiblen Beweiswürdigung (RS0022624 [T2, T3]).
[19]3.4 Selbst wenn das Berufungsgericht – zu Recht – ausgesprochen hatte, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, das Rechtsmittel aber dann nur solche Gründe geltend macht, deren Erledigung nicht von der Lösung erheblicher Rechtsfragen abhängt, ist der Rekurs trotz der Zulässigerklärung durch das Gericht zweiter Instanz zurückzuweisen (RS0102059).