JudikaturJustizBsw8140/04

Bsw8140/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juli 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Vitzthum gegen Österreich, Urteil vom 26.7.2007, Bsw. 8140/04.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 13 EMRK - Fehlender Rechtsbehelf gegen Verfahrensverzögerung vor dem VwGH.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung

von Art. 2 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 21.9.1999 erließ die BH Braunau gegen den Bf. ein Straferkenntnis nach § 5 Abs. 1 iVm. § 99 Abs. 1 lit. a StVO wegen Lenkens eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand. Die Behörde stützte sich auf eine Atemluftuntersuchung und die dieser entsprechenden Ergebnisse einer am folgenden Tag durchgeführten Blutuntersuchung. Sie verhängte eine Geldstrafe in der Höhe von ATS 16.000,– (ca. € 1.160,–).

Die vom Bf. erhobene Berufung wurde vom UVS Oberösterreich am 21.12.1999 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewiesen. Der UVS sah es als erwiesen an, dass der Bf. am 15.6.1999 sein Fahrzeug mit einem den gesetzlichen Höchstwert übersteigenden Alkoholgehalt im Blut gelenkt hatte. Ein Antrag auf Einholung eines Gutachtens zum Nachweis, dass die beim Bf. festgestellte Alkoholisierung durch Getränke verursacht wurde, die er zwischen dem Lenken seines Autos und der Alkoholkontrolle konsumiert hatte, wurde vom UVS abgewiesen. Der UVS erachtete die Verteidigung des Bf. als unglaubwürdig.

Die vom Bf. am 3.2.2000 erhobene Beschwerde an den VwGH wurde am 7.8.2003 als unbegründet abgewiesen. Der VwGH stellte insbesondere fest, dass die Beweiswürdigung des UVS keine Mängel aufwies und die Abweisung des Antrags auf ein messtechnisches Gutachten überzeugend begründet worden sei. Diese Entscheidung wurde dem Anwalt des Bf. am 1.9.2003 zugestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 2 7. Prot. EMRK (Rechtsmittel in Strafsachen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Dauer des Verfahrens sei unvereinbar mit dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierten Grundsatz der angemessenen Frist. Die zu berücksichtigende Zeitspanne begann am 24.6.1999 mit der Einleitung des Verwaltungsstrafverfahrens und endete am 1.9.2003 mit der Zustellung der Entscheidung des VwGH. Das Verfahren dauerte somit vier Jahre und zwei Monate.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Soweit sich die Beschwerde gegen die Dauer des Verfahrens richtet, ist sie weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig). Was die behauptete Unfairness des Verfahrens wegen der Weigerung des UVS betrifft, ein messtechnisches Gutachten einzuholen, stellt der GH fest, dass diese Entscheidung der Behörde ausreichend und überzeugend begründet wurde. Da keine Hinweise für eine mangelnde Fairness des Verfahrens vorliegen, ist dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und muss gemäß Art. 35 Abs. 3 iVm. Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

2. Zur Entscheidung in der Sache:

Der vorliegende Fall war nicht komplex. Während er vor den Behörden der ersten und zweiten Instanz zügig erledigt wurde, war das Verfahren vor dem VwGH von 3.2.2000 bis 1.9.2003 anhängig. Diese Zeit umfasst auch eine Periode der völligen Inaktivität von 21.6. 2000 bis zum 4.7.2003.

Der GH hat bereits in ähnlich gelagerten Fällen Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Die Regierung hat keine Argumente vorgebracht, die den GH dazu bewegen könnten, im vorliegenden Fall zu einem anderen Schluss zu gelangen. Da das Verfahren unverhältnismäßig lange dauerte, liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der Bf. beschwert sich über das Fehlen eines Rechtsbehelfs in Bezug

auf die von ihm gerügte Dauer des Verfahrens.

Da dieser Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Art. 13 EMRK garantiert hinsichtlich behaupteter Verletzungen des Rechts auf eine Entscheidung in angemessener Frist eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz. Rechtsbehelfe gegen die Dauer eines Verfahrens sind dann wirksam iSv. Art. 13 EMRK, wenn sie die behauptete Verletzung oder ihre Fortsetzung verhindern oder angemessene Wiedergutmachung für eine bereits erfolgte Verletzung gewähren. Art. 13 EMRK bietet daher eine Wahlmöglichkeit: eine Beschwerde ist dann wirksam, wenn sie entweder dazu verwendet werden kann, die Entscheidung zu beschleunigen oder wenn sie dem Bf. angemessene Wiedergutmachung für bereits eingetretene Verzögerungen gewährt.

Die Regierung bringt im Wesentlichen vor, dass Art. 13 EMRK von den Vertragsstaaten nicht verlange, ein Rechtsmittel gegen Verzögerungen durch die Höchstgerichte zur Verfügung zu stellen. Wie der GH feststellt, sind die Staaten in erster Linie dazu verpflichtet, ihr Rechtsprechungssystem so zu gestalten, dass die Gesamtdauer von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren, einschließlich der Dauer vor den Höchstgerichten, angemessen bleibt. Was Rechtsbehelfe gegen die überlange Dauer von Verfahren betrifft, haben die Staaten eine beträchtliche Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung.

Im vorliegenden Fall überschritt die Dauer des Verfahrens wegen der Verzögerungen vor dem VwGH die in Art. 6 EMRK vorgesehene angemessene Frist. Da die Regierung nicht gezeigt hat, dass in Hinblick auf diese Verzögerungen irgendeine – präventive oder kompensatorische – Abhilfe zur Verfügung gestanden wäre, liegt eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Malinverni, gefolgt von den Richtern Rozakis und Jebens). Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK:

Der Bf. bringt vor, seine Verurteilung durch den UVS sei keiner ausreichenden Überprüfung unterzogen worden, weil der VwGH keine volle Jurisdiktion gehabt hätte. Wie der GH bereits in einem vergleichbaren Fall festgestellt hat, entspricht der Umfang der Jurisdiktion des VwGH in Verwaltungsstrafverfahren den Anforderungen des Art. 2 7. Prot. EMRK. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kudla/PL v. 26.10.2000, NL 2000, 219; EuGRZ 2004, 484; ÖJZ 2001, 908.

Weh und Weh/A v. 4.7.2002 (ZE), ÖJZ 2002, 736.

Yavuz/A v. 27.5.2004, NL 2004, 126; ÖJZ 2005, 156.

Blum/A v. 3.2.2005, ÖJZ 2005, 766.

Fehr/A v. 3.2.2005, ÖJZ 2005, 850.

Hauser-Sporn/A v. 7.12.2006, NL 2006, 305; ÖJZ 2007, 511.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.7.2007, Bsw. 8140/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 202) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_4/Vitzthum.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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