JudikaturJustizBsw7472/14

Bsw7472/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Mai 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache D. L. gg. Bulgarien, Urteil vom 19.5.2016, Bsw. 7472/14.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 8 EMRK - Unterbringung von Minderjähriger in geschlossenem Erziehungsheim.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1999 geborene Bf. wurde am 2.8.2012 gemäß dem Gesetz zum Kindesschutz auf Antrag ihrer Mutter in einem Zentrum für Kinder in Krisensituationen in Pleven untergebracht. Das BG Pleven in seiner Zusammensetzung als Strafgericht bestätigte die Unterbringung am 1.10.2012 und fixierte ihre Dauer mit drei Monaten. Sie wurde in der Folge verlängert.

Am 3.4.2013 beantragte die örtliche Kommission zur Bekämpfung antisozialen Verhaltens der Minderjährigen (im Folgenden: »die örtliche Kommission«) beim BG die Unterbringung in einem Internatserziehungszentrum, welches die strengste Maßnahme zur Begegnung entsprechender Verhaltensweisen darstellte, da mit der bisherigen Unterbringung im Krisenzentrum nicht mehr das Auslangen gefunden werden könne. Das BG verhängte gegen die Bf. am 19.4.2013 jedoch eine weniger schwere erzieherische Maßnahme, nämlich ein Kontaktverbot mit bestimmten, bereits straffällig gewordenen Personen, die sie zur Prostitution verleiten würden und daher für ihre Entwicklung schädlich wären. Bei einer Unterbringung in der von der Kommission geforderten Einrichtung sah es hingegen die Gefahr negativer Folgen für die weitere Entwicklung der Bf.

Nach einem neuerlichen Antrag der Kommission und einer Verhandlung ordnete das BG am 10.6.2013 die Unterbringung der Bf. im Internatserziehungszentrum von Podem an. Begründend führte es aus, dass diese die Anstaltsordnung des Krisenzentrums, in dem sie bislang untergebracht war, nicht beachten, die Rückkehrzeit nach der Schule nicht einhalten, weiterhin Kontakte mit als Straftätern erfassten Personen unterhalten und sich nach wie vor grob und aggressiv gegenüber den Sozialarbeitern der Einrichtung verhalten würde. Daher sei sowohl im Interesse der Bf. als auch in jenem der Gesellschaft ihre Unterbringung in einem Internatserziehungszentrum notwendig. Das LG Pleven bestätigte diese Entscheidung des BG am 16.7.2013.

Am 15.9.2013 wurde die Bf. – nachdem sie zuvor einen Selbstmordversuch begangen hatte – ins Zentrum von Podem überführt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Rechtmäßigkeit der Haft) durch ihre Unterbringung in einem Internatserziehungszentrum. Sie beschwerte sich weiters über eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Haftprüfung), da diese Maßnahme keiner regelmäßigen Überprüfung durch ein Gericht unterworfen werden könne. Außerdem rügte sie eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die automatische Kontrolle der Post und Überwachung der Telefonanrufe in der Einrichtung.

Zulässigkeit

(60) Die Regierung erhebt die Einrede der Nichtbeachtung der sechsmonatigen Frist, da die endgültige innerstaatliche Entscheidung vom 16.7.2013 stammen würde und die Bf. ihre Beschwerde am 22.1.2014 eingebracht habe, dem Datum des Eingangsstempels der Beschwerde beim GH, und damit mehr als sechs Monate nach dem Datum der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung.

(62) Der GH erinnert an seine ständige Rechtsprechung, wonach das Datum, das für die Berechnung der sechsmonatigen Frist zu berücksichtigen ist, jenes der Einbringung oder der Absendung der Beschwerde an den GH ist – wobei der Poststempel maßgeblich ist – und nicht jenes des Empfangsstempels auf der Beschwerde. Im vorliegenden Fall befindet der GH […], dass die Beschwerde am 16.1.2014 erhoben wurde […]. Daher wurde die sechsmonatige Frist ab dem Datum der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingehalten. Er weist die Einrede der Regierung deshalb zurück.

(63) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

(69) […] Der GH […] stellt fest, dass die Unterbringung der Betroffenen eine Freiheitsentziehung darstellt.

(70) […] Der GH konzentriert sich zunächst auf die Frage, ob die Unterbringung der Bf. im Zentrum von Podem im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK stand.

(72) Im vorliegenden Fall scheint es, dass die Entscheidung zur Unterbringung der Bf. in Anwendung des Gesetzes zur Bekämpfung der antisozialen Verhaltensweisen von Minderjährigen erfolgte. Die Betroffene bringt diesbezüglich vor, dass der Begriff »antisoziale Verhaltensweisen« nicht ausreichend klar wäre, um dem Erfordernis der Qualität des Gesetzes gemäß der Konvention zu genügen. Dies hätte sie daran gehindert, die genauen Gründe vorherzusehen, wegen derer sie gegen ihren Willen in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht wurde. Es obliegt dem GH daher zu prüfen, ob die fraglichen innerstaatlichen Normen ausreichend zugänglich und präzise waren, um jede Gefahr von Willkür bei der Freiheitsentziehung auszuschließen.

(73) […] Die innerstaatlichen Behörden haben die Notwendigkeit der Unterbringung der Bf. mit der Gefahr gerechtfertigt, dass sie in Prostitution verwickelt werden könnte – da sie dazu verleitet worden wäre, »sexuelle Dienstleistungen« zu erbringen – sowie durch ihre fehlende Kooperation, ihr aggressives Verhalten und ihr Ausreißen von Zuhause. Es trifft zu, dass das Gesetz zur Bekämpfung der antisozialen Verhaltensweisen etwas veraltet erscheint und keine erschöpfende Liste von Handlungen enthält, die als »antisozial« angesehen werden. Auch werden diejenigen, die der Bf. vorgeworfen wurden, dort nicht ausdrücklich erwähnt. Das fragliche Gesetz beschränkt sich auf eine allgemeine Definition des Begriffs »antisoziale Verhaltensweisen«. Dennoch erinnert der GH an seine Feststellung im Fall A. u.a./BG, wonach gemäß der gefestigten gerichtlichen Praxis die Prostitution und das Ausreißen von Zuhause als antisoziale Handlungen angesehen werden, die geeignet sind, erzieherische Maßnahmen nach sich zu ziehen, insbesondere die Unterbringung in einer spezialisierten Einrichtung. Er befindet daher, dass die Bf. die Folgen ihrer Handlungen angemessen vorhersehen konnte und dass unter den Umständen des vorliegenden Falles die »gesetzlich vorgeschriebene Weise« eingehalten wurde.

(74) Die »Rechtmäßigkeit« der Freiheitsentziehung impliziert auch deren Einklang mit dem Zweck der von Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK erlaubten Einschränkungen. Es liegt daher beim GH zu prüfen, ob die Unterbringung der Bf. Vorsorge für ihre »überwachte Erziehung« traf. Wenn der Staat sich entschieden hat, ein System überwachter Erziehung einzurichten, das eine Freiheitsentziehung mit sich bringt, obliegt es ihm, sich mit einer geeigneten Infrastruktur auszustatten, die an die Gebote der Sicherheit und die pädagogischen Ziele angepasst ist, so dass die Erfordernisse des Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK erfüllt werden. […] Der GH hatte kürzlich die Gelegenheit zu konkretisieren, dass die Praxis der Gewährung eines dem gewöhnlichen Schulprogramm entsprechenden Unterrichts für alle Minderjährigen, denen die Freiheit entzogen wurde und die sich in der Verantwortung des Staates befinden – auch für jene, die in einem vorübergehenden Anhaltezentrum für befristete Zeit interniert sind –, die Norm darstellen musste, um Lücken in ihrer Bildung zu vermeiden (Blokhin/RUS, Rn. 170). Der GH hält es im vorliegenden Fall für nötig hinzuzufügen, dass wie in den Fällen der Anhaltung nach Art. 5 Abs. 1 lit. b und lit. e EMRK das Erfordernis der »Rechtmäßigkeit« im Kontext einer Haft zum Zwecke einer »überwachten Erziehung« auch die Pflicht impliziert, sich zu vergewissern, dass die Maßnahme zu diesen Zielen verhältnismäßig war. Wenn die Haft wie im vorliegenden Fall eine Minderjährige betrifft, befindet der GH vor dem Hintergrund der einschlägigen internationalen Normen, dass ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit jenes ist, ob die Haft als letztes Mittel getroffen wurde, im Kindeswohl lag und ob sie darauf abzielt, ernsten Gefahren für die Entwicklung vorzubeugen. Wenn dieses Kriterium nicht mehr erfüllt ist, verliert die Freiheitsentziehung ihre Rechtfertigung.

(75) Im vorliegenden Fall behauptet die Bf., dass die Entscheidung der Behörden zur Unterbringung nicht vor dem Hintergrund eines erzieherischen Zwecks getroffen worden wäre, sondern als Sanktion, dass das System des Unterrichts und der Erziehung im Zentrum von Podem nicht im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK stehe und dass die Wahl der Maßnahme willkürlich gewesen wäre.

(76) Der GH […] bemerkt zunächst, dass das Gesetz zur Bekämpfung der antisozialen Verhaltensweisen der Minderjährigen veraltet ist und dass es aus historischen Gründen mehr auf eine Philosophie »der Bestrafung« als auf eine »des Schutzes« von Minderjährigen gestützt wurde […]. Zudem hat der Richter bei der Prüfung des ersten Antrags der örtlichen Kommission betreffend die Unterbringung der Bf. erwogen, dass das Zentrum von Podem einen »ungünstigen Rahmen« darstellen würde. Sodann befassten sich die nationale Agentur zum Schutz des Kindes und auch der Ombudsmann der Republik mit Fragen zum angemessenen Charakter von Minderjährige betreffenden Gerichtsverfahren, zur Durchführung von schulischen und erzieherischen Programmen und zu den materiellen Lebensbedingungen in den geschlossenen Zentren für Minderjährige. Diesbezüglich hält der GH fest, dass gerade eine nationale Reform ausgearbeitet wird […]. Er befindet auch, dass seine Aufgabe nicht darin besteht, das bulgarische System […] in abstracto zu prüfen oder die beabsichtigte Reform zu analysieren, sondern die Art und Weise zu beurteilen, wie das bestehende System im vorliegenden Fall angewendet wurde.

(77) Was das Ziel der Maßnahme und die Durchführung des pädagogischen und erzieherischen Systems betrifft, befindet der GH, dass dem Staat ein gewisser Ermessensspielraum gewährt werden muss, um dieses System auf eine Weise zu organisieren, die es effektiv macht. Im vorliegenden Fall hält er trotz der [genannten] allgemeinen Kritik fest, dass die Bf. einen Schulkurs belegen konnte, dass ihr gegenüber individuelle Anstrengungen unternommen wurden, um zu versuchen, ihre schulischen Schwierigkeiten zu überbrücken, dass sie eine Note erhalten hat, die es ihr erlaubte, in die nächsthöhere Klasse aufzusteigen, und dass sie schließlich eine berufliche Qualifikation erlangte, die es ihr gestattete, ihre spätere Reintegration in der Gesellschaft ins Auge zu fassen. Diese Elemente genügen dem GH, um zum Schluss zu kommen, dass man dem Staat nicht vorwerfen kann, seine Verpflichtung aus Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK missachtet zu haben, der Unterbringungsmaßnahme ein pädagogisches Ziel zu geben. […]

(78) Was die Behauptung von Willkür, die Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und den Umstand betrifft, ob diese das letzte Mittel war, bemerkt der GH, dass die kritisierte Unterbringungsentscheidung von Gerichten nach öffentlichen Verhandlungen getroffen wurde, während derer die Betroffene, die beiden direkt für die Bf. verantwortlichen Sozialarbeiterinnen, der Vertreter der lokalen Kommission, der Vertreter des städtischen Dienstes, der mit dem Kinderschutz betraut war, und die Inspektorin der Jugendbrigade gehört wurden. Die Mutter der Bf. war ebenfalls anwesend und auf Antrag wurde für Letztere ein Pflichtverteidiger bestellt. Die Gerichte haben die aufgenommenen Elemente im Detail untersucht und befunden, dass angesichts des Milieus, in dem die Bf. zum betreffenden Zeitpunkt lebte, für sie keine wirkliche Alternative zur Unterbringung in einem Internatserziehungszentrum bestand.

(79) Diesbezüglich […] sah die bulgarische Gesetzgebung eine große Bandbreite an erzieherischen Maßnahmen zur Begegnung antisozialen Verhaltens von Minderjährigen vor. Die strengste von diesen, die Unterbringung in einem Internatserziehungszentrum, kann nur angewendet werden, wenn die anderen – weniger strengen – keine Wirkung zeigen. Es scheint dem GH, dass die anwendbare Bestimmung den Behörden, die eine solche Maßnahme verhängen, nicht die Verpflichtung auferlegt, einen individuellen Plan festzulegen, der für die betroffenen Minderjährigen im Hinblick auf die Erziehung die konkreten zu erreichenden Ziele festlegt. Gleichermaßen ist die gesetzliche Maximaldauer der Unterbringung zwar mit drei Jahren festgelegt, doch scheint es nicht, dass die Gerichte gehalten sind, sich im Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung über die Dauer zu äußern. Im vorliegenden Fall waren diese Fragen sowie der Umstand, ob das Zentrum von Podem eine für die Situation der Bf. angemessene Institution war, nicht Diskussionsgegenstand im Gerichtsverfahren. Der GH bemerkt trotz dieser Mängel im System, dass die Behörden zunächst festgestellt hatten, dass die Betroffene nicht von einem natürlichen familiären Milieu profitierte, das für ihre Entwicklung günstig war, was bereits der Grund für ihre Unterbringung in einer Schutzeinrichtung im August 2012 nach dem Gesetz zum Kindesschutz gewesen war. Sodann wurden im Gerichtsverfahren die Situation der Bf., ihre Lebensweise und die Gefahren, denen sie begegnete, beleuchtet, insbesondere durch die Aussagen der beiden Sozialarbeiterinnen des Krisenzentrums, die mit der Betroffenen in nächstem Kontakt standen. Deren Aussagen gaben insbesondere an, dass sie Beziehungen zu den Individuen hatte, die sie ursprünglich zur Prostitution verleitet hatten, dass sie Opfer eines Handelssystems vom Typ »loverboy« wäre – aber sich weigere, dies einzugestehen und sich zu schützen –, dass sie gegenüber dem Personal in der Einrichtung ein aggressives Verhalten an den Tag lege und dass sie am Abend nach der Schule nicht ins Zentrum zurückkehre. Die Sozialarbeiterinnen bestätigten, dass das familiäre Umfeld für die Bf. nicht günstig wäre, da einige Elemente anzeigen würden, dass ihre Mutter selbst Opfer von Gewalt geworden wäre und Schutz benötigte. […] Zudem betont der GH, dass die Bf. bislang augenscheinlich Gegenstand eines erzieherischen Rahmens war, der weniger schwerwiegende erzieherische Maßnahmen umfasste als die [gegenständliche] Unterbringung. Es scheint dem GH nicht willkürlich, dass die gegenüber der Betroffenen getätigten Verfügungen von den Behörden aufgrund der oben angeführten Elemente für unzureichend befunden wurden.

(80) Angesichts dieser Elemente kann der GH nicht erwägen, dass [...] die Unterbringung der Bf. eine willkürliche Maßnahme darstellte und dass die Gerichte ihre Interessen nicht berücksichtigt haben. Es trifft zwar zu, dass die Begründung der Gerichte knapp erscheinen mag und nicht alle einschlägigen Umstände im Einzelnen ausführte. Zu besonderer Sorge gibt in diesem Zusammenhang der Umstand Anlass, dass dort nicht die Fragen betreffend den individuellen Plan für die festgelegte Unterbringung, deren Dauer und regelmäßige Neubewertung geprüft wurden. Dennoch haben die Entscheidungen der Gerichte eindeutig die Aussagen der zwei Sozialarbeiterinnen widergespiegelt, die im Krisenzentrum die direkte Verantwortung für die Bf. hatten. Daher scheint, dass am Ende einer Untersuchung der familiären Situation der Bf., ihres sozialen Milieus, ihres Verhaltens und der Wirkung der von den Sozialarbeiterinnen bereits angewandten erzieherischen Maßnahmen die Gerichte die Schlussfolgerung der Sozialeinrichtungen erneut geprüft und bestätigt haben, dass die Minderjährige einer verstärkten erzieherischen Überwachung bedurfte. Der GH hält fest, dass es insbesondere die Sorge ist, für die Bf. einen Rahmen sicherzustellen, der sie vor den eindeutig identifizierten speziellen Gefahren in Sicherheit bringt, und daher ihre Interessen als Heranwachsende in voller psychologischer und sozialer Entwicklung zu schützen, die die Entscheidung der innerstaatlichen Behörden motiviert hat. Die Elemente der Akte erlauben es dem GH nicht, die Schlussfolgerung der Behörden in dieser Hinsicht in Frage zu ziehen.

(81) Angesichts all des Vorgesagten kann der GH nicht bestätigen, dass die fragliche Unterbringungsmaßnahme einen Strafzweck aufwies. Er befindet, dass die Entscheidung der Behörden sich im Rahmen von beständigen Bemühungen verstand, die Bf. in einer Umgebung unterzubringen, die ihr eine überwachte Erziehung und die Möglichkeit bot, ihre Ausbildung zu verfolgen. [...]

(82) Im Ergebnis erwägt der GH, dass die fragliche Unterbringung in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. d EMRK fällt und im Einklang mit den Anforderungen dieser Bestimmung stand, einschließlich jener der Verhältnismäßigkeit zu den angestrebten erzieherischen Zielen. [...]

(83) Daher erfolgte keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin O’Leary).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK

(88) Der GH bemerkt, dass die Parteien dahingehend übereinstimmen, dass im vorliegenden Fall eine gerichtliche Kontrolle besteht, die in der Unterbringungsentscheidung des LG vom 16.7.2013 enthalten ist. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob die Bf. das Recht hatte, eine spätere Überprüfung der Haft zu verlangen sowie bejahendenfalls auch kontrollieren zu lassen, ob ihr eine entsprechende Möglichkeit geboten wurde.

(89) Nun wurde aber bereits festgehalten, dass die Haft der Bf. zum Zweck der überwachten Erziehung angeordnet wurde, um ihr Verhalten zu korrigieren, das als den Normen der Gesellschaft zuwiderlaufend beurteilt wurde. Es handelte sich um eine Freiheitsentziehung, deren Notwendigkeit von der Entwicklung ihres Verhaltens über die Zeit abhing [...]. Zudem beobachtet der GH, dass die Bf. am 15.9.2013 im Zentrum von Podem für unbestimmte Zeit untergebracht wurde. Gemäß der anwendbaren Gesetzgebung konnte diese Unterbringung drei Jahre dauern. Daher ist der GH unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer Entwicklung des Verhaltens der Bf. innerhalb eines solchen Zeitraumes der Ansicht, dass sie in den Genuss einer periodischen gerichtlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der freiheitsentziehenden Maßnahme kommen muss, die automatisch und auf ihren Antrag hin in angemessenen Intervallen durchgeführt werden muss (siehe X./FIN [...], wo der GH bestätigt hat, dass ein periodisches Kontrollsystem, bei dem die Initiative allein den Behörden zukommt, nicht ausreicht).

(90) Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Art. 5 Abs. 4 EMRK einen gerichtlichen Rechtsbehelf garantiert, der für den Betroffenen zugänglich sein muss. Nun muss aber festgehalten werden, dass die anwendbare Gesetzgebung es den Minderjährigen, die in einem Internatserziehungszentrum untergebracht sind, nicht erlaubt, sich an die Gerichte zu wenden, um die Überprüfung ihrer Haft zu beantragen. Der GH nimmt das Argument der Regierung zur Kenntnis, wonach das innerstaatliche Recht die Möglichkeit vorsehe, die Unterbringungsmaßnahme durch die Gerichte auf Antrag der örtlichen Kommission prüfen zu lassen. Angenommen, die Betroffene hätte über diese Kommission tätig werden wollen, beobachtet der GH jedoch, dass diese ein Verwaltungsorgan darstellt, das das Ermessen besitzt, die Situation der Minderjährigen zu beurteilen, bevor sie einen Antrag auf Überprüfung der Maßnahme bei den Gerichten einbringt. [...]

(91) Daher kommt der GH zum Schluss, dass der von der Regierung genannte gerichtliche Weg für die Bf. unzugänglich war.

(92) Im übrigen hält der GH fest, dass im innerstaatlichen Recht keine periodische und automatische gerichtliche Kontrolle betreffend die fragliche Haft existierte.

(93) Daraus folgt, dass es im vorliegenden Fall zur Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK kam (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Regime zur Überwachung der Korrespondenz

(100) [...] Die Bf. hat nicht gezeigt, dass von ihr während ihrer Unterbringung im Zentrum von Podem verschickte oder empfangene Briefe geöffnet oder kontrolliert wurden. [Der GH] beobachtet dennoch, dass aus Art. 25 Punkt 10 der Anstaltsordnung klar hervorgeht, dass die Gesamtheit der Korrespondenz der Insassen einer Kontrolle unterworfen ist, um sowohl die mögliche Existenz von verbotenen Stoffen und Objekten als auch in ihr enthaltene Informationen zu prüfen. Diese Kontrolle ergibt sich daher [...] aus der direkten Anwendung des einschlägigen innerstaatlichen Rechts. Unter diesen Umständen kommt der GH zum Schluss, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihrer Korrespondenz erfolgte.

(102) Der GH [...] anerkennt, dass die Kontrolle der Korrespondenz der Minderjährigen, die in einem geschlossenen Erziehungszentrum untergebracht sind, geschieht, um unter anderem die Einführung von Substanzen und Objekten zu verhindern, die für die Gesundheit und die Rechte der anderen Minderjährigen gefährlich oder sogar geeignet sind, die im Zentrum bestehende Ordnung zu bedrohen. [...] Der fragliche Eingriff zielte daher auf die »Aufrechterhaltung der Ordnung«, den »Schutz der Gesundheit« und den »Schutz der Rechte anderer« iSd. Art. 8 Abs. 2 EMRK ab.

(103) Es bleibt deshalb zu entscheiden, ob dieses Regime systematischer und automatischer Kontrolle der Korrespondenz der Minderjährigen [...] »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. [...]

(104) Der GH [...] befindet, dass der Spielraum der Behörden unter solchen Umständen geringer ist als jener im Bereich der Kontrolle von Häftlingen, die Straftaten begangen haben. Diese Feststellung ergibt sich aus der Natur der Unterbringung der Minderjährigen mit dem Zweck der Erziehung und der Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft selbst. Wenn es nämlich – wie im vorliegenden Fall – um eine Betreuung der Minderjährigen durch die Behörden geht, muss alles vorgesehen werden, damit diese ausreichende Kontakte zur Außenwelt haben, auch über schriftlichen Austausch, da dies integraler Bestandteil ihres Rechts ist, würdevoll behandelt zu werden, und unverzichtbar, um sie auf ihre Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten. Der GH verweist diesbezüglich auf die Mindestregeln der UN zum Schutz von Minderjährigen, denen die Freiheit entzogen wurde (Anm: Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug (»Havana Rules«), Resolution 45/113 der Generalversammlung vom 14.12.1990.).

(105) Im vorliegenden Fall betont der GH zunächst, dass die Bestimmung des Art. 25 Punkt 10 der Anstaltsordnung des Zentrums von Podem im Unterschied zu Art. 8 EMRK und dessen Anforderungen der »Notwendigkeit« und »Verhältnismäßigkeit« zu einer automatischen und undifferenzierten Kontrolle der Gesamtheit der Post der untergebrachten Minderjährigen aufruft. Dieser Text nimmt keine kategoriale Unterscheidung zwischen den Personen vor, mit denen die Minderjährigen korrespondieren können. Nun hat der GH aber mehrmals geäußert, dass die Korrespondenz der Häftlinge mit ihren Anwälten grundsätzlich einen bevorzugten Status genießt. In den Augen des GH können im vorliegenden Fall analoge Überlegungen gelten, was die Korrespondenz der Bf. mit ihrem Anwalt oder mit NGOs zum Schutz der Rechte des Kindes betrifft. Er hält fest, dass das anwendbare Regelwerk die Vertraulichkeit dieser Art von Korrespondenz nicht schützt und diese dem Regime allgemeiner Kontrolle unterwirft.

(106) Im Übrigen führen weder diese Bestimmung noch irgendeine andere im Einzelnen die möglichen besonderen Gründe und die Bedingungen aus, die rechtfertigen können, dass in diesem oder jenem Fall die Post einer Kontrolle unterworfen werden kann, oder geben die Dauer der Maßnahme an, die von Amts wegen durchgeführt wird. Schließlich sind die Behörden nicht gehalten, die Gründe für diese Überwachung zu liefern. Daher kommt der GH zum Schluss, dass Art. 25 Punkt 10 der Anstaltsordnung des Zentrums von Podem den Behörden der Einrichtung jede Freiheit gewährt, um eine Kontrolle der Korrespondenz der Minderjährigen auszuüben, ohne Rücksicht auf die Kategorien der Empfänger, die Dauer der Maßnahme und auf die Gründe zu nehmen, die sie rechtfertigen können, und dass ein solches Regime nicht als im Einklang mit Art. 8 EMRK stehend angesehen werden kann.

Regime zur Kontrolle der Telefonanrufe

(107) Der GH bemerkt im Gegensatz zur Regierung zunächst, dass – soweit das innerstaatliche Recht der Bf. die Möglichkeit zuerkannte, Telefongespräche von Apparaten unter Kontrolle der Zentrumsverwaltung zu führen – die dieser Kommunikation auferlegten Einschränkungen und die für diese vorgesehene Überwachung einen Eingriff in die Ausübung des Rechts der Betroffenen auf Achtung ihres Familienlebens und ihrer Korrespondenz iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK begründen konnten.

(108) [...] Der Eingriff beruhte auf Art. 25 Punkt 10 der Anstaltsordnung des Zentrums von Podem [...]. Er verfolgte das legitime Ziel der »Aufrechterhaltung der Ordnung« [...].

(109) Die Frage, die sich sodann stellt, ist, ob der strittige Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. [...] Der GH möchte unbedingt betonen, wie wichtig es ist, dass die Behörden darauf achten, dass die das Privat- und Familienleben beschränkenden Maßnahmen so wenig streng wie möglich sind, wenn diese Beschränkungen bei der Durchführung einer Freiheitsentziehung ausgeübt werden, die allein durch erzieherische Zwecke begründet ist. In diesem Sinne kann der GH dem Staat nur einen engen Ermessensspielraum zuerkennen und die Überlegungen im Hinblick auf die Notwendigkeit, günstige Bedingungen zur Aufrechterhaltung der Kontakte von Minderjährigen mit der Außenwelt sicherzustellen, sind gleichermaßen im Bereich des telefonischen Austausches gültig (Rn. 104 oben).

(111) [...] Der GH befindet, dass es angesichts der psychischen und sozialen Entwicklung der untergebrachten Kinder und der Notwendigkeit für diese, in den Genuss von familiären Bindungen zu kommen, die so eng wie möglich sind, wesentlich ist, dass die Verwaltung ihnen hilft, einen realen Kontakt mit ihren engsten Familienangehörigen zu erhalten.

(112) Es trifft zwar zu, dass die Bf. die Möglichkeit hatte, in ihrem Heim während der Schulferien Besuche zu empfangen. Sie hatte daher Gelegenheiten, die Kontakte mit ihren Angehörigen aufrechtzuerhalten. Dieser Umstand mindert die Feststellung nicht, wonach das Regime der Korrespondenz, sofern es diese jeder Vertraulichkeit beraubte, nicht angemessen war (siehe Rn. 106 oben). Die Kommunikationsmöglichkeiten der Bf. mit der Außenwelt waren daher während langer Aufenthaltsperioden im Zentrum von Podem beschränkt. Der GH beobachtet sodann, dass die anwendbaren internen Maßnahmen den in diesem Zentrum untergebrachten Minderjährigen erlaubten, die externen Bindungen über Telefongespräche aufrechtzuerhalten. Diese Gespräche waren dennoch aus Sicherheitsgründen einem Genehmigungsregime – insbesondere, was die ausgehenden Anrufe angeht (die die Ausnahme bilden) – und einer Überwachung durch das Personal der Einrichtung unterworfen, so dass jeder telefonische Austausch abgehört wurde.

(113) Diese Regeln fanden allgemein und undifferenziert auf alle Minderjährigen Anwendung, unabhängig von jeder individuellen Beurteilung der Erfordernisse im Hinblick auf die Sicherheit, die die Persönlichkeit eines jeden von ihnen erfordern konnte. Der GH verliert nicht aus dem Blick, dass es sich um junge Personen handelt, gegen die kein Strafverfahren erfolgt war. Auch wenn der Bf. vorgeworfen wurde, ein als »antisozial« eingestuftes Verhalten an den Tag gelegt zu haben, das eine gewisse Intervention des Staates erfordert, müssen die von der Regierung im Hinblick auf ihren telefonischen Austausch behaupteten Gefahren von den zuständigen Behörden sehr genau geprüft und gerechtfertigt werden. Es scheint nicht, dass dies im vorliegenden Fall geschah. Im übrigen leitet der GH aus dem Wortlaut des Regelwerks ab, dass die Treffen mit den Vertretern von NGOs, einschließlich humanitärer, auch nur unter der Überwachung des Personals der Einrichtung stattfinden konnten – und dies ohne jede Beurteilung der individuellen Situationen, die die möglichen Gefahren ans Licht bringt.

(114) [...] Der GH befindet, dass das Regime der Überwachung, das der Bf. auferlegt wurde, wenn sie sich telefonisch mit Personen in der Außenwelt unterhalten wollte, [...] nicht auf stichhaltigen und ausreichenden Gründen im Hinblick auf die daraus resultierende Beschränkung der fraglichen Kontakte basierte.

Ergebnis

(115) Im Ergebnis befindet der GH, dass das automatische Kontrollregime der Korrespondenz, das ohne jede Unterscheidung im Hinblick auf die Art des Austausches durchgeführt wird, und die Überwachung der Telefonkommunikation, die jede Vertraulichkeit derselben ausschloss [...], nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gelten können.

(116) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.000,– für immateriellen Schaden; € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bouamar/B v. 29.2.1988

Campbell/GB v. 25.3.1992 = NL 1992/3, 11 = ÖJZ 1992, 595

Petrov/BG v. 22.5.2008

A. u.a./BG v. 29.11.2011

Stanev/BG v. 17.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23

X./FIN v. 3.7.2012

M. H./GB v. 22.10.2013

Nusret Kaya u.a./TR v. 22.4.2014

Blokhin/RUS v. 23.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 118

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.5.2016, Bsw. 7472/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 217) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_3/D.L.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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