JudikaturJustizBsw74420/01

Bsw74420/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. Februar 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Ramanauskas gegen Litauen, Urteil vom 5.2.2008, Bsw. 74420/01.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK - Tatprovokation durch verdeckte Ermittler.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1

lit. d EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,– für materiellen und immateriellen Schaden sowie für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der als Staatsanwalt tätige Bf. wurde gegen Ende 1998 über einen Mittelsmann namens V. S. von einem gewissen A. Z. kontaktiert, der ihm USD 3.000,– anbot, sollte er für den Freispruch einer dritten Person sorgen. Der Bf. lehnte zunächst ab, stimmte aber schließlich zu, nachdem A. Z. das Angebot mehrmals wiederholt hatte. A. Z., der tatsächlich Beamter einer Antikorruptionseinheit des Innenministeriums war, informierte daraufhin seine Vorgesetzten darüber, dass der Bf. der Annahme von Bestechungsgeld zugestimmt hatte. Die Antikorruptionseinheit beantragte beim stellvertretenden Generalstaatsanwalt die Genehmigung, dem Bf. durch A. Z. Bestechungsgeld übergeben zu dürfen. Am 27.1.1999 wurde die Operation genehmigt.

Am folgenden Tag nahm der Bf. USD 1.500,– von A. Z. entgegen. Am 11.2.1999 erhielt er weitere USD 1.000,–. Noch am selben Tag eröffnete der Generalstaatsanwalt wegen der Annahme von Bestechungsgeld ein Strafverfahren gegen den Bf. Am 17.3.1999 wurde er wegen Bestechlichkeit aus dem Dienst als Staatsanwalt entlassen. Am 29.8.2000 wurde der Bf. vom Landesgericht Kaunas wegen Geschenkannahme zu einer Freiheitsstrafe von 19 Monaten und sechs Tagen verurteilt. Das Urteil beruhte in erster Linie auf den Aussagen von A. Z. und den heimlich angefertigten Aufzeichnungen seiner Telefonate mit dem Bf. Der Mittelsmann V. S. wurde nicht vorgeladen, da sein Aufenthaltsort unbekannt war. Allerdings wurde seine im Vorverfahren getätigte Aussage verlesen.

Am 26.10.2000 bestätigte das Berufungsgericht dieses Urteil und stellte fest, dass die Behörden den Bf. nicht zur Begehung der Straftat angestiftet und auch keinen Druck auf ihn ausgeübt hätten. Der Bf. erhob daraufhin eine Nichtigkeitsbeschwerde, in der er geltend machte, es gebe keine gesetzliche Grundlage, die es den Behörden erlaube, eine Person zur Begehung einer Straftat anzustiften. Der Oberste Gerichtshof wies die Nichtigkeitsbeschwerde am 27.2.2001 ab. Die Provokation einer Straftat sei nicht gleichzusetzen mit der Anstiftung zur Begehung einer solchen. Eine Tatprovokation ändere nichts an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die dadurch zur Begehung einer Straftat veranlasst wurde. Überdies müsse selbst unter der Annahme, dass der Bf. von A. Z. und V. S. zur Geschenkannahme angestiftet worden sei, betont werden, dass die Anstiftung in Form eines Angebots – und nicht etwa durch Drohung oder Erpressung – erfolgt sei und der Bf. daher auch ablehnen hätte können. Wer sich absichtlich für die strafbare Option entscheide, obwohl er die Möglichkeit hat, der Anstiftung zu widerstehen, begründe ungeachtet der äußeren Faktoren, die ihn in seiner Wahl beeinflussten, seine strafrechtliche Verantwortlichkeit.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (hier: Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Der Bf. behauptet, zur Begehung einer Straftat angestiftet worden zu sein, die er ohne das Einschreiten der agents provocateurs niemals begangen hätte. Diese Anstiftung und die folgende Verwendung der dadurch erlangten Beweismittel seien unvereinbar mit seinem Recht auf ein faires Verfahren.

a) Allgemeine Grundsätze:

Der Einsatz besonderer Ermittlungsmethoden, wie insbesondere verdeckter Ermittler, verletzt als solcher nicht das Recht auf ein faires Verfahren. Er muss sich jedoch innerhalb eindeutig definierter Grenzen halten.

Die Zulässigkeit von Beweismitteln ist in erster Linie durch das innerstaatliche Recht geregelt und es ist in der Regel Sache der nationalen Gerichte, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen. Der GH muss seinerseits feststellen, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art der Erlangung der Beweise, fair war. Die Aufgabe des GH besteht dabei nicht darin zu entscheiden, ob einzelne Beweise rechtmäßig erlangt wurden, sondern zu prüfen, ob eine allfällige Unrechtmäßigkeit zur Verletzung eines anderen durch die Konvention geschützten Rechts führte.

Die Konvention schließt es insbesondere nicht aus, im Stadium von Vorerhebungen und wenn es die Besonderheit der Straftat rechtfertigt, auf Quellen wie anonyme Informanten zurückzugreifen. Allerdings ist ihre spätere Verwendung durch das Gericht zur Begründung einer Verurteilung nur akzeptabel, wenn angemessene und ausreichende Garantien gegen Missbräuche bestehen, wie insbesondere ein klares und vorhersehbares Verfahren für die Genehmigung, Durchführung und Überwachung der fraglichen Ermittlungsmethoden.

Das öffentliche Interesse kann allerdings die Verwendung von Beweismitteln nicht rechtfertigen, die als Ergebnis polizeilicher Anstiftung erlangt wurden. Eine polizeiliche Anstiftung liegt dann vor, wenn die beteiligten Polizisten – seien es Mitglieder der Sicherheitsbehörden oder Personen, die aufgrund von deren Anweisungen handeln – sich nicht darauf beschränken, strafbare Aktivitäten auf rein passive Weise zu ermitteln, sondern Einfluss ausüben und dadurch zur Begehung einer Straftat anstiften, die ansonsten nicht begangen worden wäre, um Beweise zu erlangen und eine Strafverfolgung einzuleiten.

b) Anwendung im vorliegenden Fall:

Die Spezialeinheit des Innenministeriums beantragte die Genehmigung, eine strafbare Handlung fingieren zu dürfen, erst nachdem A. Z. den Bf. bereits kontaktiert hatte. Die Regierung zieht daraus den Schluss, A. Z. und V. S. hätten aufgrund von privater Initiative gehandelt, ohne die Behörden davon in Kenntnis gesetzt zu haben. Die nachträgliche Genehmigung ihres Handelns durch die Strafverfolgungsbehörden hätte lediglich der Feststellung einer Straftat gedient, deren Begehung der Bf. bereits geplant hatte. Der GH kann eine solche Argumentation nicht akzeptieren. Die innerstaatlichen Behörden können sich nicht ihrer Verantwortung für die Handlungen von Polizeibeamten entledigen, indem sie einfach behaupten, diese hätten – obwohl sie polizeiliche Aufgaben erfüllten – „als Privatpersonen" gehandelt. Es ist besonders wichtig, dass die Behörden die Verantwortung übernehmen, weil die Anfangsphase der Operation außerhalb jeglichen rechtlichen Rahmens und ohne gerichtliche Genehmigung stattfand. Überdies legitimierten die Behörden durch die Genehmigung der Operation und die Befreiung von A. Z. von jeglicher strafrechtlicher Verantwortlichkeit die Anfangsphase ex post facto und machten sich ihre Ergebnisse zunutze. Außerdem wurde keine befriedigende Erklärung dafür erbracht, welche persönlichen Motiven A. Z. dazu gebracht hätten, aus eigenem Antrieb an den Bf. heranzutreten, ohne seine Vorgesetzten in Kenntnis zu setzen, oder warum er wegen seiner vor der Genehmigung der Operation gesetzten Handlungen nicht verfolgt wurde.

Daraus folgt, dass die litauischen Behörden für die von A. Z. und V. S. vor der Genehmigung der Operation gesetzten Handlungen verantwortlich waren. Andernfalls wären Missbrauch und Willkür Tür und Tor geöffnet, wenn eine Umgehung der anwendbaren Grundsätze durch die „Privatisierung" polizeilicher Anstiftung erlaubt würde. Der GH muss daher prüfen, ob die den Behörden zurechenbaren Handlungen auf eine durch Art. 6 EMRK verbotene Anstiftung hinauslaufen. Um sich zu vergewissern, ob sich A. Z. und V. S. auf eine „Ermittlung strafbarer Aktivitäten in rein passiver Weise" beschränkten, muss der GH folgende Überlegungen berücksichtigen:

Erstens liegen keine Hinweise dafür vor, dass der Bf. zuvor irgendwelche Straftaten, insbesondere Korruptionsdelikte, begangen hat. Zweitens fanden alle Treffen zwischen dem Bf. und A. Z. auf Initiative des Letzteren statt, was dem Argument der Regierung zu widersprechen scheint, die Behörden hätten den Bf. weder Druck noch Drohungen ausgesetzt. Der Bf. scheint vielmehr durch A. Z. und V. S. in aufdringlicher Weise zur Begehung strafbarer Handlungen aufgefordert worden zu sein, obwohl – abgesehen von Gerüchten – keine Hinweise für die Annahme vorlagen, dass er solche Aktivitäten beabsichtigt hätte.

Diese Überlegungen sind ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die Handlungen der beiden Personen über die bloße passive Ermittlung bestehender strafbarer Aktivitäten hinausgingen.

Art. 6 EMRK wurde nur dann entsprochen, wenn der Bf. eine wirksame Möglichkeit hatte, im Strafverfahren das Problem der Anstiftung vorzubringen. Es ist Sache der Anklagebehörde nachzuweisen, dass keine Anstiftung stattgefunden hat, solange die Behauptungen des Angeklagten nicht völlig unglaubwürdig sind. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist es Sache des Gerichts, die notwendigen Schritte zu setzen, um festzustellen, ob eine Anstiftung vorliegt. Sollte es zu dem Ergebnis gelangen, dass eine solche stattgefunden hat, muss es die nach der Konvention gebotenen Schlüsse ziehen.

Da der Bf. im Strafverfahren behauptete, zur Begehung der Straftat angestiftet worden zu sein, hätten die Behörden und Gerichte zumindest eingehend untersuchen müssen, ob die Strafverfolgungsbehörden in Überschreitung der Grenzen des Erlaubten zur Begehung einer strafbaren Handlung angestiftet hatten. Die innerstaatlichen Instanzen verneinten hingegen das Vorliegen einer polizeilichen Anstiftung und setzten keine gerichtlichen Schritte zur Durchführung einer genauen Prüfung der dahingehenden Behauptungen des Bf. So unternahmen sie keinen Versuch, die Rolle von

V. S. und A. Z. sowie die Gründe für dessen private Initiative in der Anfangsphase der Operation zu klären, obwohl die Verurteilung des Bf. auf jenen Beweisen beruhte, die als Ergebnis der polizeilichen Anstiftung erlangt wurden. Der Oberste Gerichtshof erachtete es nicht für notwendig, diese Beweise auszuschließen, da sie die Schuld des Bf. bestätigen würden, die dieser selbst eingestanden hätte. Das Geständnis einer aufgrund einer Anstiftung begangenen Straftat kann jedoch weder die Anstiftung noch deren Effekte beseitigen. Der GH gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Handlungen von A. Z. und V. S. den Bf. zur Begehung jener Straftat anstifteten, wegen der er verurteilt wurde, und dass kein Hinweis dafür besteht, dass diese Straftat auch ohne deren Einschreiten begangen worden wäre. Angesichts dieses Einschreitens und seiner Verwertung im Strafverfahren gegen den Bf. kann dieses nicht als fair betrachtet werden. Es hat daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK:

Angesichts seiner Feststellungen unter Art. 6 Abs. 1 EMRK erachtet der GH eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht für notwendig (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 30.000,– für materiellen und immateriellen Schaden sowie für Kosten

und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Van Mechelen u.a./NL v. 23.4.1997; NL 1997, 91; ÖJZ 1998, 274.

Teixeira de Castro/P v. 9.6.1998; EuGRZ 1999, 660; ÖJZ 1999, 434.

Amrollahi/DK v. 11.7.2002; NL 2002, 143.

Vanyan/RUS v. 15.12.2005.

Khudobin/RUS v. 26.10.2006.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.2.2008, Bsw. 74420/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 21) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_1/Ramanauskas.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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