JudikaturJustizBsw69317/14

Bsw69317/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Januar 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Sekmadienis Ltd. gg. Litauen, Urteil vom 30.1.2018, Bsw. 69317/14.

Spruch

Art. 10 EMRK - Verbot kommerzieller Werbung wegen Verwendung religiöser Symbole.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 580,– für immateriellen Schaden, (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das bf. Unternehmen bewarb 2012 mit einer etwa zwei Wochen lang laufenden Kampagne eine von ihr vertriebene Modelinie. Sie umfasste drei unterschiedliche Sujets, die auf 20 Plakatwänden in Vilnius sowie im Internet zu sehen waren. Das erste zeigte einen jungen Mann mit langen Haaren, einem Heiligenschein und zahlreichen Tätowierungen, der ein Paar Jeans trug. Darunter stand: »Jesus, was für Hosen!«. Auf dem zweiten Sujet war eine junge Frau in einem weißen Kleid und mit Blumenschmuck im Haar zu sehen. Sie hatte ebenfalls einen Heiligenschein und hielt einen Rosenkranz in der Hand. Der Slogan lautete: »Liebe Maria, was für ein Kleid!«. Das dritte Bild zeigte die beiden gemeinsam in der gleichen Aufmachung, wobei die Frau ihre Hände auf den Kopf bzw. die Schulter des Mannes legte. Darunter war zu lesen: »Jesus und Maria, was habt ihr an!«.

Bei der staatlichen Konsumentenschutzbehörde gingen mehrere Beschwerden über die Werbekampagne ein, woraufhin diese die Selbstregulierungsorganisation der Werbewirtschaft um eine Stellungnahme ersuchte. Eine Kommission der Organisation kam zur Ansicht, dass die Anzeigen gegen den Ethikkodex verstießen. (Anm: Nach diesem rechtlich nicht bindenden Ethikkodex darf Werbung nicht die religiösen Gefühle verletzen oder philosophische Überzeugungen herabwürdigen.) Sie empfahl, die Kampagne aus Rücksicht auf die Gefühle religiöser Menschen einzustellen.

Nachdem die Konsumentenschutzbehörde eine weitere Beschwerde erhalten hatte, leitete sie die Angelegenheit an das staatliche Inspektorat für Nichtlebensmittel-Produkte weiter. Dieses gab der Bf. zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme und erließ dann einen Bericht, wonach die Bf. gegen das Werbegesetz verstoßen hätte, da die Kampagne religiöse Gefühle verletzen würde und den grundlegenden Respekt für die Spiritualität vermissen ließe. Die Konsumentenschutzbehörde erließ daraufhin eine Entscheidung, wonach die Verwendung religiöser Symbole in den Anzeigen für kommerzielle Zwecke der öffentlichen Moral widersprechen und daher ein Verstoß gegen § 4 Abs. 2 lit. 1 des Werbegesetzes vorliegen würde. Der Bf. wurde eine Geldbuße in der Höhe von umgerechnet ca. € 580,– auferlegt.

Die von der Bf. gegen diese Entscheidung erhobene Beschwerde wurde im November 2013 vom Verwaltungsgericht Vilnius abgewiesen. Auch die Anrufung des Obersten Verwaltungsgerichts blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Das bf. Unternehmen behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch die Verhängung der Geldbuße wegen der umstrittenen Werbekampagne.

Zulässigkeit

(51) Wie der GH feststellt, ist die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(62) Die Parteien sind sich darin einig, dass die über das bf. Unternehmen verhängte Geldbuße [...] einen Eingriff in ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit begründete. Der GH sieht keinen Grund, davon abzugehen.

(66) Der umstrittene Eingriff [...] beruhte auf § 4 Abs. 2 Z. 1 des Werbegesetzes, der Werbung untersagte, die »gegen den öffentlichen Anstand verstößt«. Der GH stimmt mit der Regierung darin überein, dass das Konzept des öffentlichen Anstands notwendigerweise weit ist und im Lauf der Zeit einem Wandel unterliegt, weshalb er sich möglicherweise einer präzisen rechtlichen Definition entzieht. Es wäre unrealistisch, vom nationalen Gesetzgeber eine abschließende Liste jener Handlungen zu erwarten, die den öffentlichen Anstand verletzen.

(67) [...] Es scheint, dass der Fall des bf. Unternehmens der erste war, in dem die innerstaatlichen Gerichte den Begriff des öffentlichen Anstands auf die Verwendung religiöser Symbole zu Werbezwecken anwendeten [...]. Wie der GH anerkennt, macht die bloße Tatsache, dass der Fall des bf. Unternehmens der erste dieser Art war, als solche die Auslegung des Gesetzes nicht unvorhersehbar, da irgendwann der Tag kommen muss, an dem eine bestimmte Vorschrift zum ersten Mal angewendet wird. Dennoch bezweifelt er, ob die von den innerstaatlichen Gerichten im vorliegenden Fall vorgenommene Auslegung – nämlich, dass die Anzeigen gegen den öffentlichen Anstand verstießen, weil die Verwendung religiöser Symbole »unangemessen« war und deren »Bedeutung entstellte« – vernünftigerweise erwartet werden konnte. Der GH kann die Tatsache nicht ignorieren, dass die nationalen Instanzen noch während der Anhängigkeit des Falls des bf. Unternehmens die Notwendigkeit sahen, das Werbegesetz anzupassen und um ein ausdrückliches Verbot von Werbung zu ergänzen, die »religiöse Symbole missachtet«. Er nimmt das Argument des bf. Unternehmens zur Kenntnis, eine solche Änderung wäre nicht notwendig gewesen, wenn das Verbot der unangemessenen Verwendung oder der Missachtung religiöser Symbole in § 4 Abs. 2 Z. 1 mit ausreichender Vorhersehbarkeit enthalten gewesen wäre.

(68) Allerdings erachtet der GH im vorliegenden Fall das Problem der Qualität des Gesetzes als nachrangig gegenüber der Frage der Notwendigkeit der umstrittenen Maßnahme im Fall des bf. Unternehmens. Er hält es daher nicht für notwendig zu entscheiden, ob der Eingriff im vorliegenden Fall iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen war und wird mit der Prüfung fortfahren, ob er ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

(69) Nach dem Vorbringen der Regierung diente der Eingriff zwei Zielen, nämlich dem Schutz der sich aus dem christlichen Glauben ergebenden Moral [...] und dem Schutz der Rechte religiöser Menschen vor einer Beleidigung aufgrund ihres Glaubens. [...] Der GH akzeptiert [...], dass der umstrittene Eingriff ein legitimes Ziel iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK verfolgte.

(75) Wie der GH zunächst bemerkt, bestritt das bf. Unternehmen in seinen Vorbringen (anders als vor den innerstaatlichen Gerichten) nicht, dass die auf den Anzeigen dargestellten Personen religiösen Figuren ähnelten. Auch der GH ist der Ansicht, dass die visuelle Gestaltung der Anzeigen insgesamt betrachtet eine unmissverständliche Ähnlichkeit zwischen den darauf abgebildeten Personen und religiösen Figuren schuf.

(76) Wie er weiters feststellt, dienten die Anzeigen einem kommerziellen Zweck – der Bewerbung einer Modelinie – und waren nicht dazu gedacht, zu irgendeiner allgemeinen Debatte über Religion oder eine andere Angelegenheit von generellem Interesse beizutragen. Folglich ist der Ermessensspielraum der nationalen Behörden weiter. Dennoch ist er nicht unbegrenzt und der GH muss beurteilen, ob er nicht von den nationalen Behörden überschritten wurde.

(77) Nachdem er die Anzeigen selbst betrachtet hat, bemerkt der GH zunächst, dass diese weder unnötig anstößig oder beleidigend erscheinen noch zu Hass aus religiösen Gründen anstiften oder auf unberechtigte oder missbräuchliche Weise eine Religion angreifen. Die innerstaatlichen Gerichte und sonstigen Behörden, die den Fall des bf. Unternehmens prüften, trafen keine ausdrücklich gegenteiligen Feststellungen.

(79) Wie der GH bereits früher festgestellt hat, ist nicht auszuschließen, dass eine auf den ersten Blick nicht anstößige Äußerung unter bestimmten Umständen eine anstößige Wirkung haben kann. Es war daher Sache der innerstaatlichen Gerichte, relevante und ausreichende Gründe dafür vorzubringen, warum die nach Ansicht des GH auf den ersten Blick nicht anstößigen Anzeigen dennoch gegen den öffentlichen Anstand verstießen. [...] Wie die Regierung vorbrachte, würde nicht jede Verwendung religiöser Symbole in der Werbung gegen § 4 Abs. 2 lit. 1 Werbegesetz verstoßen, weshalb auch das innerstaatliche Recht zumindest eine gewisse Begründung dahingehend verlangte, weshalb die vom bf. Unternehmen gewählte Form der Äußerung gegen den öffentlichen Anstand verstieß.

(79) Die von den innerstaatlichen Gerichten und sonstigen Behörden vorgebrachten Gründe kann der GH allerdings nicht als relevant und ausreichend akzeptieren. Die Behörden erachteten die Anzeigen als unvereinbar mit dem öffentlichen Anstand, weil sie religiöse Symbole »für oberflächliche Zwecke« verwendet und »ihren Hauptzweck entstellt« hätten sowie »unangemessen« gewesen wären. Nach Ansicht des GH waren solche Äußerungen deklarativ und vage und sie erklärten nicht ausreichend, warum der Hinweis auf religiöse Symbole in den Anzeigen anstößig war – abgesehen von der bloßen Tatsache, dass er für nicht religiöse Zwecke erfolgt war. Zudem bemerkt er, dass keine der befassten Behörden sich mit dem Argument des bf. Unternehmens auseinandergesetzt hat, die Namen von Jesus und Maria wären [...] nicht in einem religiösen Sinn verwendet worden, sondern als im gesprochenen Litauisch gebräuchliche emotionale Ausrufe, womit ein komischer Effekt geschaffen worden wäre [...].

(80) Der GH widerspricht insbesondere der Begründung der Entscheidung der Konsumentenschutzbehörde, die von den innerstaatlichen Gerichten zur Gänze aufrechterhalten wurde. Danach befürworteten die Anzeigen »einen mit den Grundsätzen eines religiösen Menschen unvereinbaren Lebensstil«, ohne dass erklärt worden wäre, worin dieser Lebensstil bestand, inwiefern die Anzeigen ihn befürworteten oder warum ein »mit den Grundsätzen eines religiösen Menschen unvereinbarer« Lebensstil ohne Weiteres mit dem öffentlichen Anstand unvereinbar wäre. Obwohl sich alle innerstaatlichen Entscheidungen auf »religiöse Personen« bezogen, war die einzige religiöse Gruppe, die im innerstaatlichen Verfahren konsultiert wurde, die römisch-katholische Kirche, obwohl es in Litauen auch verschiedene andere christliche und nicht christliche Glaubensgemeinschaften gibt. [...]

(81) [...] Einige der Behörden maßen der Tatsache erhebliches Gewicht bei, dass sich rund 100 Personen über die Anzeigen beschwert hatten. Der GH bezweifelt nicht, dass diese Personen tatsächlich verletzt gewesen sein müssen. Er bekräftigt allerdings, dass die Meinungsäußerungsfreiheit auch Ideen umfasst, die verletzend, schockierend oder beunruhigend wirken. Er erinnert auch daran, dass in einer pluralistischen Gesellschaft jene, die sich entscheiden, ihre Freiheit auszuüben, sich zu ihrer Religion zu bekennen, nicht erwarten können, von jeder Kritik ausgenommen zu sein. Sie müssen die Leugnung ihres religiösen Glaubens durch andere und selbst die Propagierung von ihrem Glauben feindlich gesinnten Ansichten durch andere tolerieren und akzeptieren. Selbst wenn die Anzeigen einen kommerziellen Zweck hatten und nicht als »Kritik« an religiösen Ideen angesehen werden können, sind die anwendbaren Grundsätze nach Ansicht des GH doch ähnlich [...].

(82) Die Regierung behauptete [...], die Anzeigen müssen auch von der Mehrheit der litauischen Bevölkerung, die den christlichen Glauben teilt, als verletzend empfunden worden sein [...]. Es kann nach Ansicht des GH nicht angenommen werden, dass jeder, der sich zum christlichen Glauben bekennt, die Anzeigen unbedingt als verletzend empfinden würde und die Regierung hat keine Beweise für das Gegenteil vorgelegt. Selbst unter der Annahme, die Mehrheit der litauischen Bevölkerung würde die Anzeigen tatsächlich als verletzend empfinden, [...] wäre es mit den der Konvention zugrunde liegenden Werten unvereinbar, wenn die Ausübung der Konventionsrechte durch eine Minderheit von der Akzeptanz durch die Mehrheit abhängig gemacht würde. Wäre dies der Fall, würden Minderheitenrechte wie unter anderem die Meinungsäußerungsfreiheit bloß theoretisch sein anstatt – wie von der Konvention verlangt – praktisch und effektiv.

(83) Folglich kommt der GH zu dem Ergebnis, dass es die innerstaatlichen Behörden verabsäumten, einen gerechten Ausgleich zwischen dem Schutz des öffentlichen Anstands und den Rechten religiöser Menschen auf der einen Seite und der Meinungsäußerungsfreiheit des bf. Unternehmens auf der anderen Seite zu treffen. Die Formulierungen ihrer Entscheidungen [...] zeigen, dass die Behörden dem Schutz der Gefühle religiöser Menschen absoluten Vorrang gaben, ohne das Recht des bf. Unternehmens auf Meinungsäußerungsfreiheit angemessen zu berücksichtigen.

(85) Daher hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter De Gaetano).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 580,– für materiellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Müller u.a./CH v. 24.5.1988 = EuGRZ 1988, 543 = ÖJZ 1989, 182

Otto-Preminger-Institut/A v. 20.4.1994 = NL 1994, 292 = ÖJZ 1995, 154

Wingrove/GB v. 25.11.1996 = NL 1997, 13 = ÖJZ 1997, 714

Hertel/CH v. 25.8.1998 = NL 1998, 148 = ÖJZ 1999, 614

Murphy/IRL v. 10.7.2003 = NL 2003, 203

I. A./TR v. 13.9.2005 = NL 2005, 229

Vereinigung Bildender Künstler/A v. 25.1.2007 = NL 2007, 19 = ÖJZ 2007, 618

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.1.2018, Bsw. 69317/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2018, 60) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_1/Sekmadienis.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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