JudikaturJustizBsw65192/11

Bsw65192/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Mennesson gg. Frankreich, Urteil vom 26.6.2014, Bsw. 65192/11.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 12 EMRK, Art.3 Abs. 1 Kinderrechtskonvention - Verweigerung der rechtlichen Anerkennung des Eltern-Kind-Verhältnisses bei ausländischer Leihmutterschaft.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK hinsichtlich des Rechts des Erst- und der ZweitBf. auf Achtung des Familienlebens (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK hinsichtlich des Rechts der Dritt- und ViertBf. auf Achtung des Privatlebens (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 12 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– an jedes Kind für immateriellen Schaden, € 15.000,– an alle Bf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Erst- und die ZweitBf. sind französische Staatsbürger und miteinander verheiratet, die Dritt- und die ViertBf. sind ihre von einer Leihmutter ausgetragenen Kinder.

Zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt stellte sich heraus, dass die ZweitBf. unfruchtbar war. Nachdem eine in vitro-Befruchtung mit dem Samen ihres Mannes gescheitert war, entschied sich das Paar, ein Kind im Wege einer Leihmutterschaft zu bekommen. Ein Embryo, der mit dem Samen des ErstBf. und mit einer von einer dritten Person gespendeten Eizelle »erzeugt« worden war, sollte in die Gebärmutter der Leihmutter eingepflanzt werden. Zu diesem Zweck begab sich das Paar nach Kalifornien (USA) – wo die Modalitäten rund um die Leihmutterschaft gesetzlich geregelt sind – und schloss einen Vertrag mit einer Leihmutter ab.

Mit Urteil vom 14.7.2000 sprach der Oberste Gerichtshof von Kalifornien aus, dass angesichts der bevorstehenden Geburt der ErstBf. als genetischer Vater und die ZweitBf. als rechtmäßige Mutter anzusehen und sie als Eltern in die Geburtsurkunde einzutragen wären.

Am 25.10.2000 gebar die Leihmutter weibliche Zwillinge – die Dritt- und die ViertBf.

In der Folge begab sich der ErstBf. zum französischen Konsulat und ersuchte um Übertragung der Geburtsurkunden in das französische Geburtenregister. Die Konsularbehörden lehnten dies ab, da sie argwöhnten, dahinter könne eine nach französischem Recht verbotene Leihmutterschaft stehen. Sie leiteten den Akt an die Staatsanwaltschaft Nantes weiter, welche eine strafrechtliche Untersuchung gegen unbekannt wegen Eingehen einer Leihmutterschaft und gegen die beiden Bf. wegen versuchter Täuschung über den wahren Personenstand ihrer Kinder einleitete.

Die Bf. begaben sich im November 2000 zurück nach Frankreich, nachdem die amerikanischen Behörden den Zwillingen US-Pässe ausgestellt hatten, in denen die Erst- und der ZweitBf. als Eltern aufscheinen.

Am 30.9.2004 stellte der Untersuchungsrichter das Strafverfahren mit der Begründung ein, die strittigen Ereignisse hätten auf amerikanischem Gebiet stattgefunden und könnten somit nicht geahndet werden.

Mittlerweile waren die Geburtsurkunden der Dritt- und der ViertBf. auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Nantes in das lokale Personenstandsregister eingetragen worden. Auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Créteil wurde die Eintragung jedoch mit der Begründung für ungültig erklärt, die Leihmutterschaft widerspreche der »öffentlichen Rechtsauffassung« (ordre public) über die Unverfügbarkeit des menschlichen Körpers und des Personenstatus. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Kalifornien vom 14.7.2000 und darauf fußende Personenstandsdokumente könnten daher in Frankreich nicht vollstreckt bzw. anerkannt werden.

Der Cour de cassation wies das von den beiden Bf. dagegen erhobene Rechtsmittel mit Urteil vom 6.4.2011 ab. Er hielt fest, dass einer Leihmutterschaft, die gegen grundlegende Prinzipien des französischen Rechts verstoße, nicht im Wege einer Eintragung in das nationale Geburtenregister Wirkung verliehen werden dürfe. Die Verweigerung der Eintragung habe nicht dazu geführt, dass die Kinder der den Bf. vom kalifornischen Recht zugestandenen elterlichen Bande verlustig gegangen wären und würde sie auch nicht daran hindern, mit ihren Eltern in Frankreich zu leben. Von einem Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens iSv. Art. 8 EMRK bzw. gegen Art. 3 Abs. 1 Kinderrechtskonvention könne daher keine Rede sein.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) alleine und iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Sie rügen ferner Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 12 EMRK (hier: Recht auf Familiengründung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. beanstanden, dass es ihnen entgegen den vorrangigen Interessen ihrer in Leihmutterschaft geborenen Kinder nicht möglich gewesen sei, in Frankreich das auf legale Art und Weise im Ausland zustande gekommene Eltern-Kind-Verhältnis anerkennen zu lassen.

Zur Zulässigkeit

(44) Obwohl die Regierung die Zulässigkeit der Beschwerde nicht bestreitet, sollen doch folgende Klarstellungen zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK getroffen werden:

(45) Der GH hat bereits im Fall X., Y. und Z./GB auf die Existenz eines De facto-Familienbands zwischen einem im Wege künstlicher Befruchtung geborenen Kind, der Mutter und ihrem transsexuellen Lebenspartner, welcher als Vater agiert hatte, geschlossen. In Wagner und J. M. W. L./L hat er ebenfalls das Vorliegen eines Familienlebens zwischen einem Kind und seiner Adoptivmutter ungeachtet fehlender Anerkennung der Adoption durch das nationale Recht bejaht. Im vorliegenden Fall kümmerte sich das Ehepaar Mennesson von Anfang an um ihre Kinder und leben alle vier in einer Art und Weise zusammen, die sich vom gewöhnlichen Verständnis von »Familienleben« nicht unterscheidet. Art. 8 EMRK ist somit bezüglich des »Familienlebens« anwendbar.

(46) Der GH hat bereits festgehalten, dass der Begriff »Privatleben« nicht nur bestimmte Aspekte der physischen, sondern auch der sozialen Identität eines Individuums umfasst. Wie auch in Fällen, in denen er die Vereinbarkeit der Unmöglichkeit von Kind und biologischem Elternteil, ein rechtliches Band zu begründen, mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens geprüft und herausgestrichen hat, dass jedermann über Details seiner menschlichen Identität Kenntnis erlangen soll, besteht auch hier eine direkte Verbindung zwischen dem Privatleben der im Wege einer Leihmutterschaft geborenen Kinder und der rechtlichen Klärung der Elternschaft. Art. 8 EMRK ist somit auch unter seinem Aspekt »Privatleben« anwendbar.

(47) Da dieser Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(48, 49) Die Parteien und der GH stimmen darin überein, dass die Weigerung der Behörden, das zwischen den Bf. bestehende Familienband rechtlich anzuerkennen, einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens darstellte. [...]

(51) Laut den Bf. hätte der strittige Eingriff nicht auf einer ausreichend bestimmten Rechtsgrundlage basiert. Sie wären berechtigterweise davon ausgegangen, dass die Ausnahmeregel des ordre public einer Übertragung der Geburtsurkunden ihrer Kinder in das nationale Geburtenregister nicht entgegenstehe. [...] Art. 16-7 des Code civil beschränke sich auf die Feststellung, dass die Herbeiführung einer Schwangerschaft durch Dritte bzw. Vornahme einer Leihmutterschaft ungültig sei, ohne zu spezifizieren, ob die Nichtigkeit sich auch auf bereits gezeugte Kinder erstrecke. Dazu komme, dass das Elternverhältnis auf rechtliche Art und Weise durch ein ausländisches Urteil festgelegt worden sei. [...]

(57) [...] Die Wörter »gesetzlich vorgesehen« in Art. 8 Abs. 2 EMRK verlangen nicht nur, dass für die strittige Maßnahme eine Rechtsgrundlage vorhanden sein, sondern auch dass das einschlägige Recht dem Rechtsunterworfenen zugänglich und vorhersehbar sein muss.

(58) Der GH ist der Ansicht, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. Er weist darauf hin, dass die Bf. keinerlei Beweise beigebracht haben, welche ihre Behauptung unterstützen könnten, es habe in Frankreich früher eine liberalere Praxis gegeben, was die Feststellung der Abstammung zwischen im Ausland geborenen, im Wege der Leihmutterschaft gezeugten Kindern und ihren »Wunscheltern« anbelangt. Zwar ist es richtig, dass sich der Cour de cassation nie allgemein zur Anerkennung von Leihmutterschaften im Ausland geäußert hat. In einem Fall, bei dem es sich bei der austragenden Frau gleichzeitig um die biologische Mutter gehandelt hatte, sprach er jedoch aus, dass eine derartige Vorgangsweise dem Prinzip der Nichtverfügbarkeit des menschlichen Körpers und des Personenstandes zuwiderlaufe. In einem ähnlichen Fall hielt er fest, dass eine derartige Konstellation ein Hindernis für die Erzeugung eines rechtlichen Abstammungsbandes zwischen dem Kind und der »Wunschmutter« darstelle und die Übertragung einer ausländischen Geburtsurkunde in das nationale Geburtenregister ausschließe. Unter diesen Umständen mussten die Bf. davon ausgehen, dass zumindest ein ernstes Risiko bestand, dass der Cour de cassation zu einer Ablehnung ihres Begehrens kommen würde, auch wenn keine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts ausdrücklich einer Anerkennung des Abstammungsbandes zwischen den ersten beiden Bf. und der Dritt- und der ViertBf. entgegenstand. Der Eingriff war daher gesetzlich vorgesehen.

(59) Die Bf. bringen vor, die Staatsanwaltschaft habe, nachdem sie vorerst die Eintragung der Geburtsurkunden in das nationale Geburtenregister veranlasst hatte, bei den Gerichten die Ungültigkeit der Eintragung begehrt. Angesichts dieses widersprüchlichen Verhaltens könne nicht davon ausgegangen werden, dass die französischen Behörden ein legitimes Ziel verfolgten.

(61) Der GH ist von diesem Vorbringen nicht überzeugt. Aus der simplen Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft die Übertragung des Urteils des Obersten Gerichtshofs von Kalifornien anordnete, um dann vor Gericht deren Annullierung zu begehren, ist nicht abzuleiten, dass mit dem strittigen Eingriff kein im Art. 8 Abs. 2 EMRK genanntes Ziel verfolgt worden wäre. [...] Der Weigerung der französischen Behörden, das Rechtsverhältnis zwischen von einer ausländischen Leihmutter geborenen Kindern und deren »Wunscheltern« anzuerkennen, liegt das Bestreben zugrunde, französische Staatsbürger davon abzuhalten, Zuflucht ins Ausland zu einer Reproduktionstechnik zu nehmen, die in Frankreich zum Schutz der Kinder und der austragenden Mutter verboten ist. Der in Frage stehende Eingriff verfolgte somit die Ziele des Schutzes der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer. Bleibt zu prüfen, ob dieser in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

(77) [...] Der GH erinnert daran, dass der Ermessensspielraum ein weiter ist, sollte in den Mitgliedstaaten des Europarats kein Konsens über die Lösung einer delikaten ethischen oder moralischen Frage bestehen. Steht jedoch ein bedeutsamer Aspekt der Existenz oder der Identität eines Individuums auf dem Spiel, ist der staatliche Ermessensspielraum gewöhnlich eingeschränkt.

(78) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert in Europa weder über die Rechtmäßigkeit einer Leihmutterschaft noch über die rechtliche Anerkennung des Abstammungsverhältnisses zwischen den »Wunscheltern« und ihren auf rechtmäßige Art und Weise im Ausland gezeugten Kindern ein Konsens. Eine vom GH angestrengte rechtsvergleichende Recherche hat ergeben, dass die Leihmutterschaft in 14 von 35 untersuchten Staaten des Europarats, Frankreich nicht eingerechnet, ausdrücklich verboten ist. In zehn Ländern ist sie im Allgemeinen untersagt, wird nicht toleriert oder ist die Frage ihrer Rechtmäßigkeit unsicher. In sieben Staaten wird sie ausdrücklich zugelassen, während sie in vier toleriert zu werden scheint. In 13 von 35 Mitgliedstaaten wird das Abstammungsverhältnis zwischen Wunscheltern und von einer ausländischen Leihmutter ausgetragenen Kindern rechtlich anerkannt. In elf weiteren Staaten [darunter auch Österreich] scheint dies möglich zu sein. In den verbleibenden elf Staaten ist die rechtliche Anerkennung ausgeschlossen.

(79) Das Fehlen eines Konsenses zeigt, dass der Rückgriff auf eine Leihmutterschaft delikate Fragen ethischer Natur aufwirft. Bei der Entscheidung, ob diese Form der Fortpflanzung genehmigt werden soll oder nicht, steht den Mitgliedstaaten daher ein weiter Beurteilungsspielraum offen. Dies gilt auch für die Frage, ob sie anerkennen wollen, dass zwischen den derart gezeugten Kindern und ihren »Wunscheltern« ein Eltern-Kind-Verhältnis existiert.

(80) Es ist jedoch zu beachten, dass beim Eltern-Kind-Verhältnis ein essentieller Aspekt der Identität von Individuen auf dem Spiel steht. Der Ermessensspielraum, über den der französische Staat im gegenständlichen Fall verfügt, ist insofern ein geringerer.

(81) [...] Es ist daher zu prüfen, ob zwischen den Interessen des Staates und jenen der Bf. ein gerechtes Gleichgewicht gewahrt wurde, wobei, wenn es um die Situation von Kindern geht, auf das fundamentale Prinzip des Vorrangs des Kindeswohls Bedacht zu nehmen ist.

(85) Im vorliegenden Fall kam der Cour de cassation zu dem Schluss, dass die fehlende Möglichkeit, die amerikanischen Geburtsurkunden der Dritt- und der ViertBf. in das nationale Geburtenregister übertragen zu können, weder ihr Recht auf Privat- und Familienleben noch das Kindeswohl verletzt hatte, da sie nicht der ihnen vom kalifornischen Recht zugestandenen elterlichen Bande beraubt worden wären und sie ungehindert mit dem Erst- und der ZweitBf. in Frankreich leben könnten.

(86) Der GH meint, dass er zwischen dem Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens einerseits und dem Recht der Dritt- und der ViertBf. auf Achtung ihres Privatlebens andererseits unterscheiden sollte.

Zum Recht der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens

(87) Es besteht kein Zweifel daran, dass das Familienleben der Bf. durch die fehlende Anerkennung des Eltern-Kind-Verhältnisses im französischen Recht belastet wird. Auch die Gerichte haben eingeräumt, dass eine derartige Situation konkrete Probleme mit sich bringe und dass das Leben der Familie bei behördlichen Formalitäten des täglichen Lebens komplizierter werde.

(88) Da sie über keine französischen Geburtsdokumente für ihre Kinder verfügen, müssen der Erst- und die ZweitBf. beim Verkehr mit Behörden oder bei Rechtsgeschäften stets die amerikanischen Geburtsurkunden, versehen mit einer beglaubigten Übersetzung ins Französische, mit sich führen und sehen sich mit Verständnislosigkeit oder manchmal sogar Argwohn seitens der Adressaten konfrontiert. [...]

(89) Die Tatsache übrigens, dass die zwei Kinder über kein »Abstammungsband« zum ErstBf. und zur ZweitBf. verfügten, habe zur Folge gehabt, dass ersteren bis dato nicht die französische Staatsbürgerschaft verliehen worden sei. Dieser Umstand mache Reisen der Familie kompliziert und sorge zudem für Unruhe hinsichtlich des Bleiberechts der Dritt- und ViertBf. in Frankreich nach Erreichen der Volljährigkeit und bezüglich der Stabilität der Familie. Die Regierung weist in diesem Zusammenhang auf ein Rundschreiben des Justizministers vom 25.1.2013 hin, wonach der Dritt- und der ViertBf. ein Staatsbürgerschaftsnachweis auf der Grundlage von Art. 18 des Code civil ausgestellt werden könne.

(90) Der GH hat jedoch seine Zweifel hinsichtlich dieser Möglichkeit. Erstens ist es gerade der ungewisse rechtliche Status der Eltern, der das Herzstück der vorliegenden Beschwerde darstellt. Außerdem dürfte sich ein Rückgriff auf Art. 18 des Code civil angesichts der Vorschriften des IPR als schwierig bzw. als vom Zufall abhängig erweisen. Zweitens bezieht sich die Regierung auf Art. 47 des Code civil. Hier stellt sich die Frage, ob ein derartiger Ausschlussgrund gegeben ist, entstammen die Kinder doch einer im Ausland vorgenommenen Leihmutterschaft, was laut dem Cour de cassation eine Umgehung französischen Rechts darstellt. [...]

(91) Hinzu kommt noch die verständliche Besorgnis, was die Aufrechterhaltung des Familienlebens zwischen der ZweitBf. und der Dritt- und ViertBf. angeht, sollte der ErstBf. sterben oder sollten sich die Gatten trennen.

(92) Ungeachtet der Existenz potenzieller Risiken für das Familienleben der Bf. muss der GH untersuchen, ob es für die Bf. konkrete Hindernisse aufgrund der einschlägigen Rechtslage gab. Letztere haben aber nicht behauptet, dass die von ihnen zu bewältigenden Schwierigkeiten unüberwindbar gewesen und dass sie dadurch in Frankreich nicht in der Lage gewesen wären, in den Genuss des Rechts auf Achtung des Familienlebens zu kommen. Die Bf. konnten sich kurz nach der Geburt der Kinder in diesem Land niederlassen und dort ein mit anderen Familien im Großen und Ganzen vergleichbares Familienleben führen. Nichts deutet auf eine Absicht der Behörden hin, die Familie aufgrund der rechtlichen Situation trennen zu wollen.

(93) Zudem hat auch der Cour de cassation unterstrichen, dass die Annullierung der Übertragung der amerikanischen Geburtsurkunden in das französische Geburtenregister die Dritt- und ViertBf. nicht daran hindern würde, mit ihren Eltern gemeinsam in Frankreich zu leben. Die französischen Gerichte kamen nach einer konkreten Prüfung der Situation vielmehr zu dem Schluss, dass die Schwierigkeiten, mit denen die Bf. bei der Führung ihres Familienlebens in der Praxis zu kämpfen hatten, nicht die Schwelle, welche das Recht auf Achtung des Familienlebens vorgibt, überschritten hätten.

(94) [...] Unter diesen Umständen wurde ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den Interessen der Bf. und jenen des Staates gewahrt.

Zum Recht der Dritt- und der ViertBf. auf Achtung ihres Privatlebens

(96) Der GH hat bereits festgehalten, dass die Frage der Abstammung einen wesentlichen Aspekt der Identität eines Individuums widerspiegelt. Vom Gesichtspunkt des positiven Rechts aus befanden sich die Dritt- und die ViertBf. in dieser Hinsicht in einem Zustand der rechtlichen Ungewissheit. Zwar gingen die französischen Gerichte von einem Eltern-Kind-Verhältnis aus, soweit es im kalifornischen Recht begründet worden war, jedoch führte die Weigerung, dem Urteil des Obersten Gerichtshofs von Kalifornien in Frankreich Wirkung zu verleihen, dazu, dass dieses Abstammungsband von der französischen Rechtsordnung nicht anerkannt wurde. Anders gesagt wurden die Dritt- und die ViertBf. von Frankreich als Kinder des Ehepaares Mennesson »identifiziert«, um ihnen gleichzeitig diese Qualität nach nationalem Recht abzusprechen. Ein derartiger Widerspruch ist geeignet, die Identität der beiden Kinder innerhalb der französischen Gesellschaft zu untergraben.

(97) Auch wenn Art. 8 EMRK kein Recht auf den Erwerb einer bestimmten Nationalität garantiert, steht dennoch fest, dass die Staatsangehörigkeit Bestandteil der Identität von Personen ist. Obwohl nun der biologische Vater der Dritt- und der ViertBf. Franzose ist, sind diese mit einer beunruhigenden Ungewissheit konfrontiert, was die Verleihung der französischen Staatsbürgerschaft auf der Grundlage des Art. 18 des Code civil betrifft. Diese Situation könnte negative Rückwirkungen auf die Definition ihrer eigenen Identität haben.

(98) Die Tatsache ferner, dass die Dritt- und die ViertBf. vom französischem Recht nicht als Kinder der ersten beiden Bf. erfasst werden, hat auch Auswirkungen auf ihre Rechte als Erben. Dies wird von der Regierung bestritten. Allerdings hat der Conseil d’Etat 2009 im Zuge der Beratungen über eine Änderung des Rechts der Bioethik festgehalten, dass bei Leihmutterschaften wegen fehlender Anerkennung des »Abstammungsbandes« zwischen Wunschmutter und im Ausland ausgetragenen Kindern durch Frankreich Letzteren ein Erbstatus lediglich als Legatar eingeräumt wird, was bedeutet, dass sie jeweils nur zu einem Drittel erben können. Dies gilt auch hinsichtlich des »Wunschvaters«, mag er auch wie hier der biologische Vater sein. Das Erbrecht der beiden Kinder wäre somit geschmälert, womit sie ein weiteres Stück ihrer Identität im Hinblick auf das Abstammungsverhältnis zu ihren Eltern einbüßen müssten.

(99) Es ist verständlich, dass Frankreich seine Bürgerinnen und Bürger davon abhalten möchte, im Ausland Zuflucht zu einer Fortpflanzungsmethode zu nehmen, welche es auf seinem Territorium verboten hat. Aus dem Vorgesagten ergibt sich aber, dass die vom französischen Recht versagte Nichtanerkennung des Eltern-Kind-Verhältnisses bei ausländischen Leihmutterschaften nicht nur auf die Situation der »Wunscheltern«, sondern auch auf jene der ausgetragenen Kinder Auswirkungen hat: Ihr Recht auf Achtung des Privatlebens, welches impliziert, dass es jedermann möglich sein sollte, die Essenz seiner Identität, einschließlich der Feststellung der Abstammung von Vater und Mutter, zu ermitteln, ist erheblich beeinträchtigt. [...]

(100) Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall einer der Elternteile auch der biologische Vater der Kinder war. Angesichts der Bedeutung der biologischen Elternschaft als Bestandteil der Identität von Individuen, kann nicht gesagt werden, dass es den besten Interessen des Kindes entspricht, wenn man es eines rechtlichen Bandes beraubt, obwohl die biologische Realität dieses Bandes erwiesen ist und Vater und Kind ihre volle Anerkennung wünschen. Im vorliegenden Fall wurde das zwischen der Dritt- und der ViertBf. und ihrem biologischen Vater bestehende Band nicht nur nicht anerkannt, sondern würde seine Anerkennung im Wege eines Vaterschaftsfeststellungsverfahrens, einer Adoption oder auf der Basis der »Vermutung der Vaterschaft« (possession d’etat) auch mit der einschlägigen Rechtsprechung des Cour de cassation in Konflikt geraten. Angesichts der gravierenden Auswirkungen auf die Identität und das Recht der Dritt- und ViertBf. auf Achtung ihres Privatlebens durch die Verwehrung der Anerkennung und Begründung eines Rechtsverhältnisses mit ihrem biologischen Vater hat der französische Staat daher den zulässigen Ermessensspielraum überschritten.

Ergebnis

(102) Der GH stellt keine Verletzung von Art. 8 EMRK hinsichtlich des Rechts der Bf. auf Achtung ihres Familienlebens, jedoch eine Verletzung von Art. 8 EMRK bezüglich des Rechts der Dritt- und ViertBf. auf Achtung ihres Privatlebens fest (jeweils einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK

(103) Die Bf. beklagen, dass ihre Kinder aufgrund der Unmöglichkeit, in Frankreich das Abstammungsverhältnis zu ihren Eltern anerkannt zu bekommen, in der Ausübung ihres Rechts auf Achtung ihres Familienlebens gegenüber anderen Kindern, welche aus einer künstlichen Fortpflanzung mit einer Eizellspende oder aus einer ausländischen Leihmutterschaft, bei der sehr wohl eine Eintragung ins Geburtenregister erfolgt sei, hervorgegangen seien, benachteiligt worden wären.

(108) Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art. 8 EMRK mit Rücksicht auf die Dritt- und ViertBf. sieht der GH von einer gesonderten Prüfung dieses Beschwerdepunkts ab (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(109) Die Bf. rügen den unfairen Charakter des Verfahrens, weil die französischen Gerichte sich weigerten, dem Urteil des Obersten Gerichtshofs von Kalifornien Wirkung zu verleihen, ohne dafür eine angemessene Rechtfertigung zu geben. Ferner habe die französische Staatsanwaltschaft pflichtwidrig gehandelt, indem sie zuerst die Eintragung der Geburtsurkunden in das Geburtenregister veranlasst, später jedoch deren Annullierung angeordnet hätte.

(110) Die Bf. haben sich vor dem Cour de cassation jedoch nicht auf Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen. Die beiden ersten Beschwerdepunkte sind daher wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs gemäß Art. 35 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zum dritten Punkt dieser Beschwerde ist zu sagen, dass der von den Bf. zur Sprache gebrachte Umstand nicht geeignet war, die Fairness des Verfahrens zu beeinträchtigen. Dieser Teil der Beschwerde ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 12 EMRK

Die Bf. behaupten, die Weigerung der französischen Behörden, das Abstammungsband zwischen dem Erst- und der ZweitBf. und ihren Kindern anzuerkennen, habe ihr Recht auf Gründung einer Familie verletzt.

(112) Da die Bf. die nationalen Instanzen nicht mit diesem Vorbringen konfrontiert haben, ist auch dieser Beschwerdepunkt wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– an jedes Kind für immateriellen Schaden, € 15.000,– an alle Bf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Anmerkung

Vgl. auch den gleichgelagerten Fall Labassee/F vom 26.6.2014, Bsw. Nr. 65.941/11.

Eine Glosse zu dieser Entscheidung finden Sie in der Druckfassung des NLMR, Heft 2014/3.

Vom GH zitierte Judikatur:

X., Y. und Z./GB v. 22.4.1997 (GK) = NL 1997, 88 = ÖJZ 1998, 271

Wagner und J. M. W. L./L v. 28.6.2007 = NL 2007, 181

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.6.2014, Bsw. 65192/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 221) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_3/Mennesson.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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