JudikaturJustizBsw3910/13

Bsw3910/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. Juli 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, M.P.E.V u.a. gg. die Schweiz, Urteil vom 08.7.2014, Bsw. 3910/13.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK - Ausweisung eines Familienvaters nach Equador.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der ersten beiden Bf. sowie der ViertBf. unter Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der DrittBf. unter Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK im Fall der Ausweisung des ErstBf. (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der ErstBf. und die ZweitBf. heirateten 1988 in Ecuador. Die 1986 geborene DrittBf. ist die Tochter der ZweitBf. und die Stieftochter des ErstBf. Die 1999 geborene ViertBf. ist die gemeinsame Tochter der beiden ersten Bf.

Am 1.1.2002 stellten die Bf. in der Schweiz einen Asylantrag. Die ersten beiden Bf. behaupteten, von der ecuadorianischen Polizei gefoltert und mit dem Tode bedroht worden zu sein, nachdem der ErstBf. an zwei politischen Demonstrationen teilgenommen hätte. Das Bundesamt für Flüchtlinge (BAF) wies den Antrag der Bf. am 4.2.2002 zurück.

Der ErstBf. wurde zwischen 2005 und 2009 mehrfach verurteilt, unter anderem am 1.3.2005 wegen Verkaufs gestohlener Waren zu einer dreimonatigen Haftstrafe auf Bewährung, am 9.4.2008 wegen versuchtem Diebstahl zu 120 Stunden gemeinnütziger Arbeit und am 14.4.2009 wegen des Kaufs von gestohlenen Waren zu einer neunmonatigen Haftstrafe auf Bewährung. Die Bewährung seiner früheren Strafe wurde daraufhin widerrufen.

Das Bundesverwaltungsgericht hob die Entscheidung des BAF vom 4.2.2002 am 24.10.2007 auf und wies das BAF an, den Antrag nochmals zu prüfen, da der ErstBf. medizinischen Attesten zufolge an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depression und schizoaffektiven Störung litt. Er hätte zudem versucht, sich selbst zu töten. Dies könne einen Grund darstellen, dem ErstBf. Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

Im Mai 2009 trennten sich die beiden ersten Bf. Die ViertBf. blieb bei der ZweitBf., die die volle elterliche Sorge zugesprochen bekam, während dem ErstBf. umfassende Umgangsrechte gewährt wurden.

Das BAF erkannte der DrittBf. am 27.10.2009 eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen zu. Sie zog daraufhin ihren Asylantrag zurück und suchte um die Schweizer Staatsbürgerschaft an, die ihr am 17.9.2012 verliehen wurde.

Am 20.3.2012 wies das BAF nach einer neuerlichen Prüfung der Fakten den Antrag der übrigen Bf. auf Asyl ab. Diese erhoben in der Folge eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, das die Entscheidung des BAF am 7.9.2012 teilweise aufhob. Es befand, dass die ViertBf., die mittlerweile dreizehn war, seit dem Alter von zwei in der Schweiz aufgewachsen sei und keine Bezüge zu Ecuador hätte. Eine Abschiebung dorthin würde für sie somit eine Entwurzelung von übermäßiger Härte darstellen. Daher gewährte das Bundesverwaltungsgericht ihr und ihrer Mutter eine befristete und jährlich erneuerbare Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr. Die Ausweisung des Bf. sei hingegen rechtmäßig. Insbesondere würde Ecuador über ein zuverlässiges Gesundheitssystem verfügen. Sein Strafregister würde ihn zudem von der Gewährung einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung ausschließen, immerhin hätte er insgesamt 1.465 Waren gestohlen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, die Ausweisung des ErstBf. aus der Schweiz würde Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzen.

Zur Zulässigkeit

Erschöpfung des Instanzenzugs

(23) Die Regierung brachte vor, die Bf. hätten den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft, da sie gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.9.2012 beim Bundesgericht keine »Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten« gemäß den Art. 82ff. des Bundesgerichtsgesetzes erhoben hätten. [...]

(27) Der GH beobachtet, dass gemäß dem Wortlaut von Art. 83 lit. c Z. 3 des genannten Gesetzes eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unzulässig ist, wenn sie gegen Entscheidungen auf dem Gebiet des Ausländerrechts betreffend die vorläufige Aufnahme gerichtet ist. Der GH hält es nicht für erwiesen, dass diese Bestimmung im gegenständlichen Fall nicht anwendbar war. [...] Folglich hätte eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten keine Abhilfe im Hinblick auf die Rügen der Bf. unter Art. 8 EMRK schaffen können.

(28) Unter diesen Umständen [...] konnte von den Bf. nicht erwartet werden, dass sie eine solche Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erheben. Die Beschwerde vor dem GH ist daher nicht wegen Nichterschöpfung des Instanzenzugs zurückzuweisen, zurückzuweisen ist aber die Einrede der Regierung.

Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK

(29) Laut der Regierung würde zwischen dem ErstBf. und der ZweitBf. und dem ErstBf. und der DrittBf. kein »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK bestehen. Die ersten beiden Bf. hätten sich im Mai 2009 getrennt und würden nicht mehr länger zusammenleben. [...] Bei der DrittBf. würde es sich inzwischen um eine Erwachsene handeln, die ihr eigenes Familienleben begonnen hätte. [...]

(33) Die Regierung hat nicht bestritten, dass die Beziehung zwischen dem ErstBf. und der ViertBf. »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK darstellte. [...] Der GH unterstützt diese Ansicht. Die Beschwerde des ErstBf. und der ViertBf. fällt daher unter Art. 8 EMRK.

(34) Die ersten beiden Bf. haben sich nicht scheiden lassen, auch wenn sie sich getrennt haben und seit 2009 nicht mehr zusammenleben. Dass die beiden ersten Bf. sich regelmäßig sehen und die ZweitBf. den ErstBf. bei seiner Krankheit unterstützt, reicht aus, um ihre Beziehung unter Art. 8 EMRK fallen zu lassen.

(35) Da die Beschwerde des ErstBf. sowie der Zweit- und ViertBf. nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(36) Die DrittBf. ist bereits erwachsen und hat eine eigene Familie. Die Bf. haben nicht nachgewiesen, dass eine ausreichende Abhängigkeit besteht, welche die Beziehung der DrittBf. mit dem ErstBf. in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK bringen könnte. Während die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Migranten und der Gemeinschaft, in der sie leben, Teil des »Privatlebens« iSv. Art. 8 EMRK ist, reicht die Beziehung zwischen den ersten beiden Bf. für sich nicht aus, um die Beschwerde der DrittBf. unter Art. 8 EMRK fallen zu lassen.

(37) Die Beschwerde der DrittBf. ist daher ratione materiae mit der Konvention unvereinbar und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(52) Der GH hat in seinem Urteil Üner/NL die einschlägigen Kriterien zusammengefasst, die anzuwenden sind, wenn zu entscheiden ist, ob ein Eingriff in Form einer Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. [...] Wenn Familien mit Kindern betroffen sind, muss für die Behörden bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit für die Zwecke der Konvention das Kindeswohl ein vorrangiger Faktor sein.

(54) Der erste zu berücksichtigende Umstand ist die Schwere der vom ErstBf. begangenen Straftaten. Der GH bemerkt, dass sein Strafregister zwischen 2005 und 2009 vier Verurteilungen aufweist, von denen drei Straftaten das Eigentum anderer betrafen und die vierte ein Verkehrsdelikt. Die schwerste Strafe, die ihm für diese Straftaten auferlegt wurde, war eine neunmonatige Haftstrafe auf Bewährung. Es scheint, dass er nach 2009 nicht nochmals straffällig wurde.

(55) Was die Dauer des Aufenthalts des Bf. in der Schweiz betrifft, so beobachtet der GH, dass er in die Schweiz einreiste, als er bereits erwachsen war und dort ein Asylsuchender war, der nie einen festen Aufenthaltsstatus hatte. Es muss aber auch festgehalten werden, dass das Asylverfahren mehr als zehn Jahre dauerte, nämlich bis zum 7.9.2012, als das Bundesverwaltungsgericht rechtskräftig über den Asylantrag des Bf. entschied.

(56) Im Hinblick auf die familiäre Situation des ErstBf. hat der GH oben festgestellt, dass er mit der ZweitBf., die ihn bei seiner Krankheit unterstützt [...] weiterhin eine Beziehung unterhält, die unter Art. 8 EMRK fällt. In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich anerkannte, dass der Gesundheitszustand des ErstBf. Grund zur Sorge gab und dass laut seinem behandelnden Arzt seine Rückkehr nach Ecuador für sich wahrscheinlich bereits seine Gesundheit gefährden würde und das unabhängig von der medizinischen Behandlung, die er erhielt.

(57) Zur Beziehung des ErstBf. zur ViertBf. beobachtet der GH, dass er diese gemeinsam mit der ZweitBf. aufgezogen hat und sich auch nach der Trennung weiter an der Erziehung beteiligte, was sich in den ihm gewährten umfassenden Kontaktrechten widerspiegelt. Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem erwogen, dass angesichts der Integration der ViertBf. in die Schweizer Gesellschaft, ihres mangelnden Wissens über ihr Herkunftsland – wohin sie nach der Einreise in die Schweiz im Alter von zwei Jahren nie mehr zurückkehrte – und des Umstands, dass sie kaum Spanisch sprach, es einer Entwurzelung von übermäßiger Härte gleichkäme, würde sie nach Ecuador zurückgesandt. Unter diesen Umständen kann erwartet werden, dass der persönliche Kontakt zwischen den beiden Bf. zumindest drastisch vermindert würde, wenn der ErstBf. zu einer Rückkehr nach Ecuador gezwungen werden sollte. Der GH unterstreicht den Umstand, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Behandlung des Falls des ErstBf. keinen Bezug auf das Kindeswohl nahm, weil es nicht der Ansicht war, dass die Beziehung zwischen ihnen unter den Schutz des »Familienlebens« iSv. Art. 8 EMRK fiel. Unter diesen Umständen ist der GH nicht überzeugt, dass dem Kindeswohl ausreichend Gewicht beigemessen wurde. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auch auf Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention, wonach das Kindeswohl bei allen Maßnahmen von Behörden, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist.

(58) Im Lichte der obigen Ausführungen und unter Berücksichtigung der nicht allzu schwerwiegenden vom ErstBf. begangenen Straftaten, seines schlechten Gesundheitszustands und insbesondere des Versäumnisses der nationalen Behörden, die beiderseitigen Interessen des Erst- und der ViertBf. an der Aufrechterhaltung eines engen persönlichen Kontakts zu berücksichtigen, stellt der GH fest, dass der belangte Staat den ihm im gegenständlichen Fall zukommenden Beurteilungsspielraum überschritten hat.

(59) Verletzung von Art. 8 EMRK im Fall der Ausweisung des ErstBf. (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 8 EMRK

(60) Die Bf. rügen auch, im Hinblick auf ihre Beschwerde unter Art. 8 EMRK über keinen wirksamen Rechtsbehelf verfügt zu haben [...].

(61) Die Rüge der DrittBf. ist unzulässig, da diese keine vertretbare Beschwerde iSd. Art. 8 EMRK behaupten konnte (einstimmig).

(62) Angesichts der Feststellungen zu Art. 8 EMRK befindet der GH weiters, dass es nicht notwendig ist, die [...] Beschwerde der ersten beiden Bf. sowie der ViertBf. unter Art. 13 EMRK zu untersuchen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK) = NL 2010, 211

Nunez/N v. 28.6.2011 = NL 2011, 169

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.7.2014, Bsw. 3910/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 295) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_4/M.P.E.V..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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