JudikaturJustizBsw38314/06

Bsw38314/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Dezember 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Gassner gg. Österreich, Urteil vom 11.12.2012, Bsw. 38314/06.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Jahrelanges Verfahren wegen Reisekosten eines Richters.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der Verfahrensdauer (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Richter am LG Eisenstadt. Im Juli 1997 reiste er anlässlich eines Studienaufenthalts zur Europäischen Kommission nach Brüssel. Das Bundesministerium für Justiz übernahm die Reisekosten und gewährte ihm einen zweiwöchigen Sonderurlaub. Zusätzlich nahm der Bf. für diese Zeit zwei Wochen seines Jahresurlaubes.

Am 5.9.1997 beantragte der Bf. beim Bundesministerium für Justiz die Erstattung weiterer Kosten, insbesondere für seine Unterbringung in Höhe von € 1.284,11. Am 20.3.1998 wies dieses den Antrag des Bf. ab, da es sich nicht um eine Dienstreise gehandelt habe, was sich dadurch zeige, dass der Bf. im fraglichen Zeitraum Urlaub genommen habe.

Am 3.6.1998 erhob der Bf. Beschwerde beim VwGH. Er brachte vor, dass der Bundesminister eine falsche rechtliche Beurteilung vorgenommen habe und dass der Studienaufenthalt bei richtiger Beweiswürdigung als Dienstreise zu qualifizieren sei. Am 30.1.2002 hob der VwGH die Entscheidung des Bundesministers auf, da nicht dieser, sondern der Präsident des OLG Wien für die Entscheidung zuständig gewesen sei. Diesem wurde daraufhin die Rechtssache zur Entscheidung übertragen.

Am 17.9.2002 erhob der Bf. Säumnisbeschwerde beim VwGH, da der Präsident des OLG nicht in der gesetzlichen Frist von sechs Monaten über seinen Antrag entschieden habe. Am 23.10.2002 wies der VwGH die Beschwerde zurück, da der Bf. es versäumt habe, zunächst einen Devolutionsantrag gemäß § 73 AVG zu stellen.

Am 29.11.2002 wies der Präsident des OLG Wien den Antrag auf Rückerstattung der Kosten ab, da der Bf. weder einen Dienstauftrag die Reise betreffend erhalten habe noch während seines Aufenthalts dienstlichen Verpflichtungen nachgekommen sei. Gegen diese Entscheidung legte der Bf. Berufung beim Bundesminister für Justiz ein, der sie am 4.2.2003 unter Bestätigung der Entscheidung der ersten Instanz abwies.

Am 14.4.2003 erhob der Bf. dagegen Beschwerde beim VwGH und brachte vor, dass die Reise in seinem dienstlichen Interesse gestanden sei. Der Bf. beantragte keine mündliche Verhandlung vor dem VwGH. Am 24.2.2006 wies der VwGH die Beschwerde ab, da der Minister die Beweise richtig gewürdigt und zu Recht festgestellt habe, dass der Aufenthalt nicht als Dienstreise zu behandeln sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer).

Zur Zulässigkeit

Der GH wiederholt seine Feststellungen im Fall Vilho Eskelinen u.a./FIN, wonach zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um es dem verantwortlichen Staat zu ermöglichen, sich auf den Beamtenstatus des Bf. berufen und ihn vom Schutz gemäß Art. 6 EMRK ausschließen zu können. Erstens muss der Zugang zu einem Gericht für die fragliche Personengruppe im nationalen Recht ausdrücklich ausgeschlossen werden, und zweitens müssen nachvollziehbare und objektive Gründe dafür vorliegen. Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die erste Voraussetzung nicht gegeben ist, da der Bf. Zugang zu einer nationalen Instanz, nämlich dem VwGH, hatte, weshalb der GH es nicht als notwendig erachtet zu prüfen, ob die zweite Voraussetzung vorliegt. Art. 6 EMRK ist somit in seiner zivilrechtlichen Ausprägung auf das vorliegende Verfahren anwendbar und die diesbezügliche Einrede der Regierung zurückzuweisen.

Der GH wiederholt, dass ein Devolutionsantrag grundsätzlich ein effektives Rechtsmittel darstellt, das im Hinblick auf Beschwerden wegen der Verfahrensdauer vor Verwaltungsbehörden auszuschöpfen ist. Er hat jedoch  in zahlreichen Fällen festgestellt, dass es weder eine präventive noch eine kompensatorische Abhilfe gegen Verfahrensverzögerungen vor dem VwGH gibt. Der GH stellt fest, dass der vorliegende Fall von 14.4.2003 bis 24.2.2006 beim VwGH anhängig war, was einen erheblichen Zeitraum darstellt, in dem der Bf. das von der Regierung angegebene Rechtsmittel, um das Verfahren zu beschleunigen, nicht einlegen konnte. Unter diesen Umständen betrachtet es der GH nicht als angemessen, vom Bf. zu verlangen, einen Devolutionsantrag für den verbleibenden Zeitraum zu stellen.

Der GH nimmt zur Kenntnis, dass der Bf. keine Beschwerde beim VfGH erhoben hat. Er hat jedoch bereits festgestellt, dass einer solchen Beschwerde mehr ein deklaratorischer als ein präventiver oder kompensatorischer Effekt zukommt. Dieses Rechtsmittel ist daher nicht als effektiv iSd. vom GH entwickelten Kriterien anzusehen, weshalb es ein Bf.  nicht erheben muss. Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Der Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und muss für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Der fragliche Zeitraum beginnt am 29.11.2002, als der Präsident des OLG Wien den Antrag des Bf. auf Rückerstattung abwies, da dies die erste Entscheidung einer zuständigen Behörde bezüglich des Antrages des Bf. darstellte. Ab diesem Zeitpunkt besteht eine »Streitigkeit« iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Zeitraum endete am 24.2.2006, als der VwGH die Beschwerde des Bf. endgültig abwies. Das Verfahren vor insgesamt drei Instanzen dauerte somit drei Jahre, zwei Monate und 26 Tage. Die Verfahrensdauer ist unter Berücksichtigung der Umstände und der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Bf. und der jeweiligen Behörden sowie der Bedeutung der Streitigkeit für den Bf. zu bewerten.

Der GH stellt fest, dass der Fall nicht besonders komplex war und der Bf. keinen Anlass zu erheblichen Verzögerungen im Verfahren gegeben hat. Auch wenn der relevante Zeitraum insgesamt nicht besonders lang erscheint, kann die Dauer, für die der Fall vor dem VwGH anhängig war, ein Problem iSd. Art. 6 EMRK aufwerfen.

Der GH stellt fest, dass es sich nicht um eine gewöhnliche arbeitsrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Arbeitsverhältnis des Bf. oder wichtige Belange davon betroffen sind, und beurteilt daher den Sachverhalt nicht als besonders wichtig im Hinblick auf die zivilen Rechte des Bf. Der GH erkennt auch keine wichtige Frage von grundsätzlicher Bedeutung in den nationalen Verfahren. Da der relevante Zeitraum außerdem nicht übermäßig lang ist, liegt keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (4:3 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen Berro-Lefèvre, VajiC und des Richters MØse).

Zu den anderen behaupteten Verletzungen

Der Bf. behauptet weiters eine Verletzung von Art. 6 EMRK, da keine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt worden sei und mangels der Vernehmung von durch ihn genannten Zeugen kein faires Verfahren vorliege. Außerdem behauptet er eine Verletzung von Art. 13 EMRK, da er keinen Zugang zu einem Tribunal gehabt habe, sowie eine Verletzung von Art. 14 EMRK, da der Ausgang des Verfahrens als willkürlich zu bezeichnen sei. Der GH ist nicht der Ansicht, dass diese Vorbringen Anzeichen für irgendeine Verletzung der Rechte und Freiheiten der Konvention geben. Diese Beschwerdepunkte sind somit offensichtlich unbegründet und gemäß Art 35 Abs. 3 und 4 EMRK als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Anmerkung

Das Sondervotum geht von einem anderen Standpunkt zur Berechnung des relevanten Zeitraums aus, nämlich dem ersten Beschwerdeeingang beim VwGH am 3.6.1998. Das Verfahren dauerte demnach sieben Jahre, acht Monate und 21 Tage. Zudem reiche die zweite Periode vor dem VwGH allein schon für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aus.

Vom GH zitierte Judikatur:

Holzinger/A (Nr. 2) v. 30.1.2001 = ÖJZ 2001, 479

Vilho Eskelinen u.a./FIN v. 19.4.2007 (GK) = NL 2007, 94 = ÖJZ 2008, 35

Stempfer/A v. 26.7.2007 = NL 2007, 199

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.12.2012, Bsw. 38314/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 400) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_6/Gassner.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
3