JudikaturJustizBsw37575/04

Bsw37575/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. April 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Boulois gg. Luxemburg, Urteil vom 3.4.2012, Bsw. 37575/04.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Verfahren über Ausgang eines Strafgefangenen.

Verbindung der Einrede der Regierung mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Feststellung, dass Art. 6 EMRK keine Anwendung findet (15:2 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde im Oktober 2001 wegen eines im Dezember 1998 begangenen Falls der Körperverletzung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung zu 15 Jahren Haft verurteilt. Zur Zeit der Erhebung der vorliegenden Beschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt Schrassig inhaftiert. Er ist französischer Staatsbürger.

Im Oktober 2003 beantragte er beim Generalstaatsanwalt erstmals einen eintägigen Ausgang, um verschiedene Behördengänge zu erledigen. Der Vertreter des Generalstaatsanwalts übermittelte dem Anstaltsleiter am 5.11.2003 ein Memorandum, wonach der Antrag auf Ausgang vom Gefängnisausschuss abgewiesen werde, weil die Gefahr einer Abschiebung oder der Flucht bestehe. Ein weiterer, gleichlautender Antrag vom 17.1.2004 wurde mit der gleichen Begründung abgewiesen.

Daraufhin wandte sich der Bf. an das Verwaltungsgericht (tribunal administratif), um eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen des Gefängnisausschusses zu erlangen. Das Verwaltungsgericht erklärte sich am 23.12.2004 für unzuständig, weil die Angelegenheit eine Änderung der gerichtlich verhängten Strafe betreffen würde. Da die Entscheidungen daher der Sache nach der Justiz zuzuordnen wären, könnten sie nicht Gegenstand einer Beschwerde an das Verwaltungsgericht sein. Der Verwaltungsgerichtshof (cour administrative) bestätigte am 14.4.2005 die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Zwischen August 2004 und Mai 2006 beantragte der Bf. weitere fünf Mal erfolglos einen Ausgang für verschiedene Zwecke.

Am 31.10.2008 wurde ihm erstmals ein eintägiger Ausgang gewährt. Im Juli 2010 wurde der Bf. endgültig aus der Haft entlassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da er nicht in den Genuss eines den Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechenden Verfahrens über seine Anträge auf Ausgang gekommen sei.

Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Die Regierung wendet ein, Art. 6 EMRK sei nicht anwendbar. Diese Einrede steht in so engem Zusammenhang mit der Entscheidung in der Sache, dass sie mit dieser zu verbinden ist (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

Allgemeine Überlegungen

Der Bf. beschwert sich unter Art. 6 EMRK über die Abweisung seiner Anträge auf Ausgang. Die erste Aufgabe des GH besteht daher darin zu prüfen, ob die Beschwerde ratione materiae vereinbar mit Art. 6 EMRK ist.

Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nicht anwendbar in seinem strafrechtlichen Aspekt, da das Verfahren keine strafrechtliche Anklage betraf. Der GH muss daher prüfen, ob der Bf. einen »zivilrechtlichen Anspruch« hatte.

Nach der herkömmlichen Rechtsprechung des GH fällt die Prüfung von Anträgen auf vorübergehende Entlassung oder von Angelegenheiten betreffend die Art der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK.

Der GH hat kürzlich festgestellt, dass Familienbesuche oder die Korrespondenz eines Strafgefangenen einen »zivilrechtlichen Anspruch« betreffen (Enea/I), doch betrifft diese Rechtsprechungslinie nicht die im vorliegenden Fall zu prüfende Angelegenheit.

Um festzustellen, ob Art. 6 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt auf das Verfahren über die Anträge des Bf. anwendbar ist, muss zunächst bestimmt werden, ob er einen »Anspruch« im Sinne dieses Artikels hatte.

Bestehen eines »Anspruchs«

Damit Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar ist, muss eine »Streitigkeit« in Bezug auf einen »Anspruch« bestehen, dessen Anerkennung im innerstaatlichen Recht zumindest vertretbarerweise behauptet werden kann.

Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert keinen bestimmten Inhalt (zivilrechtlicher) »Ansprüche und Verpflichtungen« im materiellen Recht der Vertragsstaaten. Der GH kann nicht im Wege der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ein materielles Recht schaffen, das keine rechtliche Grundlage im betreffenden Staat hat.

Ob die Behörden bei der Entscheidung über die Gewährung einer bestimmten beantragten Maßnahme Ermessen haben oder nicht, kann berücksichtigt werden und sogar entscheidend sein. Die bloße Tatsache, dass der Wortlaut einer rechtlichen Bestimmung ein Element des Ermessens gewährt, schließt jedoch das Bestehen eines Anspruchs nicht aus.

Andere Kriterien, die herangezogen werden können, sind die Anerkennung des behaupteten Rechts durch die innerstaatlichen Gerichte unter ähnlichen Umständen oder die Tatsache, dass diese den Antrag des Bf. in der Sache geprüft haben.

Zum vorliegenden Fall stellt der GH zunächst fest, dass eine »Streitigkeit« bestand, die sich auf das vom Bf. behauptete Bestehen eines Anspruchs auf Ausgang bezog. Zur Frage, ob die Anerkennung eines solchen »Anspruchs« im innerstaatlichen Recht zumindest vertretbarerweise behauptet werden kann, stellt der GH fest, dass Ausgang im luxemburgischen Recht als »Privileg« bezeichnet wird, das Strafgefangenen unter bestimmten Umständen »gewährt werden kann«.

Der Begriff »Privileg« ist im Zusammenhang mit der Phrase »kann gewährt werden« und im Lichte der erläuternden Bemerkungen zu diesem Gesetz auszulegen. Demnach erfolgt die Gewährung von Maßnahmen betreffend die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe »nie automatisch«, sondern »unterliegt stets dem Ermessen der Strafvollzugsbehörde«. Es war somit eindeutig die Absicht des Gesetzgebers, ein Privileg zu schaffen, das keinem Rechtsmittel unterworfen ist. Anders als im Fall Enea/I, der die Einschränkung von Besuchsrechten betraf, geht es im vorliegenden Fall um eine Vergünstigung, die als Anreiz für Gefangene geschaffen wurde.

Überdies haben die Parteien anerkannt, dass der Gefängnisausschuss bei der Entscheidung darüber, ob der betreffende Strafgefangene das fragliche Privileg verdient, ein gewisses Ermessen genießt. Der Ausschuss berücksichtigt dabei die Persönlichkeit des Gefangenen, seine Fortschritte und die Gefahr weiterer Straftaten. Die von der Regierung vorgelegten Statistiken bekräftigen, dass die Entscheidung der Behörden in ihrem Ermessen liegt. Daraus folgt, dass Gefangene in Luxemburg keinen Anspruch auf die Gewährung von Ausgang haben, selbst wenn sie die Voraussetzungen formell erfüllen.

Betreffend die Auslegung des Gesetzes durch die innerstaatlichen Gerichte stellt der GH fest, dass die Verwaltungsgerichte ihre Zuständigkeit zur Prüfung der Rechtsmittel des Bf. verneinten. Die Parteien konnten keine weitere gerichtliche oder verwaltungsrechtliche Entscheidung vorlegen, mit der über ein Rechtsmittel gegen die Verweigerung von Ausgang entschieden worden wäre. Die Feststellungen im Urteil Enea/I können auch aus diesem Grund nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden.

Es ist daher angesichts des Wortlauts des luxemburgischen Gesetzes und der Praxis betreffend den Ausgang von Gefangenen offensichtlich, dass der Bf. nicht vertretbarerweise behaupten kann, einen im innerstaatlichen Recht anerkannten »Anspruch« zu besitzen.

Überdies ist darauf hinzuweisen, dass die EMRK kein Recht auf Ausgang enthält und ein solches auch nicht aus dem internationalen Recht ableitbar ist. Zudem besteht zwischen den Mitgliedstaaten kein Konsens über die Gewährung von Ausgang.

Da sich der Bf. somit nicht auf einen im luxemburgischen Recht oder in der Konvention anerkannten »Anspruch« stützen kann, ist Art. 6 EMRK nicht anwendbar (5:2 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen Tulkens und Yudkivska).

Die Einrede der Regierung ist zuzulassen. Es hat somit keine Verletzung von Art. 6 EMRK stattgefunden (5:2 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen Tulkens und Yudkivska).

Anmerkung

Die II. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 14.12.2010 mit 4:3 Stimmen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt.

Vom GH zitierte Judikatur:

Szücs/A v. 24.11.1997 = NL 1997, 274 = ÖJZ 1998, 233

Ganci/I v. 30.10.2003

Vilho Eskelinen u.a./FIN v. 19.4.2007 (GK) = NL 2007, 94 = EuGRZ 2008, 35

Enea/I v. 17.9.2009 (GK) = NL 2009, 264

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.4.2012, Bsw. 37575/04 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 103) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Boulois.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.