JudikaturJustizBsw35991/04

Bsw35991/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Januar 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Kearns gegen Frankreich, Urteil vom 10.1.2008, Bsw. 35991/04.

Spruch

Art. 6 Abs 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Widerrufsfrist für die Freigabe eines Kindes zur Adoption.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 14 iVm. Art. 8 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist irische Staatsangehörige, lebt in Dublin und ist mit T. verheiratet. Im Februar 2002 suchte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und einem französischen Anwalt ein Spital in Frankreich zwecks anonymer Registrierung der bevorstehenden Geburt ihres Kindes auf. Am 18.2.2002 brachte sie dort ihre Tochter K. zur Welt, die einer außerehelichen Beziehung mit einem gewissen Herrn Byrski entstammt. Einen Tag später kam es zwischen der Bf. im Beisein ihrer Mutter und einer Krankenschwester, die als Übersetzerin fungierte, zu einer halbtägigen Unterredung mit Vertretern der lokalen Wohlfahrtsbehörde, in deren Verlauf sie über die Voraussetzungen und Folgen der anonymen Registrierung der Geburt belehrt wurde. Es wurde ihr ein amtliches Formular vorgelegt und sie über die Bestimmung des Art. L. 224-6 des Code de l'action sociale et des familles belehrt, wonach eine Mutter ihr Kind innerhalb einer Frist von zwei Monaten zurückverlangen könne. Die Bf. erklärte ihr Einverständnis, dass ihr Kind in behördliche Obhut genommen und zur Adoption freigegeben werde. Sie gab ferner an, ihr Kind entstamme einer außerehelichen Beziehung und sei vom Kindesvater nicht anerkannt worden.

Am nächsten Tag hatte die Bf. eine weitere längere Unterredung mit Vertretern der Wohlfahrtsbehörde, diesmal im Beisein eines Englisch sprechenden Arztes. Anfang Mai wurde K. ihren künftigen Adoptiveltern übergeben.

Am 25. bzw. 26.7.2002 suchte die Bf. die Wohlfahrtsbehörde erneut auf und begehrte die Rückgabe ihrer Tochter. Begründend führte sie aus, Herr Byrski habe mittlerweile von der anonymen Geburt ihrer Tochter erfahren und eine Klage auf Anerkennung seiner Vaterschaft bei den irischen Gerichten eingebracht. Ferner sei ihr Gatte nunmehr bereit, das Kind anzuerkennen. Ihr Begehren wurde mit dem Hinweis auf den Ablauf der Zwei-Monats-Frist abgewiesen.

Die Bf. wandte sich daraufhin an das örtliche Tribunal de grande instance und beantragte die Annullierung der Zustimmungserklärung, da sie die Konsequenzen der anonymen Registrierung der Geburt nicht habe abschätzen können, weil bei den Unterredungen kein Dolmetscher anwesend gewesen wäre.

Mit Urteil vom 31.10.2002 wies das Tribunal de grande instance den Antrag der Bf. unter anderem mit der Begründung ab, die Beiziehung eines amtlichen Dolmetschers sei gesetzlich nicht vorgesehen, außerdem sei sie ohnehin von einem Anwalt beraten worden. Die Bf. habe klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ihr Kind keine rechtlichen Beziehungen zu ihr unterhalten solle. Am 22.9.2003 wurde das Urteil vom Gericht zweiter Instanz aufgehoben. Es verwies auf das amtliche Formular, in dem ausdrücklich von zwei Fristen die Rede sei, nämlich zum einen die bereits erwähnte Zwei-Monats-Frist, zum anderen jedoch eine Frist von sechs Monaten in Fällen, in denen das Kind einen zweiten Elternteil habe, der dieses nicht der Wohlfahrtsbehörde übergeben habe. Da die Bf. der französischen Sprache nicht mächtig sei, konnten ihr die unterschiedlichen Rechtsfolgen der anonymen Registrierung der Geburt hinsichtlich ihrer Person und jener des biologischen Vaters nicht bekannt sein. Sie durfte daher berechtigterweise davon ausgehen, letztere Frist sei auf ihren Fall anwendbar.

Mit Urteil vom 6.4.2004 erklärte der Cour de cassation ein von der Staatsanwaltschaft erhobenes Rechtsmittel für zulässig. Art. L. 224-4 Z. 1 des Code de l'action sociale et des familles sehe vor, dass Kinder, deren Herkunft nicht feststellbar oder unbekannt sei und die den Wohlfahrtsbehörden über einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten anvertraut worden seien, automatisch als in behördliche Pflege übernommen anzusehen seien. Das Gericht zweiter Instanz habe mit seiner Rechtsauffassung gegen obige Bestimmung verstoßen, da es die Tatsache außer Acht gelassen habe, dass die Herkunft des Kindes mangels rechtlicher Anerkennung nicht erwiesen war, sodass eine Zustimmungserklärung seitens der Bf. zum Zeitpunkt der Übernahme in behördliche Obsorge nicht erforderlich gewesen sei. Das Urteil des Gerichts zweiter Instanz sei somit aufzuheben und das Begehren der Bf. zur Gänze abzuweisen gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet Verletzungen von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. bringt vor, die Frist von zwei Monaten iSd. Art. L. 224-6 des Code de l'action sociale et des familles sei zu kurz bemessen und stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht von Eltern und Kindern auf ein gemeinsames Leben im Familienverband dar. Ferner hätten die nationalen Behörden nicht alle notwendigen Schritte unternommen, um ihr die aus ihren Handlungen folgenden Implikationen verständlich zu machen. Schließlich habe sie keinen ausreichenden Beistand durch einen Übersetzer bekommen, um die einschlägigen gesetzlichen Fristen zu verstehen.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Die Beziehung zwischen der Bf. und ihrer Tochter fällt unter den Begriff des Familienlebens iSv. Art. 8 EMRK. Die Verweigerung der Rückgabe des Kindes basierte auf einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage, nämlich Art. 348-3 des Code civil iVm. Art. L. 224-6 des Code de l'action sociale et des familles, und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Rechte und Freiheiten des Kindes. Es ist zu prüfen, ob Frankreich im Zusammenhang mit dem Anliegen der Bf. seine positiven Verpflichtungen unter Art. 8 EMRK verletzt hat.

a) Zur Angemessenheit der Zwei-Monats-Frist:

Unter den Mitgliedstaaten des Europarates existiert keine einheitliche Adoptionsregelung. Dies gilt auch für Fristen, was die Zurücknahme der Zustimmung zur Freigabe zur Adoption anlangt. In manchen Staaten ist eine derartige Erklärung bis zur rechtskräftigen Adoptionsentscheidung zulässig, in anderen ist sie hingegen unwiderruflich. In jenen Ländern, die eine Frist für die Zurücknahme vorsehen, schwankt diese zwischen zehn Tagen und drei Monaten. Der GH nimmt in diesem Zusammenhang die von der Regierung vorgelegten Studien anerkannter Kinderrechtsexperten zur Kenntnis, wonach es im Interesse des Kindes sei, möglichst bald stabile emotionale Beziehungen innerhalb einer neuen Familie zu genießen. Auch das Tribunal de grande instance hat hervorgehoben, dass K. angesichts ihrer Situation psychologischen und rechtlichen Halts bedürfe. Zwar scheint die in Frage stehende Frist knapp bemessen zu sein, jedoch dürfte sie ausreichend sein, um der biologischen Mutter Gelegenheit zu geben, ihre Entscheidung über die Freigabe ihres Kindes zu überdenken. Der GH zeigt Verständnis für den psychischen Stress, den die Bf. erfahren musste, jedoch war sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt 36 Jahre alt, wurde von ihrer Mutter begleitet und hatte nach der Geburt zwei längere Unterredungen mit Vertretern der Wohlfahrtsbehörde.

Angesichts des Ermessensspielraums, den Staaten in Adoptionsangelegenheiten genießen, und der in diesem Bereich existierenden unterschiedlichen rechtlichen Systeme und Traditionen gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass die im französischen Recht vorgesehene Frist einen gerechten Ausgleich bzw. Schutz der widerstreitenden Interessen zu gewährleisten vermag. Die vom Kindesvater bei den irischen Gerichten eingebrachte Klage ist dabei ohne Belang. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

b) Zu den der Bf. gegebenen Informationen:

Was die der Bf. übermittelten Informationen hinsichtlich der gegenständlichen Widerrufsfrist angeht, schienen im amtlichen Formular zwei Fristen im Ausmaß von zwei bzw. sechs Monaten auf, die nach Ansicht des Gerichts zweiter Instanz Anlass zu Konfusion geben konnten. Die von der Bf. unterzeichnete Zustimmungserklärung lautete hingegen folgendermaßen: „Ich bestätige hiermit, dass ich darüber informiert worden bin, dass dieses Dokument nach einer Frist von zwei Monaten Rechtsgültigkeit erlangt und dass das Kind mir innerhalb dieses Zeitraums gemäß dem für den Widerruf der Zustimmung anzuwendenden Verfahren (Art. 348-3 Abs. 2 und 3 Code civil) zurückgegeben werden kann."

Aus Sicht der Bf. konnte somit kein Zweifel über die Frist, innerhalb der sie ihr Kind zurückverlangen könne, bestehen. Aus den dem GH vorliegenden Dokumenten geht ferner hervor, dass der Bf. ein Merkblatt über die relevanten Fristen und die Voraussetzungen für eine Rückgabe des Kindes sowie ein vorgefertigtes Formular für den Widerruf der Zustimmungserklärung ausgehändigt wurden. Die Bf. wurde somit von den französischen Behörden mit ausreichender und detaillierter Information hinsichtlich ihrer Situation versorgt. Sie gewährten ihr – vom Gesetz übrigens nicht vorgeschriebenen – sprachlichen Beistand und trugen dafür Sorge, dass sie so gründlich wie möglich über die Implikationen ihrer Vorgangsweise und die Frist und das Verfahren betreffend den Widerruf der Zustimmungserklärung informiert wurde.

Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass Frankreich seine positiven Verpflichtungen gegenüber der Bf. nicht verletzt hat. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. bringt vor, angesichts der Kürze der zweimonatigen Frist für den Widerruf der Zustimmungserklärung und wegen der unzureichenden Information darüber sei ihr das Recht auf Zugang zu einem effektiven Rechtsmittel verwehrt worden.

Der GH sieht mit Rücksicht auf seine Schlussfolgerungen zu Art. 8 EMRK keinen Anlass zu einer gesonderten Prüfung dieses Beschwerdepunkts (einstimmig).

Die Bf. bringt weiters vor, das Verfahren vor dem Cour de cassation sei nicht fair gewesen, da der Generalanwalt eine schriftliche Stellungnahme für die mündliche Verhandlung vorbereitet hatte, zu der sich ihr Rechtsanwalt nicht äußern konnte. Ferner habe der Cour de cassation, indem er das Urteil aufhob und in der Sache selbst entschied, ohne es an das Gericht zweiter Instanz zurückzuverweisen, die von der Bf. hinsichtlich der Unvereinbarkeit französischen Rechts mit der Konvention vorgebrachten Argumente vollkommen unberücksichtigt gelassen und außerdem einen von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Nichtigkeitsgrund zu Unrecht für zulässig erklärt.

Zum ersten Punkt hält der GH fest, dass die Bf. vor dem Cour de cassation durch einen beim Conseil d'Etat akkreditierten Anwalt vertreten war. Letzterer konnte von der bereits im Fall Reinhardt und Slimane-Kaïd/F skizzierten – nunmehrigen – Praxis Gebrauch machen, wonach der Generalanwalt die Anwälte der Parteien spätestens am Tag vor der Verhandlung vom Tenor seiner Stellungnahme in Kenntnis setzt und ihnen damit Gelegenheit zur Erwiderung entweder in mündlicher Form oder im Wege einer dem beratenden Gericht zu übermittelnden Note gibt. Der GH hat ausdrücklich festgehalten, dass eine derartige Praxis mit den Erfordernissen des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Einklang steht. Er sieht keinen Grund, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Zum zweiten und dritten Punkt ist zu sagen, dass der GH bereits im Fall Riha/F Gelegenheit hatte, sich zu der von der Bf. gerügten Vorgangsweise des Cour de cassation zu äußern. Im vorliegenden Fall war das von der Bf. unter anderem auf die Konvention gestützte Vorbringen Gegenstand detaillierter Erörterungen vor dem Tribunal de grande instance und dem Gericht zweiter Instanz. Nach Ansicht des GH verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht, dass diese Punkte nochmals von einem Rechtsmittelgericht nach erfolgter Zurückverweisung der Sache hätten geprüft werden müssen. Es ist auch keinerlei Anzeichen von Willkür seitens des – lediglich über Rechtsfragen entscheidenden – Cour de cassation aufgrund der Tatsache zu erkennen, dass dieser einen vom Staatsanwalt geltend gemachten Nichtigkeitsgrund für zulässig erklärt hat.

Dieser Beschwerdepunkt ist somit gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK:

Die Bf. bringt vor, sie sei aufgrund ihrer englischen Muttersprache diskriminiert worden.

Der GH vermag keinerlei Anzeichen einer Diskriminierung zu erkennen, wurde der Bf. doch sprachlicher Beistand gewährt, der im Gesetz nicht vorgesehen ist. Dieser Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Reinhardt und Slimane-Kaid/F v. 31.3.1998; ÖJZ 1999, 151.

Odievre/F v. 13.2.2003; NL 2003, 27; EuGRZ 2003, 584; ÖJZ 2005, 34.

Riha/F v. 24.6.2004 (ZE).

V. S./D v. 22.5.2007 (ZE).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.1.2008, Bsw. 35991/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 5) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_1/Kearns.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.