JudikaturJustizBsw35115/97

Bsw35115/97 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. November 2000

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Riepan gegen Österreich, Urteil vom 14.11.2000, Bsw. 35115/97.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, § 229 StPO - Öffentlichkeit eines Strafverfahrens.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 (1) EMRK stellt für sich selbst eine ausreichende Entschädigung für den immateriellen Schaden des Bf. dar (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. verbüßt nach seiner Verurteilung wegen Mordes und Einbruchs seit 1987 eine 18jährige Freiheitsstrafe. Diese Freiheitsstrafe wurde zunächst in der Justizanstalt Graz-Karlau vollzogen. Dem Bf. gelang 1991 zwar ein Ausbruch, er wurde jedoch innerhalb eines Tages wieder gefasst. Im September 1994 wurde er nach Stein und am 8.5.1995 schließlich nach Garsten überstellt, da befürchtet wurde, dass er mit anderen Insassen erneut einen Ausbruch plante. Der Bf. war mit seiner Überstellung nach Garsten nicht einverstanden. Er kündigte gegenüber Angehörigen der Gefängnisverwaltung an, dass er und weitere Insassen in Garsten Feuer legen würden. In weiterer Folge kündigte er einem Beamten den "Privatbesuch" eines seiner Bekannten an, einem anderen empfahl er "ihm nicht den Rücken zuzuwenden". Aufgrund dieser Zwischenfälle wurde gegen den Bf. ein Verfahren wegen gefährlicher Drohung eingeleitet.

Das LG Steyr beschloss, die Verhandlung am 29.1.1996 um 8 Uhr 30 im – ohne spezielle Genehmigung nicht zu betretenden - "Gesperre" der Justizanstalt Garsten (ca. 5 km von Steyr entfernt) abzuhalten. Es wurden vier Zeugen, die der Bf. bedroht haben soll, gehört. Über eine mangelnde Öffentlichkeit des Verfahrens beschwerten sich zu diesem Zeitpunkt weder der Bf. noch sein Verteidiger. Der Bf. wurde wegen gefährlicher Drohung zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen erhob er Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe. Er brachte vor, dass die Verhandlung nicht öffentlich gewesen sei, da nur Personen mit spezieller Erlaubnis Zugang zum "Gesperre" hatten. Am 5.7.1996 wies das OLG Linz die Berufung ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Grundsatz der Öffentlichkeit), da die Hauptverhandlung im "Gesperre" der Justizanstalt Garsten stattfand.

Zur Frage der Öffentlichkeit der Verhandlung in der Justizanstalt Garsten:

A.) War das Verfahren im "Gesperre" der Justizanstalt Garsten öffentlich?

Der öffentliche Charakter von Verfahren vor gerichtlichen Entscheidungsorganen schützt die Verfahrensbeteiligten gegen eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz. Die Gewährleistung der Öffentlichkeit ist auch ein Mittel, das Vertrauen in die Gerichte, gleich welcher Instanz, zu erhalten. Dadurch, dass er das Verfahrensgeschehen sichtbar macht, trägt der Grundsatz der Öffentlichkeit dazu bei, den Zweck des Art 6 (1) EMRK zu verwirklichen, nämlich ein faires Verfahren sicherzustellen. Es ist unbestritten, dass die Öffentlichkeit nicht formell vom Verfahren ausgeschlossen war. Jedoch kann ein tatsächliches Hindernis genauso konventionswidrig sein wie ein rechtliches. Ein Verfahren erfüllt nur dann das Erfordernis der Öffentlichkeit, wenn es möglich ist, Informationen über seinen Ort und die Zeit zu erfahren, und der Ort, an dem es stattfindet, leicht zugänglich ist. In den meisten Fällen wird dies durch die einfache Tatsache erfüllt sein, dass die Verhandlung in einem gewöhnlichen Gerichtssaal stattfindet. Das Abhalten einer Verhandlung an anderen Orten, wie etwa in einer Justizanstalt, stellt eine ernsthafte Hürde für die Öffentlichkeit dar. In solchen Fällen ist der Staat verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Medien und die Öffentlichkeit über Zeit und Ort der Verhandlung informiert werden und diese auch zugänglich gemacht wird. Es ist daher zu prüfen, ob solche Maßnahmen im vorliegenden Fall ergriffen wurden.

Der wöchentliche Verhandlungsspiegel über alle stattfindenden Verhandlungen enthielt einen Hinweis darauf, dass die Verhandlung in Garsten stattfindet. Er wurde den Medien übermittelt und war auch für die allgemeine Öffentlichkeit am LG Steyr zugänglich. Von diesen Routineankündigungen abgesehen, wurden jedoch keine besonderen Maßnahmen ergriffen. Darüber hinaus waren auch die Umstände, unter denen die Verhandlung stattfand, für die Anwesenheit der Öffentlichkeit nicht förderlich: es fand früh am Morgen statt und das in einem Raum, der zwar nicht zu klein, aber dennoch nicht wie ein normaler Gerichtssaal ausgestattet war. Zusammenfassend wird festgestellt, dass das LG Steyr adäquate Maßnahmen unterlassen hat, um die nachteilige Wirkung der Verhandlung im "Gesperre" der Justizanstalt Garsten auf den öffentlichen Charakter des Verfahrens auszugleichen. Daraus folgt, dass diese Verhandlung nicht den Erfordernissen von Art. 6 (1) EMRK entsprach.

B.) War der Mangel an Öffentlichkeit durch in Art. 6 (1) Satz 2 EMRK genannte Gründe gerechtfertigt?

Der vorliegende Fall kann nicht mit dem des Urteils Campbell Fell/GB verglichen werden, in dem festgestellt wurde, dass die öffentliche Durchführung eines Disziplinarverfahrens für Strafgefangene den Behörden eine unverhältnismäßige Last auferlegen würde. Zwar können gewöhnliche Strafverfahren auch oft Sicherheitsprobleme aufwerfen, die Fälle, die einen Ausschluss der Öffentlichkeit rechtfertigen könnten, sind jedoch selten. Obwohl im es vorliegenden Fall einige Bedenken hinsichtlich der Sicherheit gegeben hat, fand das LG Steyr diese nicht ausreichend, um die Öffentlichkeit gemäß § 229 StPO formal auszuschließen. C.) Wurde der Mangel an Öffentlichkeit in erster Instanz durch das öffentliche Rechtsmittelverfahren geheilt?

Was die von der Reg. geltend gemachte Rspr. des GH anbelangt, so muss sie in ihrem eigenen Zusammenhang gesehen werden. Diese Urteile zielten auf Streitigkeiten ab, denen das innerstaatlichen Recht nicht zivil- oder strafrechtliche, sondern disziplinar- oder verwaltungsrechtliche Natur zusprach; sie bezogen sich auf Organe, die nach nationaler Einstufung nicht als klassische Gerichte angesehen wurden, weil sie in die ordentlichen Gerichtsstrukturen des Landes nicht eingegliedert waren. Ohne die Autonomie der Begriffe Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen und strafrechtliche Anklage hätte der GH nicht auf die Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK geschlossen.

Im gegenständlichen Fall handelt es sich sowohl entsprechend der innerstaatlichen Rechtsordnung als auch der Konvention um ein Strafverfahren. Der GH hat bereits festgestellt, dass im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts ein dem erstinstanzlichen Verfahren anhaftender Fehler nicht im Nachhinein bereinigt werden kann. Unter Berücksichtigung der möglichen nachteiligen Wirkung eines nicht öffentlichen Strafverfahrens auf dessen Fairness, konnte dieser Mangel durch nichts anderes behoben werden als durch eine erneute vollständige Verhandlung vor dem OLG. Das OLG hatte zwar eine vollständige Überprüfungsbefugnis in Sachwie auch Rechtsfragen und konnte auch die Strafe neu festsetzen, aber abgesehen von einer neuerlichen Anhörung des Bf. hat es keine Beweise aufgenommen. Vor allem wurden die Zeugen nicht noch einmal gehört. Es ist hier nur von geringer Bedeutung, dass der Bf. dies nicht beantragt hatte. Erstens hätte das OLG die Zeugen nur dann noch einmal angehört, wenn es gegenüber der auf ihre Aussagen gegründeten Feststellungen im Urteil erster Instanz Bedenken gehegt hätte. Zweitens ist es Aufgabe der Gerichte, die Beweisaufnahme bei einer öffentlichen Verhandlung zu gewährleisten. Der Mangel an Öffentlichkeit im Verfahren vor dem LG Steyr wurde daher durch die öffentliche Verhandlung vor dem OLG Linz nicht behoben. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 (1) EMRK stellt für sich selbst eine ausreichende Entschädigung für den immateriellen Schaden des Bf. dar (einstimmig).

Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Campbell Fell/GB, Urteil v.

28.6.1984, A/80 (= EuGRZ 1985, 534); De Cubber/B, Urteil v.

26.10.1984, A/86 (= EuGRZ 1985, 507).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.11.2000, Bsw. 35115/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 223) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/00_6/Riepan.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.