JudikaturJustizBsw31950/06

Bsw31950/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. Oktober 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Graziani-Weiss gg. Österreich, Urteil vom 18.10.2011, Bsw. 31950/06.

Spruch

Art. 4 EMRK, Art. 14 EMRK - Keine Zwangs- oder Pflichtarbeit bei Verpflichtung eines Rechtsanwalts als Sachwalter.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 4 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Rechtsanwalt. Im Juli 2005 wurde er vom BG Linz darüber informiert, dass beabsichtigt sei, ihn als Sachwalter für den an einer Geisteskrankheit leidenden K. zu bestellen. Der Bf. legte eine Stellungnahme vor, wonach ihm sein Beruf, sein Familienleben und seine Freizeitaktivitäten nicht erlauben würden, eine weitere Verpflichtung zu übernehmen. Weiters sei er nicht dafür ausgebildet, mit an einer Geisteskrankheit leidenden Menschen wie K. umzugehen. Darüber hinaus würde seine Berufsversicherung nicht die Risiken tragen, die im Zusammenhang mit einer Sachwalterschaft stünden.

Durch Beschluss des BG Linz vom 15.9.2005 wurde der Bf. als Sachwalter für K. im Hinblick auf dessen Einkommensangelegenheiten und gerichtliche und behördliche Vertretung eingesetzt. Das Gericht war der Ansicht, dass keine andere Person, wie beispielweise ein Verwandter, dafür geeignet sei. Der Verein für Sachwalterschaft habe nicht die Kapazitäten, einen solchen bereitzustellen. Der Bf. war die nächste Person auf der Liste möglicher Sachwalter. Diese Liste, die vom BG Linz geführt wird, enthält die Namen aller Rechtsanwälte und Notare im Bezirk. Das Gericht war außerdem der Meinung, dass die vom Bf. vorgebrachten Gründe nicht ausreichend seien, um eine Ablehnung zu rechtfertigen. Das Gericht hielt weiterhin fest, dass die Pflicht von Rechtsanwälten als Sachwalter tätig zu sein, keine Zwangsarbeit darstelle, da die Unterstützung von schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft eine Bürgerpflicht, das Hilfeleisten bei juristischen Sachverhalten für praktizierende Rechtsanwälte ein Teil ihrer beruflichen Hauptpflicht und dies mit einer üblichen Bürgerpflicht iSd. Art. 4 Abs. 2 EMRK vergleichbar sei.

Der Bf. legte gegen diese Entscheidung Rekurs beim LG Linz mit dem Argument ein, dass es diskriminierend sei, nur Rechtsanwälte und Notare auf die Liste zu setzen, da auch andere Personen Rechtskenntnisse hätten, wie beispielsweise Richter, Beamte mit einem rechtswissenschaftlichen Studium oder in Unternehmen beschäftigte Rechtsanwälte. Er behauptete weiters, dass die ihm auferlegten Arbeiten keine besonderen Rechtskenntnisse erforderten, da jede erwachsene Person ihr Einkommen verwalten könne; außerdem stehe kein Gerichtsverfahren an, in dem K. Partei ist, und daher sei es nicht notwendig, ihm einen praktizierenden Rechtsanwalt als Sachwalter beizuordnen.

Am 15.12.2005 bestätigte das LG Linz die Entscheidung des BG Linz. Der Bf. wandte sich daraufhin an den OGH, der am 7.3.2006 den Revisionsrekurs abwies, da er keine bedeutende Rechtsfrage aufwerfe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur Zulässigkeit

Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus anderen Gründen unzulässig ist, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Der Bf. behauptet, die Pflicht als Sachwalter tätig zu sein, verletze das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit.

Allgemeine Grundsätze

Die Konvention enthält keine Definition des Begriffs "Zwangs- oder Pflichtarbeit". Im Fall Van der Mussele/B hat der GH diesbezüglich auf die ILO Konvention Nr. 29 zurückgegriffen. Im Sinne dieser Konvention bedeutet Zwangs- oder Pflichtarbeit "jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter der Androhung von Strafe gefordert wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat".

Im Fall Van der Mussele, der die Pflicht eines Rechtspraktikanten zur Übernahme von Pflichtverteidigungen ohne Entlohnung betraf, entwickelte der GH Maßstäbe für die Beurteilung, was als gewöhnlich angesehen wird im Hinblick auf die den Mitgliedern bestimmter Berufsgruppen obliegenden Pflichten. Diese Maßstäbe berücksichtigen, ob die erbrachten Dienstleistungen außerhalb des Rahmens der üblichen beruflichen Tätigkeiten der betroffenen Person liegen, ob die Dienstleistungen entlohnt werden oder nicht, ob sie einen zwingenden Charakter beinhalten, ob die Verpflichtung auf einem Konzept von gesellschaftlicher Solidarität beruht und ob die auferlegte Last unverhältnismäßig ist.

Anwendung im vorliegenden Fall

Im vorliegenden Fall wurde nicht bestritten, dass die Verweigerung der Übernahme einer Sachwalterschaft strafrechtliche Sanktionen für Rechtsanwälte und Notare hervorrufen kann. Daher besteht ein Element einer "Androhung von Strafe«. Der GH wird daher prüfen, ob der Bf. sich für die fragliche Arbeit »freiwillig zur Verfügung" gestellt hat. Er merkt dabei an, dass der Bf. sich darüber im Klaren hätte sein müssen, als er sich dafür entschied, Rechtsanwalt zu werden, dass er zu einer Sachwalterschaft verpflichtet werden kann. Bei einer solchen Entscheidung besteht somit ein Element vorheriger Einwilligung in derartige Tätigkeiten. Dies allein ist jedoch noch nicht ausreichend, um eine Zwangsarbeit iSd. Art. 4 Abs. 2 EMRK im Fall des Bf. zu verneinen.

Die Vertretung von Personen vor Gerichten und Behörden sowie die Verwaltung des Eigentums einer Person stellen keine Leistungen dar, die nicht im Rahmen der gewöhnlichen Tätigkeiten eines Rechtsanwalts liegen. Sachwalter haben grundsätzlich Anspruch auf Entlohnung. Nur für den Fall, dass die betreffende Person keine ausreichenden Mittel hat, besteht kein solcher Anspruch. Jedoch kommen der Berufsgruppe der Rechtsanwälte und Notare bestimmte Privilegien gegenüber anderen Berufsgruppen zu, wie das Recht auf Vertretung von Personen bei Gerichtsverfahren. Der Bf. hat auch nicht behauptet, dass eine erhebliche Anzahl von Fällen besteht, in denen er als Sachwalter für K. tätig sein musste oder dass diese Tätigkeit besonders zeitaufwendig oder kompliziert ist. Somit erscheint die Last des Bf. nicht unverhältnismäßig.

Der GH stellt somit fest, dass die dem Bf. aufgetragenen Tätigkeiten keine Zwangs- oder Pflichtarbeit darstellen. Es liegt folglich keine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK vor (einstimmig).

Daher muss auch nicht geprüft werden, ob die umstrittenen Verpflichtungen als "übliche Bürgerpflichten" anzusehen sind, die vom Begriff der Zwangs- und Pflichtarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK ausgenommen sind.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK

Der Bf. behauptet, die Pflicht praktizierender Rechtsanwälte und Notare, als Sachwalter tätig sein zu müssen, verletze Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK.

Es wurde nicht bestritten, dass Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK im vorliegenden Fall Anwendung findet.

Diskriminierung bedeutet die unterschiedliche Behandlung von Personen in ähnlichen Situationen ohne objektive und begründete Rechtfertigung.

Nachdem der GH festgestellt hat, dass die Verpflichtung zu einer Sachwalterschaft keine Zwangs- oder Pflichtarbeit iSd. Art. 4 Abs. 2 EMRK bedeutet, muss er nun prüfen, ob die Begrenzung dieser Tätigkeit auf Rechtsanwälte und Notare und deren Mitarbeiter eine diskriminierende Behandlung ist.

Der GH wiederholt, dass die Verpflichtung für Rechtsanwälte und Notare, als Sachwalter tätig zu sein, nur dann maßgeblich wird, wenn der jeweilige Fall Rechtskenntnis erfordert oder wenn keine Verwandten oder Mitglieder des Vereins für Sachwalterschaft für eine solche Tätigkeit verfügbar sind.

Der GH bejaht die Tatsache, dass es eine unterschiedliche Behandlung darstellt, dass nur Rechtsanwälte und Notare als Sachwalter bestellt werden, jedoch nicht auch andere Personen mit Rechtskenntnissen. Es ist nun zu erörtern, ob diese unterschiedlichen Berufsgruppen sich in ähnlichen Situationen befinden.

Für Rechtsanwälte stellt die Vertretung ihrer Klienten vor Gerichten und Behörden die Hauptaufgabe dar. Für diese Aufgaben sind sie besonders ausgebildet und sie müssen eine Prüfung ablegen, bevor sie ihren Beruf ausüben dürfen. In der Erfüllung ihrer beruflichen Pflichten sind sie dem Gesetz unterworfen. Anwälte müssen sich gegen Schadenersatzforderungen versichern, die während ihrer beruflichen Tätigkeiten anfallen. Nur Anwälte, Notare, Richter und Beamte der Finanzprokuratur mit Anwaltsprüfung sind von der Pflicht eines Rechtsbeistandes bei Anwaltszwang befreit. Andere Personen mit einem rechtswissenschaftlichen Studium und möglicherweise mit einer speziellen juristischen Ausbildung, die aber nicht als praktizierende Anwälte tätig sind, sind nicht zur Vertretung von Parteien vor Gericht im Fall von Anwaltszwang berechtigt. Darüber hinaus ist es möglich, dass solche Personen trotz einer juristischen Ausbildung nicht im rechtlichen Bereich arbeiten.

Der GH stellt daher fest, dass es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen der Berufsgruppe der praktizierenden Anwälte, deren Rechte und Pflichten durch spezielle Gesetze und Vorschriften geregelt sind, und der Gruppe anderer Personen, die zwar ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert und sogar eine juristische Ausbildung erhalten haben, aber nicht als praktizierende Rechtsanwälte arbeiten.

Der GH stellt somit zusammenfassend fest, dass im Hinblick auf eine Sachwalterschaft in Fällen, in denen eine Vertretung notwendig ist, die Berufsgruppe der Rechtsanwälte und Notare einerseits und die anderer Personen mit einer juristischen Ausbildung andererseits sich nicht in ähnlichen Situationen befinden.

Es liegt somit keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Van der Mussele/B v. 23.11.1983 = EuGRZ 1985, 477

Karlheinz Schmidt/D v. 18.7.1994 = NL 1994, 325 = EuGRZ 1995, 392 = ÖJZ 1995, 148

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Zarb Adami/M v. 20.6.2006 = NL 2006, 147

Stummer/A v. 7.7.2011 (GK) = NL 2011, 215

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.10.2011, Bsw. 31950/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 303) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_5/Graziani-Weiss.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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