JudikaturJustizBsw28923/95

Bsw28923/95 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Juli 2001

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Lamanna gegen Österreich, Urteil vom 10.7.2001, Bsw. 28923/95.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, § 2 Abs. 1 lit. b StEG - Unschuldsvermutung und Haftentschädigung.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig). Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: ATS 75.135,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 11.3.1993 wurde der Bf., ein frz. Staatsangehöriger, von der belg. Polizei in Brüssel aufgrund eines vom LG Salzburg am 14.5.1992 ausgestellten internationalen Haftbefehls festgenommen. Der Bf. wurde des versuchten Mordes verdächtigt. Nach seiner Auslieferung wurde am 2.7.1993 in Salzburg die Untersuchungshaft über ihn verhängt. Mit Urteil des Geschworenengerichtes beim LG Salzburg vom 10.10.1994 wurde der Bf. der gegen ihn wegen der Verbrechen des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB und des schweren Raubes nach §§ 142 (1), 143 zweiter Fall StGB und des Vergehens nach § 36 (1) Z. 1 WaffG 1986 erhobenen Anklage gemäß § 336 StPO freigesprochen. Vom Vorwurf des versuchten Mordes wurde der Bf. in dubio pro reo freigesprochen. Der Bf. hatte sich bis zur Hauptverhandlung am 10.10.1994 in Auslieferungs- und Untersuchungshaft befunden.

Nachdem die Anklagebehörde zum Urteil keine Erklärung abgegeben hatte, stellte der Verteidiger noch in der öffentlichen Verhandlung den Antrag auf Zuerkennung einer Haftentschädigung. Die Staatsanwaltschaft sprach sich dagegen aus, der Bf. schloss sich dem Vorbringen seines Verteidigers an. Im Anschluss an die öffentliche Verhandlung über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch fasste das Geschworenengericht beim LG Salzburg in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss, dass dem Bf. ein Ersatzanspruch gemäß § 2 (1) (b) StEG für seine durch die strafgerichtliche Anhaltung entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile (mangels Entkräftung des Tatverdachtes) nicht zustehe, und wies den Antrag ab. Die sofortige Kundmachung dieses Beschlusses wurde unterlassen, weil das freisprechende Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen war. Nach Eintritt der Rechtskraft des Geschworenengerichtsurteils wurde eine Ausfertigung des Beschlusses vom 10.10.1994 dem Verteidiger des Bf. zugestellt. Dessen Bsw. gab das OLG Linz (gleichfalls in nichtöffentlicher Sitzung) mit Beschluss vom 1.2.1995 nicht Folge. Aufgrund einer vom Generalprokurator eingebrachten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes stellte der OGH am 9.11.2000 wegen der Unterlassung der öffentlichen Verkündung des Beschlusses eines Geschworenengerichtes beim LG Salzburg vom 10.10.1994 gemäß § 2 (1) (b) StEG sowie des Nichtbeanstandens bzw. Behebens dieses Mangels durch öffentliche Verkündung anlässlich der Beschlussfassung durch das OLG Linz vom 1.2.1995 eine Verletzung von § 6 (4) StEG iVm. Art. 6 (1) EMRK fest. Dem OLG Linz wurde aufgetragen, den Beschluss vom 1.2.1995 in öffentlicher Sitzung zu verkünden. Diesem Auftrag wurde am 9.2.2001 entsprochen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf öffentliche Urteilsverkündung) und Art. 6 (2) EMRK (Grundsatz der Unschuldsvermutung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Der Bf. bestreitet nicht, dass der Beschluss des OLG Linz vom 1.2.1995 am 9.2.2001 schließlich öffentlich verkündet wurde. Er hätte jedoch auch das Recht auf eine öffentliche Verkündung des erstinstanzlichen Beschlusses gehabt.

Die Reg. räumt ein, dass die Gerichtsbeschlüsse anfänglich nicht öffentlich verkündet wurden, bestreitet aber eine Konventionsverletzung, da durch das Urteil des OGH vom 9.11.2000 dem OLG Linz eine öffentliche Verkündung aufgetragen wurde und diese am 9.2.2001 auch erfolgte.

Der GH erinnert an die bereits in den Urteilen Szücs/A und Werner/A festgestellte Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK auf Verfahren nach dem StEG. Im vorliegenden Fall wurde der Beschluss des LG Salzburg vom 10.10.1994 nicht sofort kundgemacht, da das freisprechende Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen war. Auch der Beschluss des OLG Linz vom 1.2.1995 wurde erst nach dem Urteil des OGH vom 9.11.2000 schließlich am 9.2.2001 öffentlich verkündet. Unter Berücksichtigung des gesamten Entschädigungsverfahrens stellt der GH fest, dass der durch Art. 6 (1) EMRK bezweckten öffentlichen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen durch die öffentliche Verkündung des Beschlusses des OLG Linz Genüge getan wurde. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (2) EMRK:

Der Bf. behauptet, dass die Begründung des LG Salzburg und des OLG Linz bei der Abweisung seines Entschädigungsbegehrens aus dem Grund, dass der Verdacht gegen ihn nicht entkräftet worden sei, den in Art. 6 (2) EMRK festgelegten Grundsatz der Unschuldsvermutung verletze. Die Reg. brachte vor, dass der vorliegende Fall vom Urteil Sekanina/A unterschieden werden müsse. Dort sei entscheidend gewesen, dass die über die Entschädigung entscheidenden Gerichte die Frage, ob der Verdacht gegen den Angeklagten entkräftet worden sei, auf der Grundlage der Akten untersucht haben, womit sie die Beweiswürdigung der Geschworenen durch ihre eigene ersetzt hätten.

Der GH erinnert an das Urteil Asan Rushiti/A, in dem er den im Wesentlichen gleichlautenden Einwand der Reg. verworfen hat. Sobald ein Freispruch rechtskräftig ist, ist jeder Ausdruck eines Schuldverdachts mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar. Der GH sieht keinen Anlass, von den im genannten Urteil gemachten Feststellungen abzuweichen. Das LG Salzburg (wie auch das OLG Linz) stellten im Entschädigungsverfahren nach dem rechtskräftigen Freispruch des Bf. fest, dass der Tatverdacht nicht entkräftet sei und brachten somit Zweifel an seiner Unschuld zum Ausdruck. Verletzung von Art. 6 (2) EMRK (einstimmig).

Vgl. die vom GH zitierte Judikatur:

Sekanina/A v. 25.8.1993, A/266-A (= NL 1993/5, 20 = ÖJZ 1993, 816).

Szücs/A v. 24.11.1997 (= NL 1997, 274 = ÖJZ 1998, 233).

Werner/A, Urteil v. 24.11.1997 (= NL 1997, 276 = ÖJZ 1998, 233).

Asan Rushiti/A, Urteil v. 21.3.2000 (= NL 2000, 55 = ÖJZ 2001, 155).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.7.2001, Bsw. 28923/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2001, 147) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/01_4/Lamanna.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.