JudikaturJustizBsw28034/04

Bsw28034/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. September 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Müller gegen Österreich (Nr. 2), Urteil vom 18.9.2008, Bsw. 28034/04.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 4 7. Prot EMRK - Ne bis in idem nach Einstellung der Vorerhebungen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung

von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig)

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der übrigen

Beschwerdepunkte (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.500,– für immateriellen Schaden; € 1.670,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Eigentümer und Geschäftsführer der Baufirma M. in Wien. Am 10.10.1997 fiel ein Arbeiter dieser Firma von einem Gerüst (welches jedoch einer anderen Baufirma gehörte) und verstarb einige Tage später.

Daraufhin leitete der Bezirksanwalt Vorerhebungen gegen den Bf. wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB ein. Am 27.3.1998 stellte er die Erhebungen ein.

Am 31.3.1998 erließ der Magistrat der Stadt Wien ein Straferkenntnis gegen den Bf. als Geschäftsführer der Firma M. Er wurde zu einer Geldstrafe wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 130 Abs. 1 Z. 16 Arbeitnehmerschutzgesetz in Verbindung mit diversen Bestimmungen der Bauarbeiterschutzverordnung verurteilt. Der Magistrat befand, dass der Bf. seine Verpflichtungen betreffend die Beschaffenheit, die Aufstellung, die Benutzung, die Prüfung oder die Wartung von Arbeitsmitteln missachtet hatte und am betreffenden Gerüst die Sicherheitsgitter an drei Seiten fehlten und an der vierten Seite nicht ordentlich gesichert waren.

Am 31.3.1998 legte der Bf. Berufung beim UVS Wien ein. Er beantragte die Aufhebung des Straferkenntnisses, da durch die Durchführung des Verwaltungsstrafverfahrens das Doppelbestrafungsverbot verletzt werde.

Am 20.6.2000 hob der UVS das Straferkenntnis des Magistrats auf. Mit Verweis auf die Rechtsprechung des VfGH zu Art. 4 7. Prot. EMRK stellte der UVS fest, dass das Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 80 StGB und das Verfahren gemäß § 130 Abs. 1 Z. 16 Arbeitnehmerschutzgesetz in Verbindung mit der Bauarbeiterschutzverordnung im Wesentlichen dasselbe Tatverhalten betreffen würden.

Am 25.8.2000 brachte der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit eine Beschwerde gegen die Entscheidung des UVS beim VwGH ein. Der UVS habe übersehen, dass kein Strafverfahren gegen den Bf. durchgeführt worden sei. Der Bezirksanwalt habe seine Vorerhebungen eingestellt, da die Gründe für eine Anklage nicht ausreichend gewesen wären. Das Prinzip des ne bis in idem käme daher nicht zur Anwendung. Am 26.4.2002 hob der VwGH die Entscheidung des UVS vom 20.6.2000 auf. Der VwGH begründete, dass das Prinzip des ne bis in idem nicht berührt sei, wenn der Ankläger die Vorerhebungen gemäß § 90 StPO einstellt.

Nach mündlichen Verhandlungen am 16.10. und 13.12.2002 entschied der UVS am 11.2.2003 über die Berufung des Bf. und bestätigte das Straferkenntnis des Magistrats. Der UVS vermerkte, dass das Gerüst einer anderen Firma gehört habe, aber der Bf. als Verantwortlicher kein ordnungsgemäßes Kontrollsystem, mit dem die Sicherheit der von den Bauarbeitern verwendeten Materialien überprüft hätte werden können, vorgesehen hätte. Der Bf. sei daher für die Nichterfüllung der Sicherheitsbestimmungen verantwortlich.

Am 11.6.2003 erhob der Bf. Beschwerde beim VfGH wegen Verletzung des Prinzips des ne bis in idem. Am 23.9.2003 lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde mangels Erfolgsaussichten ab. Am 19.12.2003 lehnte auch der VwGH die Behandlung der Beschwerde aus denselben Gründen ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer), Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot), Art. 2 7. Prot. EMRK (Recht auf Rechtsmittel in Strafsachen) und von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Der Bf. bringt vor, sein Recht auf ein faires Verfahren sei durch die unangemessen lange Verfahrensdauer verletzt worden.

1. Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet, noch liegt ein anderer Unzulässigkeitsgrund vor. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Der vom GH zu berücksichtigende Zeitraum begann am 31.3.1998 und endete am 19.12.2003. Das Verfahren dauerte somit circa fünf Jahre, acht Monate und zwei Wochen.

Der GH wiederholt, dass für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer stets die Umstände des Einzelfalls anhand der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Bf. und jenes der zuständigen Behörden zu berücksichtigen sind. Im vorliegenden Fall waren die Fragen, über welche die Behörden und Gerichte zu entscheiden hatten, nicht so komplex, dass sie eine derart lange Verfahrensdauer rechtfertigen würden. In Bezug auf das Verhalten des Bf. ist der GH der Ansicht, dass dieser nicht zur Dauer des Verfahrens beigetragen hat. Bezüglich des Verhaltens der Behörden stellt der GH fest, dass der VwGH über einen Zeitraum von einem Jahr und acht Monaten untätig war, nämlich von 25.8.2000 bis 26.4.2002. In Bezug darauf und auf die gesamte Verfahrensdauer kommt der GH zu dem Schluss, dass der Fall nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wurde.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von Art. 6

Abs. 1 EMRK vorliegt (einstimmig).

Zur den übrigen Beschwerdepunkten:

Der Bf. behauptet eine Verletzung des Doppelbestrafungsverbots gemäß Art. 4 7. Prot. EMRK.

Der GH stellt fest, dass die Anklage gegen den Bf. im Strafverfahren, nämlich sein Versäumnis, einem Arbeitsunfall vorzubeugen, und der Vorwurf im Verwaltungsstrafverfahren, die Kontrolle der Beachtung der Sicherheitsregeln durch die Arbeiter verabsäumt zu haben, im Wesentlichen übereinstimmen. Der GH wiederholt, dass Art. 4 7. Prot. EMRK darauf abstellt, die Wiederholung eines Strafprozesses zu verbieten, der bereits durch eine endgültige Entscheidung abgeschlossen wurde.

Nach dem Wortlaut der StPO dienen Voruntersuchungen dazu, Sachverhalt und Tatverdacht soweit zu klären, dass die Staatsanwaltschaft über Anklage, Rücktritt von der Verfolgung oder Einstellung des Verfahrens entscheiden kann. Das Zurücklegen einer Anzeige durch den Staatsanwalt im vorliegenden Fall kann nicht als endgültige Entscheidung betrachtet werden. Dieser Beschwerdepunkt ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Der Bf. rügt weiters das Fehlen einer Überprüfung durch eine höhere Instanz. Er bringt vor, dass die Prüfung des VwGH unzureichend war, da er nicht als richterlicher Spruchkörper mit voller Kognitionsbefugnis angesehen werden könne.

Der GH wiederholt, dass die Vertragsstaaten den Umfang der Überprüfung durch eine höhere Instanz nach Art. 2 7. Prot. EMRK durch nationales Recht einschränken können. Die Nachprüfung kann sich entweder auf Tatsachenfeststellungen und Rechtsfragen beziehen oder, wie in vielen Mitgliedstaaten des Europarats, auf Rechtsfragen beschränkt sein. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Umfang der Überprüfung unzureichend in Hinblick auf Art. 2 7. Prot. EMRK gewesen wäre.

Dieser Beschwerdepunkt wird nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen (einstimmig). Der Bf. behauptet weiters eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK, weil er sich gemäß § 5 Abs. 1 VStG rechtfertigen musste, obwohl die Beweislast eigentlich der Anklagebehörde zukommen müsse. Der GH stellt fest, dass gemäß § 5 Abs. 1 VStG vermutet wird, dass eine Person, welche gegen ein Verbot verstoßen hat, zumindest fahrlässig gehandelt hat, solange sie ihre Schuldlosigkeit nicht beweisen kann. Gesetzliche Regelungen, die unter bestimmten rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen eine Vermutung der Schuld des Angeklagten begründen, sind nicht zwingend mit Art. 6 Abs. 2 EMRK unvereinbar. Die Rechte der Verteidigung müssen aber gewährleistet sein.

Im vorliegenden Fall hatte der Bf. die Gelegenheit zu zeigen, dass er ein effektives Kontrollsystem errichtet hat, um zu gewährleisten, dass die bei der Firma M. angestellten Arbeiter über Sicherheitsregeln informiert sind und dementsprechend vorgehen. Die österreichischen Behörden haben die von Art. 6 Abs. 2 EMRK gesetzte Grenze nicht überschritten.

Die Beschwerde ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.500,– für immateriellen Schaden; € 1.670,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.9.2008, Bsw. 28034/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 260) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_5/Mueller.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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