JudikaturJustizBsw21563/12

Bsw21563/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. Oktober 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Rivard gg. die Schweiz, Urteil vom 4.10.2016, Bsw. 21563/12.

Spruch

Art. 4 7. Prot. EMRK - Führerscheinentzug nach verhängter Geldstrafe wegen Schnellfahrens verletzt nicht das Prinzip ne bis in idem.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im April 2010 war der Bf. auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von 132 km/h unterwegs, obwohl die Höchstgeschwindigkeit auf diesem Streckenabschnitt nur 100 km/h betrug. Am 6.7.2010 wurde vom Strafamt der Kantonspolizei Genf eine Geldstrafe in der Höhe von CHF 600,– (umgerechnet € 546,81) wegen Verstoßes gegen die Art. 27, 32 und 90 SVG (Anm: Straßenverkehrsgesetz vom 19.12.1958.) iVm. Art. 4a und 45 der Verkehrsregelnverordnung 1962 über ihn verhängt. Der Bf. bezahlte die Geldstrafe.

Am 2.9.2010 ordnete die Verkehrsabteilung des Kantons Waadt als verwaltungsstrafrechtliche Sanktion den Entzug des Führerscheins des Bf. für die Dauer eines Monats an, nachdem sie die vom Strafamt geahndeten Verstöße als »mittelschwere Widerhandlung« iSv. Art. 16b SVG eingestuft hatte (Anm: Das Schweizer Recht sieht bei der Ahndung von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung sowohl ein straf- als auch ein verwaltungsstrafrechtliches Verfahren vor (sog. duales System)). Ein Einspruch des Bf. gegen diese Entscheidung wurde abgewiesen, das dagegen erhobene Rechtsmittel an das Kantonsgericht des Kantons Waadt blieb erfolglos.

Der Bf. wandte sich daraufhin an das Bundesgericht und behauptete unter Berufung auf das Urteil des EGMR im Fall Sergey Zolotukhin/RUS eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK, da sich die verwaltungsbehördliche Sanktion auf dieselben Fakten gegründet habe, aufgrund derer bereits seine strafrechtliche Verurteilung zu einer Geldstrafe erfolgt sei. Letzteres wies seine Beschwerde mit Urteil vom 26.9.2011 unter anderem mit dem Hinweis ab, dass der EGMR bereits über die Dualität des verwaltungsstraf- und des strafrechtlichen Verfahrens bei Straßenverkehrsdelikten abgesprochen habe (Anm: Demnach verletzt der verwaltungsbehördlich angeordnete Entzug des Führerscheins im Anschluss an eine auf denselben Tatsachen beruhende strafrechtliche Verurteilung Art. 4 7. Prot. EMRK nicht, weil die verwaltungsbehördliche Maßnahme unmittelbar und vorhersehbar aus der strafrechtlichen Verurteilung erfließt, sie also nur deren Konsequenz ist (vgl. Nilsson/S und R. T./CH). Die verwaltungsstrafrechtliche Maßnahme muss insofern als Ergänzungsstrafe zur strafrechtlichen Verurteilung verstanden werden, deren integraler Bestandteil sie ist.).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot), da er zwei Mal wegen derselben Tatsachen, nämlich Übertretung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, strafrechtlich verfolgt und verurteilt worden sei.

(18) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur Frage des strafrechtlichen Charakters der zweiten Sanktion

(23) Der GH muss zuerst darüber entscheiden, ob das Verfahren betreffend den Führerscheinentzug als »strafrechtlich« iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK qualifiziert werden kann. [...]

(24) In diesem Zusammenhang weist der GH darauf hin, dass keine der Parteien den strafrechtlichen Charakter des Führerscheinentzugs in Frage stellt. Dieser wurde übrigens auch vom Bundesgericht anerkannt. Außerdem hatte der GH bereits unter ähnlichen Umständen wie im gegenständlichen Fall Gelegenheit zur Feststellung, dass – mag auch der Entzug des Führerscheins im [nationalen] Recht [des belangten Staates] traditionellerweise als verwaltungsbehördliche Maßnahme zum Schutz der Verkehrssicherheit angesehen werden – dieser dem »strafrechtlichen« Bereich iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK zuzuordnen ist (vgl. Nilsson/S). In dieser Hinsicht möchte er auf die potenzielle Schwere dieser Maßnahme hinweisen, die bis zur Abnahme des Führerscheins für unbestimmte Zeit gehen kann.

Zur Frage, ob der Bf. zwei Mal wegen derselben »strafbaren Handlung« (idem) verfolgt wurde

(25) In ihrem Urteil im Fall Sergey Zolotukhin/RUS hat die Große Kammer den Ansatz des GH bezüglich der Frage, ob der Bf. zwei Mal wegen Begehung derselben »strafbaren Handlung« (idem) verfolgt worden war, harmonisiert. Sie wies darauf hin, dass »[...] (82) Art. 4 7. Prot. EMRK dahingehend verstanden werden muss, dass er es verbietet, eine Person wegen einer zweiten ›strafbaren Handlung‹ zu verfolgen oder zu verurteilen, wenn diese auf identischen Tatsachen oder auf Tatsachen beruht, welche im Wesentlichen dieselben sind; (83) die in Art. 4 7. Prot. EMRK verankerte Garantie dann ins Spiel kommt, wenn eine neue Verfolgung in Gang gesetzt wird und die vorherige Entscheidung, lautend auf Freispruch oder Verurteilung, Rechtskraft erlangt hat [...] [und] (84) der GH aus diesem Grund seine Prüfung auf jene Tatsachen konzentrieren muss, welche die Gesamtheit der konkreten faktischen Umstände darstellen und dieselbe ›strafbare Handlung‹ miteinschließen, wobei zwischen diesen sowohl zeitlich als auch örtlich ein untrennbarer Zusammenhang bestehen muss. [...]«

(26) Der GH hat sich folglich auf die Identität der Tatsachen und nicht auf deren rechtliche Qualifikation zu beziehen. In diesem Prüfungsstadium spielt es daher nur eine geringe Rolle, welche Art von Sanktionen – strafrechtliche oder verwaltungsstrafrechtliche – verhängt wurden.

(27) Im vorliegenden Fall wurde der Bf. zu einer Geldstrafe wegen Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit verurteilt. Im Anschluss daran wurde ihm der Führerschein wegen ein und derselben Übertretung (Geschwindigkeitsüberschreitung) entzogen. Somit kann kein Zweifel daran bestehen, dass die den beiden Verfahren zugrunde liegenden Tatsachen identisch waren – was übrigens auch von den Parteien nicht bestritten wird.

Zur Frage einer wiederholten Verfolgung (bis)

(28) Der Bf. wurde zum ersten Mal am 6.7.2010 vom Strafamt der Kantonspolizei Genf zur Zahlung einer Geldstrafe wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit verurteilt. Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft, nachdem der Bf. den zu zahlenden Betrag entrichtet hatte. In der Folge ordnete die Verkehrsabteilung des Kantons Waadt am 2.9.2010 aus denselben Gründen (Überschreitung der gesetzlich erlaubten Höchstgeschwindigkeit) den Entzug des Führerscheins des Bf. an.

(29) Unter vergleichbaren Umständen wie den dem vorliegenden Fall zugrunde liegenden hatte der GH bereits Gelegenheit zur Klarstellung, dass – wenn die über den Betroffenen verhängten diversen Sanktionen von zwei unterschiedlichen Behörden nach zwei verschiedenen Verfahren verhängt wurden – zwischen beiden Sanktionen ein ausreichend enges inhaltliches und zeitliches Band existiert, sodass man den Führerscheinentzug als eine der vom nationalen Recht zur Ahndung von Verkehrsdelikten vorgesehenen Maßnahmen ansehen könnte (vgl. Boman/FIN). [...]

(30) Der GH vermerkt weiters, dass in Sergey Zolotukhin/RUS der zu wählende Ansatz im Fall der Identität der »strafbaren Handlung« (idem) geklärt wurde. Auf die Frage des Vorliegens eines einzigen Verfahrens ist er jedoch kaum eingegangen, sodass daraus auch keine Rückschlüsse gezogen werden können, ob eine Wiederholung der strafrechtlichen Verfolgung (bis) vorlag. Der GH sieht daher keinen Grund, von den Prinzipien seiner früheren Rechtsprechung abzugehen.

(31) Im gegenständlichen Fall fehlte dem Strafrichter die Kompetenz zur Verhängung einer Verwaltungsstrafe, während der Verwaltungsstrafbehörde vice versa keine Zuständigkeit zur Auferlegung einer strafrechtlichen Sanktion zukam. Jeder dieser Behörden steht ein Spektrum von unterschiedlichen Sanktionen zur Verfügung, die sich nicht überschneiden. Außerdem kann die Verwaltungsbehörde vom Urteil des Strafrichters nur unter gewissen eingeschränkten Voraussetzungen abweichen, etwa wenn es um die Feststellung von Fakten geht, von denen der Strafrichter nicht wusste – was vorliegend nicht der Fall war. Folglich kommt das »Koordinationsprinzip« bei Straf- und Verwaltungsstrafverfahren zur Anwendung. Zwischen den Verfahren existierte ein inhaltliches Band, was zur Folge hatte, dass die Schlussfolgerungen der einen Behörde direkte Auswirkungen auf den möglichen Ausgang des Verfahrens der anderen Behörde haben konnten. Der Entzug des Führerscheins ist insofern als zusätzliche Strafe anzusehen, welche die strafrechtliche Verurteilung ergänzte. [...] Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil vom 26.9.2011 eingehend mit diesem Punkt, der Übereinstimmung des einschlägigen Schweizer Systems mit der Konvention und der Rechtsprechung des GH auseinandergesetzt.

(32) Für den GH existiert auch ein enges zeitliches Band zwischen beiden Verfahren, da der von der Verwaltungsstrafbehörde ausgesprochene Entzug des Führerscheins kurz nach Vollstreckbarkeit der über den Bf. verhängten Geldstrafe wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erfolgte. Zur Frage übrigens, dass der Bf. über die Einleitung des Verwaltungsstrafverfahrens erst nach Zahlung der Geldstrafe informiert wurde, bemerkt der GH, dass das zweistufige System in der Schweiz mit dem Straßenverkehrsgesetz 1959 eingeführt wurde und Gegenstand einer konstanten Rechtsprechung bzw. regelmäßiger politischer Debatten war. Dieses System ist somit weitgehend bekannt.

(33) Diese Elemente reichen für den GH aus, um zu dem Schluss zu gelangen, dass zwischen dem Verwaltungsstrafverfahren und dem Strafverfahren ein ausreichend enges inhaltliches und zeitliches Band existierte, sodass sie als zwei Aspekte eines einzelnen Systems angesehen werden können. Von einer Zweigleisigkeit des Verfahrens iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK kann somit keine Rede sein.

(34) Aus dem angefochtenen Entzug des Führerscheins kann daher nicht abgeleitet werden, dass der Bf. wegen einer »strafbaren Handlung« verfolgt oder bestraft wurde, für deren Begehung er bereits einmal mit rechtskräftigem Urteil iSd. Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK verurteilt worden war. [Es ist somit keine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK erfolgt (einstimmig).]

Vom GH zitierte Judikatur:

R. T./CH v. 30.5.2000 (ZE)

Nilsson/S v. 13.12.2005

Sergey Zolotukhin/RUS v. 10.2.2009 (GK) = NL 2009, 37

Boman/FIN v. 17.2.2015

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.10.2016, Bsw. 21563/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 463) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Rivard.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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