JudikaturJustiz9ObA85/90

9ObA85/90 – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. Mai 1990

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Kuderna als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Gamerith und Dr.Jelinek sowie die fachkundigen Laienrichter Hon.-Prof.Dr.Gottfried Winkler und Reinhold Ludwig als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Luitgard K***, Raumpflegerin, Kapfenberg, Rechte Mürzzeile 6, vertreten durch Dr.Robert Obermann, Rechtsanwalt in Kapfenberg, wider die beklagte Partei B*** Gesellschaft mbH, Kapfenberg, Mariazeller Straße 25, vertreten durch Dr.Michael Meyenburg, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kündigungsanfechtung (Streitwert S 300.000,--), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16.November 1989, GZ 8 Ra 80/89-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. April 1989, GZ 21 Cga 317/88-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben und die Arbeitsrechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Urteilsfällung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Klägerin war seit 1983 bei der beklagten Partei als Aufräumerin beschäftigt. Sie hatte von 14.00 Uhr bis 22.00 Uhr zu arbeiten und war mit Reinigungsaufgaben im Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes der beklagten Partei betraut. Insgesamt hatte sie 33 Büroräume, 4 WC-Anlagen, 3 Gänge, einen Stiegenaufgang und einen Aufzug täglich zu reinigen. Zweimal jährlich wurden die Fenster geputzt.

Im Jahr 1983 waren noch 4 Aufräumerinnen im Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes der beklagten Partei eingesetzt. Diese Anzahl wurde laufend reduziert und Ende 1988 war nur mehr die Klägerin gemeinsam mit einer weiteren Aufräumerin im Erdgeschoß eingesetzt. Die Reinigungsarbeiten wurden auf Grund der Personalrekuktion jetzt nicht mehr so genau verrichtet wie noch vor einigen Jahren, als noch mehr Personal vorhanden war.

Die Klägerin reinigte den ihr zugeteilten Bereich immer ordentlich. Wiederholt wurde ihr ausdrücklich aufgetragen, anstelle ausgefallener Kolleginnen auch Reinigungsarbeiten außerhalb ihres unmittelbaren Aufgabenbereiches zu verrichten; diesen Aufträgen kam sie jedoch nicht nach, sondern arbeitete statt dessen in dem ihr zugeteilten Bereich weiter. Die von ihr nicht verrichteten Arbeiten mußten von anderen Reinigungsfrauen übernommen werden. Sie begründete ihre Weigerung, für ausgefallene Kolleginnen die Arbeit mitzuverrichten, damit, daß sie in ihrem eigenen Bereich so viel Arbeit habe und nicht alles bewältigen könne. Sie wurde vom zuständigen Abteilungsleiter nie verwarnt.

Die Klägerin ersuchte ihre unmittelbaren Vorgesetzten wiederholt wenige Minuten vor Dienstbeginn um Urlaub, der ihr jeweils gewährt wurde.

Die Klägerin leidet an schweren rezidivierenden Lumbalgien, ausgeprägter saisonaler allergischen Konjunktivitis und Bronchitis. Sie war in den Jahren 1986 bis 1988 an insgesamt 27 % der möglichen Arbeitstage im Krankenstand (zu den genauen Urlaubszeiten und den krankheitsbedingten zahlreichen Absenzen siehe im einzelnen S. 4 des Ersturteils).

Wenn die Klägerin nicht arbeitete, mußte die zweite im Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes der beklagten Partei eingesetzte Aufräumerin den Aufgabenbereich der Klägerin mitversehen. Die beklagte Partei teilte dem Betriebsrat im November 1988 die Absicht mit, die Klägerin zu kündigen; der Betriebsrat widersprach nicht. Am 16.11.1988 wurde die Klägerin von der beklagten Partei zum 31.12.1988 gekündigt. Für sie wurde keine Nachfolgerin eingestellt, sondern es wurde das Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes in der Folge nur mehr von einer Aufräumerin gereinigt.

Mit Bescheid des Landesinvalidenamtes für Steiermark vom 27.12.1988 wurde festgestellt, daß die Klägerin ab 1.12.1988 dem Kreis der begünstigten Invaliden angehört.

Die 1938 geborene Klägerin ist verheiratet und hat für einen 12jährigen Sohn, der die Schule besucht, zu sorgen; vier größere Kinder sind bereits versorgt. Ihr Ehemann ist Werksarbeiter der beklagten Partei und verdient inklusive Überstundenentgelt monatlich ca. S 14.000 bis S 15.000 netto. Die Klägerin bewohnt eine Mietwohnung. Für Renovierungsmaßnahmen an dieser Wohnung und die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen nahm sie Kredite von insgesamt S 350.000 auf; die monatlichen Rückzahlungsraten bei der PSK-Bank betragen S 4.356; der Mietzins beträgt S 1.245. Der letzte Stundenlohn der Klägerin betrug S 61. Der Bezug des Arbeitslosengeldes für die Dauer von 209 Wochen ist der Klägerin nicht möglich, weil sie nicht die hiefür notwendigen Beschäftigungswochen aufweist.

Die Klägerin ficht mit der vorliegenden Klage die Kündigung als sozialwidrig an, weil durch den Einkommensausfall bei starker privater finanzieller Belastung ihre Interessen wesentlich beeinträchtigt seien.

Die beklagte Partei beantragt Klagsabweisung. Sie wendet ein, die Weiterbeschäftigung der Klägerin sei wegen häufiger und lang andauernder Krankenstände betrieblich nicht zumutbar; die Klägerin führe nur ihr zusagende, nicht aber die ihr zugewiesenen Arbeiten aus; sie pflege kurzfristig tageweise Urlaub in Anspruch zu nehmen und bei Nichtgewährung "in den Krankenstand zu flüchten"; schließlich sei aus Rationalisierungsgründen auch beim Reinigungspersonal ein Abbau erforderlich.

Das Erstgericht stellte fest, daß das Dienstverhältnis zwischen den Streitteilen weiterbestehe.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschied, S 30.000 übersteige. Es vertrat die Rechtsmeinung, daß der Entfall des Einkommens der Klägerin von monatlich brutto rund S 10.500 ihre Interessen im Sinn des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG wesentlich beeinträchtige, weil dadurch das Familieneinkommen von zusammen rund S 22.000 netto ohne Berücksichtigung allfälligen Arbeitslosengeldbezuges um ca. 30 % sinke. Zwar fehlten zu den von der beklagten Partei behaupteten personenbezogenen Kündigungsgründen (ausufernde Krankenstände und Arbeitsminderleistung) Feststellungen, und zwar darüber, ob im Zeitpunkt der Kündigung der Krankenstand noch andauerte, wie sich die Krankenstandslage voraussichtlich künftig gestalten werde sowie ob der beklagten Partei die Minderleistungsfähigkeit bei der Einstellung oder im Verlauf des Arbeitsverhältnisses erkennbar gewesen sei und sie diese ausdrücklich oder stillschweigend akzeptiert habe; das Fehlen derartiger Feststellungen schade jedoch aus rechtlichen Gründen nicht.

Was den betriebsbezogenen Kündigungsgrund (Abbau von Reinigungspersonal aus Rationalisierungsgründen) anlange, sei zwar nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme erster Instanz festgestanden, daß der Arbeitsplatz der Klägerin ersatzlos aufgelassen wurde; dies wäre der typische Fall eines betriebsbezogenen Kündigungsgrundes. Die beklagte Partei habe aber in zweiter

Instanz - zulässigerweise neu vorgebracht, daß die Situation im Zeitpunkt der Kündigung der Klägerin nur ein Übergangsstadium gewesen sei und schon vor dem 26.4.1989 (Schluß der Verhandlung erster Instanz) alle Arbeitsplätze im Reinigungsbereich von Dienst- auf Werkvertrag umgestellt gewesen seien. Darin liege zwar eine in der wirtschaftlichen Gestaltungsfreiheit des Betriebsinhabers begründete Maßnahme, die dann, wenn hiedurch wesentliche Arbeitnehmerinteressen beeinträchtigt werden, die entgegengesetzte Pflicht des Betriebsinhabers zur Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die bisherigen Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen, auslöse. Daß solche Gestaltungsmöglichkeiten nicht bestanden hätten, sei von der für das Vorliegen des Kündigungsgrundes beweispflichtigen beklagten Partei nicht einmal behauptet worden. Es fehle auch ein Vorbringen und Beweisanerbieten der beklagten Partei darüber, daß sich durch die Maßnahmen im Reinigungsbereich zu Ende 1988/Beginn 1989 ein notwendiger, deutlicher und ins Gewicht fallender Kostenabbau habe erzielen lassen. Bloß unbedeutende Kostenverringerungen würden den betriebsbezogenen Kündigungsgrund nicht verwirklichen. Da ein solches Vorbringen von der nunmehr qualifiziert vertretenen Berufungswerberin nicht einmal angedeutet worden sei, sei es nicht notwendig, zur Sachentscheidung die neu angebotenen Beweise aufzunehmen. Es sei vielmehr davon auszugehen, daß die beklagte Partei den Arbeitsbereich der Klägerin nicht aufgelassen, sondern nur in anderer Weise organisiert habe, ohne hiefür hinreichende betriebsbezogene Gründe angeben zu können. Unterstelle man eine vollständige Tatsachenentscheidungsgrundlage und damit die personenbezogenen Kündigungsgründe - überzogene Krankenstände; subjektiv bedingte Minderleistung - als gegeben, so fiele die erforderliche Abwägung der Interessen der Klägerin am Erhalt des Arbeitsplatzes und jene der beklagten Partei an der Einsetzbarkeit einer voll arbeitsfähigen und leistungsbereiten Aufräumerin zum Nachteil der beklagten Partei insbesondere deshalb aus, weil die die Klägerin belastenden Absenzen und Leistungseinschränkungen unverschuldet und daher milder zu beurteilen seien. Das Interesse der beklagten Partei - eines Großunternehmers mit großer Variabilität in der Arbeitnehmerverwendung eine Arbeitnehmerin loszuwerden, die nicht in der Lage sei, die durchschnittlich zu erwartende Leistung zu erbringen, sei geringer als das Interesse dieser Arbeitnehmerin, ihren Arbeitsplatz bei einem sonst durch Arbeitslosigkeit verursachten erheblichen Einkommensabfall zu behalten. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Eventualantrages berechtigt. Die beklagte Partei macht mit Recht geltend, daß das Berufungsverfahren mangelhaft geblieben ist, weil das Berufungsgericht über die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung erkannt hat, obwohl sie erlaubterweise, nämlich weil sie in erster Instanz nicht qualifiziert vertreten war (§ 63 ASGG), Neuerungen vorgebracht und hiefür Beweise angeboten hat, deren Aufnahme sie ausdrücklich beantragt hat. Der Antrag auf Aufnahme von neuen Beweisen impliziert den Antrag auf Anordnung einer mündlichen Berufungsverhandlung. Unterbleibt eine solche und entscheidet das Berufungsgericht über die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung, liegt eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens vor, die jedenfalls zur Aufhebung des Berufungsurteils und Rückverweisung an das Berufungsgericht führen muß (JBl 1988, 472; auch 9 Ob A 97/89 und 9 Ob A 44/90).

Das Berufungsgericht durfte die Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung auch nicht deshalb ablehnen, weil es der Meinung war, die beklagte Partei hätte kein geeignetes Vorbringen und Beweisanbot zu dem neu geltend gemachten betriebsbezogenen Kündigungsgrund (aus Rationalisierungsgründen erforderliche Betrauung einer Fremdfirma mit den Reinigungsarbeiten) erstattet. War es dieser Meinung, hätte es dennoch eine mündliche Berufungsverhandlung anzuberaumen und die beklagte Partei, auch wenn sie nunmehr qualifiziert vertreten war, zu einem ihrer Meinung nach ausreichenden Vorbringen und Beweisanbot anzuleiten gehabt (§ 182 ZPO).

Im Hinblick auf das zulässige und auch rechtlich erhebliche Neuvorbringen, dessen Gewichtigkeit im derzeitigen Stadium des Verfahrens nicht absehbar ist - Voraussetzungen der Beachtlichkeit wird jedenfalls eine nicht unbeträchtliche Kostenverringerung sein -, kann der Oberste Gerichtshof wegen der nach § 105 Abs 3 ArbVG notwendigen Interessenabwägung (vgl. insb. RdW 1989, 199) im derzeitigen Stand des Verfahrens zu den übrigen Revisionsgründen noch nicht Stellung nehmen. Festzuhalten ist aber bereits jetzt, daß bei der Interessenabwägung auch der nunmehr geltend gemachte betriebsbezogene Kündigungsgrund (Betrauung einer Fremdfirma aus notwendigen Rationalisierungsgründen) zu beachten und ebenso wie die zu den geltend gemachten personenbezogenen Kündigungsgründen getroffenen Feststellungen dem Interesse der Klägerin an der Weiterbeschäftigung unter Bedachtnahme auf § 105 Abs 3 Z 2 letzter Satz ArbVG gegenüberzustellen ist. Im fortgesetzten Verfahren wird das Berufungsgericht auch die von ihm als fehlend angesehenen Feststellungen im Zusammenhang mit den personenbezogenen Kündigungsgründen nachzuholen bzw. Unklarheiten aufzuklären haben, weil nur auf Grund einer vollständigen Tatsachengrundlage eine sachgerechte Interessenabwägung möglich ist.

Eine Aufhebung des Ersturteils zur Verhandlung und Entscheidung über das neue Vorbringen ist nicht statthaft (Kuderna, ASGG 353). Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Rechtssätze
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