JudikaturJustiz8ObA84/23w

8ObA84/23w – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Februar 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei T*, vertreten durch Mag. Monika Keki-Angermann, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17–19, wegen 8.050,20 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 50.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. September 2023, GZ 10 Ra 65/23m 16, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 1. Februar 2023, GZ 35 Cga 75/22p 11, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Der am * 1971 geborene Kläger absolvierte von 3. 8. 1987 bis 2. 8. 1990 eine Lehre als Lackierer. Er war danach ab 3. 8. 1990 – unterbrochen durch Präsenzdienstzeiten – als Lackierer bei verschiedenen Unternehmen beschäftigt und bezog auch Arbeitslosengeld, Krankengeld und Notstandshilfe. Seit 1. 9. 1999 steht er in einem Dienstverhältnis zur Beklagten.

[2] Die Beklagte berücksichtigte im Zuge der Anstellung bei Berechnung des Vorrückungsstichtags Zeiten des Präsenzdienstes von sechs Monaten und 18 Tagen und „sonstige Zeiten“ nach der Vollendung des 18. Lebensjahres pauschal mit einem Jahr und sechs Monaten, was den 13. 8. 1997 als Vorrückungsstichtag ergab. Der Kläger erhob dagegen keine Einwände.

[3] Im Zuge der amtswegigen Neufestsetzung der besoldungsrechtlichen Stellung nach § 94b VBG idF BGBl I 2019/58 beantragte der Kläger „die Anrechnung meiner Zeiten in der Privatwirtschaft gemäß § 12 Abs 2 Z 1a GehG“ und übermittelte dazu zwei Dienstgeberbestätigungen sowie einen Versicherungsdatenauszug aus seinem Pensionskonto.

[4] Am 3. 2. 2022 erhielt er die „Mitteilung über die Neufestsetzung der besoldungsrechtlichen Stellung“. Sowohl Präsenzdienst als auch „sonstige Zeiten“ wurden im selben Ausmaß wie zuvor angerechnet. Als Vergleichsstichtag war daher wiederum der 13. 8. 1997 angegeben.

[5] Der Kläger begehrt im Wesentlichen die Anrechnung seiner Beschäftigungszeiten als Lackierer einschließlich des Lehrverhältnisses vor und nach seinem 18. Geburtstag sowie die Zahlung der sich daraus ergebenden Entgeltdifferenz für den Zeitraum 1. 9. 2019 bis Februar 2023. Er habe während dieser Zeit die idente bzw gleichwertige Tätigkeit wie bei der Beklagten ausgeübt. Der Vergleichsstichtag bzw diskriminierungsfrei berechnete Vorrückungsstichtag sei daher wesentlich früher anzusetzen. § 94c Abs 3 Z 5 VBG, nach dem Lehrverhältnisse zu einer inländischen Gebietskörperschaft erst bei Eintritt des Vertragsbediensteten in das Dienstverhältnis nach dem 31. 3. 2000 anzurechnen seien, sei unionsrechtswidrig, weil eine Altersdiskriminierung vorliege. Auch fehle es an einer sachlichen Rechtfertigung, warum Lehrzeiten außerhalb einer Gebietskörperschaft schlechter gestellt würden. Die in § 94c Abs 6 VBG vorgesehene Bindung der Personalstelle an eine frühere Entscheidung greife unionsrechtswidrig in ein bereits entstandenes Recht des Klägers ein.

[6] Die Beklagte bestreitet und bringt im Wesentlichen vor, dass der aus Anlass der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 amtswegig zu ermittelnde Vergleichsstichtag richtig berechnet worden sei. Eine Unionsrechtswidrigkeit oder Altersdiskriminierung liege nicht vor.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Für die nach Vollendung des 18. Lebensjahres zurückgelegten Zeiten greife die Bindungswirkung des § 94c Abs 6 VBG, weil diese bereits bei der bei Dienstantritt erfolgten Festsetzung des Vorrückungsstichtags berücksichtigt worden seien. Eine Anrechnung der vor Vollendung des 18. Lebensjahres absolvierten Lehrzeit komme gemäß § 94c Abs 3 Z 5 VBG nicht in Betracht. Die Lehre als Ausbildungszeit sei auch keine „gleichwertige Berufstätigkeit“ nach § 94c Abs 3 Z 3 iVm § 26 Abs 2 Z 1a VBG. Es handle sich daher um „sonstige Zeiten“. Diese seien gemäß § 94c Abs 3 Z 4 und Abs 4 VBG bis zum Höchstausmaß von sieben Jahren zur Hälfte, sohin mit einem Jahr und sechs Monaten, ohnehin angerechnet worden. Da die Berechnung der besoldungsrechtlichen Stellung des Klägers den unionsrechts- und verfassungskonformen Bestimmungen der §§ 94b und 94c VBG entspreche, sei ein Feststellungsinteresse des Klägers zu verneinen.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers gegen diese Entscheidung nicht Folge. Zeiten eines Lehrverhältnisses vor Vollendung des 18. Lebensjahres stellten keine „gleichwertige Berufstätigkeit“ iSd § 26 Abs 2 Z 1a VBG dar. § 26 Abs 2 Z 4 lit d VBG idF BGBl I Nr 96/2007 habe bereits vor der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 nur für Neueintritte ab 1. 4. 2000 (Dienstrechts-Novelle 2000, BGBl I 2000/94) gegolten. Es bestünden aber keine verfassungsrechtlichen oder unionsrechtlichen Bedenken gegen diese zeitliche Differenzierung. Es handle sich daher um „sonstige Zeit“ iSd § 94c Abs 3 Z 4 VBG. Zeiten des Lehrverhältnisses nach Vollendung des 18. Lebensjahres seien auch nach der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 als „sonstige Zeiten“ anzurechnen. Für die Zeiten der Dienstverhältnisse als Lackierer nach Vollendung des 18. Lebensjahres liege eine bindende Vorentscheidung nach § 94c Abs 6 VBG vor. Eine neuerliche Beurteilung habe daher zu unterbleiben. Die Sonderbestimmung des § 94c Abs 3 Z 3 lit b VBG kommt nicht zur Anwendung. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liege nicht vor. Auch diese Zeiten seien daher als „sonstige Zeiten“ zur Hälfte zu berücksichtigen.

[9] Die Anrechnung sei von der Beklagten nach § 94c Abs 3 Z 4 und Abs 4 VBG (Hälfteanrechnung von sieben Jahren unter Abzug der ersten vier Jahre) vorgenommen worden. Unionsrechtliche Bedenken gegen diese Regelungen bestünden nicht.

[10] Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zu ge lassen, weil der Auslegung des § 94c Abs 6 VBG, insbesondere im Zusammenhang mit § 94c Abs 3 Z 3 VBG ebenso wie der Beurteilung der mit der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 festgelegten zeitlichen Grenzen der Anrechnung sonstiger Zeiten vor dem Hintergrund einer jüngst ergangenen Entscheidung des EuGH eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomm e.

[11] Gegen diese richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass der Klage stattgegeben wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[14] 1. Der erkennende Senat hat zu einem vergleichbaren Sachverhalt in der Entscheidung vom 17. 11. 2023, GZ 8 ObA 47/23d, rechtlich Stellung genommen und ausgeführt:

„1. Der EuGH sprach zu C-88/08, Hütter, aus, dass die damalige österreichische Rechtslage, nach welcher bei der Festlegung des Besoldungsdienstalters von Vertragsbediensteten die Berücksichtigung von vor Vollendung des 18. Lebensjahrs liegenden Dienstzeiten ausgeschlossen war, gegen Art 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verstößt, was eine Änderung des österreichischen Vertragsbedienstetengesetzes erforderlich gemacht hat.

2. Später ordnete der Gesetzgeber der 2. Dienstrechts-Novelle 2019, BGBl I 58/2019, mit § 94b Abs 1 VBG eine Neueinstufung jener Vertragsbediensteten an, deren Vorrückungsstichtag unter Ausschluss der Anrechnung der vor dem 18. Geburtstag zurückgelegten Zeiten festgesetzt wurde. Nach § 94c Abs 2 Z 1 VBG ist für die Ermittlung des Vergleichsstichtags die Bestimmung des § 26 Abs 1 Z 2 lit b VBG idF der 2. Dienstrechts-Novelle 2007, BGBI I 96/2007, anzuwenden, wonach bestimmte sonstige Zeiten bis zu drei Jahren zur Gänze und bis zu weiteren drei Jahren zur Hälfte anzurechnen sind. Abweichend von diesen Bestimmungen sind sonstige Zeiten, die bis zum Höchstausmaß von drei Jahren zur Hälfte zu berücksichtigen sind, nach § 94c Abs 3 Z 4 VBG bis zum Höchstausmaß von sieben Jahren zur Hälfte zu berücksichtigen, nach § 94c Abs 4 VBG aber bei der Ermittlung des Vergleichsstichtags nur insoweit voranzustellen, als sie das Ausmaß von vier zur Hälfte zu berücksichtigenden Jahren übersteigen.

3. Der Oberste Gerichtshof hat zu 9 ObA 94/20v und 9 ObA 31/21f ausgesprochen, dass mit § 94c Abs 4 VBG keine Altersdiskriminierung verbunden sei, weil diese Vorschrift 'sonstige Zeiten' unabhängig von ihrer Lage im Lebensalter des Vertragsbediensteten betreffe und auch Zeiten nach dem 18. Lebensjahr erfasst seien. Auch der Verfassungsgerichtshof hat zu G 63/2022 von der Behandlung des Antrags, § 94c Abs 4 VBG als verfassungswidrig aufzuheben, mangels Aussicht auf Erfolg abgesehen. Im Gegensatz dazu hatte der VwGH zu Ra 2020/12/0068 Bedenken an der Unionsrechtskonformität der § 94c Abs 4 VBG entsprechenden Regelung in § 169g Abs 4 GehG, weil die beschränkte Anrechnung dazu führe, dass Dienstnehmer, die ihre sonstigen Zeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt haben, keine Verbesserung ihrer besoldungsrechtlichen Stellung erfahren würden, und leitete deshalb ein Vorabentscheidungsverfahren ein.

4. Nunmehr hat der EuGH zu C-650/21, Landespolizeidirektion Niederösterreich und Finanzamt Österreich, ausgesprochen, dass Art 1, 2 und 6 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG in Verbindung mit Art 21 der Grundrechtecharta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der ein Besoldungssystem, das für diskriminierend befunden wurde, weil nur nach Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegte Vordienstzeiten berücksichtigt wurden, durch die Ermittlung eines Vergleichsstichtags korrigiert wird, bei dem die zur Hälfte zu berücksichtigenden 'sonstigen Zeiten' zwar von drei auf sieben Jahre angehoben wurde, aber nur insoweit anzurechnen sind, als sie vier Jahre übersteigen. Nach Ansicht des EuGH wird die zur Hälfte erfolgende Berücksichtigung der im Alter von 14 bis 18 Jahren zurückgelegten anrechenbaren Zeiten durch den in § 169g Abs 4 GehG 2020 vorgesehenen Pauschalabzugs von vier Jahren neutralisiert, sodass Beamte, die nur über solche vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegte Zeiten verfügen, trotz der Anhebung der Obergrenze der zu berücksichtigenden Zeiten um vier Jahre wohl keinen Anspruch auf eine wesentliche Verbesserung ihrer besoldungsrechtlichen Stellung haben. Eine solche Rechtslage scheint daher nicht geeignet zu sein, ein diskriminierungsfreies System zu schaffen, sondern vielmehr die durch das frühere System geschaffene Diskriminierung wegen des Alters festzuschreiben.

5. Der Gesetzgeber hat auf diese Entscheidung des EuGH mittlerweile dadurch reagiert, dass die verfahrensgegenständlichen Anrechnungsbestimmungen in § 94c Abs 3 Z 4 und Abs 4 VBG mit BGBl I 137/2023 dahin geändert wurden, dass sonstige Zeiten, die nicht zur Gänze dem Tag der Anstellung voranzustellen sind und nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht von neun Jahren absolviert wurden, im Umfang von 42,86 % des Gesamtausmaßes dieser Zeiten und allenfalls nur bis zum Höchstausmaß von insgesamt drei Jahren und sechs Monaten zu berücksichtigen sind. Bei Vertragsbediensteten, deren besoldungsrechtliche Stellung bereits nach § 94b Abs 1 VBG neu festgesetzt wurde, ist die besoldungsrechtliche Stellung nach § 94b Abs 9 VBG idF BGBl I 137/2023 mit der Maßgabe neu festzusetzen, dass an Stelle des bereits ermittelten Vergleichsstichtags der Vergleichsstichtag gemäß § 94c VBG in der geltenden Fassung tritt. Diese Neuregelung betrifft auch den Kläger.

6. Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind (RS0031419; RS0106868). Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (RS0037300 [T46]). Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten (RS0037300 [T26]). Daraus folgt, dass das Klagebegehren nach Maßgabe der neuen Rechtslage zur Neufestsetzung der besoldungsrechtlichen Stellung des Klägers und der Bemessung seiner Bezüge zum Gegenstand einer Erörterung vor dem Erstgericht zu machen ist (8 ObA 31/19w).“

[15] 2. Die in dieser Entscheidung dargelegten Grundsätze gelten auch für den vorliegenden Fall. Die neue Gesetzeslage ist auch für den Kläger anwendbar und ist daher den Parteien die Gelegenheit zu geben, zu der geänderten Rechtslage und deren Wirksamkeit Stellung zu nehmen. Der Revision ist daher im Ergebnis Folge zu geben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[16] 3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.