JudikaturJustiz8ObA41/22w

8ObA41/22w – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Mai 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Karl Reiff (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Johannes Graf (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei G* F*, vertreten durch Freimüller Obereder Pilz Rechtsanwältinnen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei B* GmbH, *, vertreten durch Huger Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen 615,52 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 29. März 2022, GZ 10 Ra 99/21h 82, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Ob eine Klage schlüssig ist, sich also der Anspruch aus dem behaupteten Sachverhalt ergibt, kann immer nur im Einzelfall geprüft werden und begründet grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage i Sd § 502 Abs 1 ZPO (RIS Justiz RS0037780).

[2] Von einer groben Fehlbeurteilung, die ausnahmsweise aufzugreifen wäre, kann im vorliegenden Fall keine Rede sein, hat doch der Kläger in seinem vorbereitenden Schriftsatz die begehrten Entgeltdifferenzen nach zugrunde liegenden Leistungen aufgeschlüsselt und einzeln beziffert. Weder die Erbringung der Leistungen, noch die rechnerische Richtigkeit des Begehrens wurden konkret bestritten.

[3] 2. Eine Änderung der rechtlichen Argumentation einer Partei oder die Geltendmachung eines neuen Gesichtspunktes bei der rechtlichen Beurteilung ist auch im Rechtsmittelverfahren zulässig, sofern die hiezu erforderlichen Tatsachen bereits im Verfahren erster Instanz behauptet oder festgestellt wurden und nicht eine ausdrückliche Vorschrift besteht, die den Erstrichter hinderte, ohne diesbezügliche Einwendung der Partei auf diese Rechtsfrage einzugehen (RS0016473). Das Berufungsgericht bewegt sich daher im Rahmen der Rechtsprechung, wenn es zwischen der Frage, ob sich die Beklagte auf die Anwendung des Kollektivvertrags für Handelsarbeiter zur Abwehr des Klagsanspruchs iSd § 43 Abs 3 ASGG berufen hat, und der nur bejahendenfalls zu prüfenden Rechtsfrage, ob das Arbeitsverhältnis diesem Kollektivvertrag unterlag, unterschieden hat.

[4] Zur Berufung auf einen Kollektivvertrag iSd § 43 Abs 1 ASGG bedarf es des Vorbringens der die Anwendung begründenden tatsächlichen Umstände in erster Instanz (8 ObA 14/02w; RS0085644). Die Frage, ob ein solches Vorbringen mit hinreichender Deutlichkeit erstattet wurde, ist stets einzelfallbezogen und dementsprechend nicht revisibel (RS0044273 [T4; T41]).

[5] 3. Im Übrigen kann mangels Relevanz für das Ergebnis dahingestellt bleiben, ob die erst im zweiten Rechtsgang behauptete und dem bisherigen Prozessstandpunkt der Beklagten widersprechende Anwendbarkeit des Handelskollektivvertrags schon wegen Verstoßes gegen das Neuerungsverbot unbeachtlich war.

[6] Der Oberste Gerichtshof hat bereits im ersten Rechtsgang des vorliegenden Verfahrens (8 Ob 14/20x) zum Umfang der für die Lösung der Frage des im Mischbetrieb der Beklagten anzuwendenden Kollektivvertrags notwendigen Verfahrensergänzung ausgesprochen: „ Da die Parteien bislang selbst die maßgeblichen Kollektivverträge (nur) auf Gebäudereinigung und Baugewerbe eingegrenzt haben, haben die anderen Kollektivverträge mangels gleicher oder zumindest vergleichbarer wirtschaftlicher Bedeutung (...) im weiteren Verfahren außer Betracht zu bleiben . (...) Welcher dieser beiden Kollektivverträge die größere Anzahl von Arbeitnehmern in Österreich erfasst, ist eine Tatfrage.

[7] Auch die Revision geht nicht davon aus, dass im Betrieb der Beklagten auch dem Handelsgewerbe neben der Gebäudereinigung und dem Baugewerbe eine maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung zukommen würde.

[8] Der Auffassung, dass bei der Ermittlung des anwendbaren Kollektivvertrags nach § 9 Abs 4 ArbVG nicht nur die Wirtschaftsbereiche einzubeziehen wären, deren gleichwertige wirtschaftliche Bedeutung für den Betrieb die ansonsten vorrangige Anwendung des § 9 Abs 3 ArbVG verhindert, sondern auch Wirtschaftsbereiche von untergeordneter Bedeutung, hat der erkennende Senat bereits in der Entscheidung 8 ObA 14/20x eine rechtliche Absage erteilt.

[9] Die Auswahlregeln des § 9 Abs 3 und 4 ArbVG verfolgen das Ziel, dass in einem organisatorisch nicht getrennten Mischbetrieb der fachlich am besten entsprechende Kollekitvvertrag gelten soll, weil dessen normativer Inhalt zur Regelung der Beziehungen der Arbeitsvertragsparteien auch am besten geeignet – fachlich adäquat (9 ObA 139/05i) – ist. Nur wenn nach Anwendung der Kriterien des § 9 Abs 3 ArbVG wegen besonderer betrieblicher Verhältnisse immer noch mehr als ein Kollektivvertrag in Frage kommt, ist die Zuordnung subsidiär nach einem überbetrieblichen Kriterium, nämlich der Menge der insgesamt den jeweiligen Kollektivverträgen „Normunterworfenen“ zu treffen.

[10] Mit der von der Revision vertretenen Auslegung, dass dabei nicht nur die nach § 9 Abs 3 noch um das „Gepräge“ (RS0126546) konkurrierenden, sondern auch Kollektivverträge zu betrieblich völlig unbedeutenden Gewerbeberechtigungen in den Vergleich einzubeziehen wären, würde dieser Gesetzeszweck verfehlt.

[11] Im Ergebnis einer solchen Auslegung wäre dann auch – und gerade im vorliegenden Fall – ein Kollektivvertrag heranzuziehen, der dem in § 9 Abs 1 ArbVG definierten vorrangigen Kriterium der fachlichen Entsprechung am allerwenigsten gerecht wird und zur Regelung der Rechtsbeziehungen der Arbeitsvertragsparteien besonders schlecht geeignet ist.

[12] Die Revision zeigt daher mit ihren Ausführungen keine iSd § 502 Abs 1 ZPO begründeten Bedenken gegen die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Entscheidung auf.

[13] 4. Auch mit dem Thema der Bedeutung des Begriffs „größere Anzahl“ in § 9 Abs 4 ArbVG wird keine revisible erhebliche Rechtsfrage angesprochen.

[14] Der Wortsinn und der Zweck der genannten Regelung lassen keinen Zweifel offen, dass zur Ermittlung des anwendbaren Kollektivvertrags eine Feststellung der relativen Größe der erfassten Vergleichsgruppen genügt.

[15] Ob es auf eine konkrete Anzahl an Normunterworfenen dann ausnahmsweise ankäme, wenn die zu vergleichenden Gruppen bei annähernder Betrachtung gleich groß wären und das für die Ermittlung des anzuwendenden Kollektivvertrags essentielle Überwiegen deshalb anders nicht feststellbar wäre, hat hier in Ermangelung eines derartigen Sachverhalts dahingestellt zu bleiben.