JudikaturJustiz6Ob566/94

6Ob566/94 – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. April 1994

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Vogel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schobel, Dr.Redl, Dr.Kellner und Dr.Schiemer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Renate B*****, ***** vertreten durch Dr.Peter Semlitsch und Dr.Wolfgang Klobassa, Rechtsanwälte in Voitsberg, wider die beklagte Partei mj. Thomas P*****, ***** vertreten durch Dr.Willibald Rath und Dr.Manfred Rath, Rechtsanwälte in Graz, wegen S 100.000,-- sA und Feststellung (Revisionsinteresse S 120.000,--), infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 14.Oktober 1993, GZ 3 R 29/93-40, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom

16. Setptember 1992, GZ 22 Cg 170/91-32, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Klagebegehren des Inhaltes, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei S 100.000,-- samt 4 % Zinsen seit 4.8.1989 binnen 14 Tagen zu zahlen und es werde festgestellt, daß die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche Schäden hafte, welche der klagenden Partei aus dem Vorfall vom 26.4.1989 vor der Fleischhauerei K***** in St***** künftig entstehen werden, abgewiesen wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 20.809,-- (darin S 3.019,20 USt und S 2.694,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die klagende Partei ist weiters schuldig, der beklagten Partei die mit S 17.720,04 (darin S 2.153,34 USt und S 4.800,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit S 18.790,-- (darin S 1.131,60 USt und S 12.000,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 26.4.1989 ging die am 2.7.1974 geborene Klägerin mit einer Freundin durch St*****. Der vor ihnen gehende am 19.5.1975 geborene Beklagte hänselte durch Sticheleien die beiden Mädchen. Vor der Fleischhauerei K*****, zu welcher von einer Erweiterung der Straße eine vierstufige Treppe mit Geländer emporführt, versetzte die Klägerin dem Beklagten einen Stoß. Der Beklagte fiel dadurch auf die Treppe, ohne sich aber dabei zu verletzen. Er erhob sich und versetzte der Klägerin eine Ohrfeige. Der fachärztliche Befund ergab, daß die Klägerin durch den Schlag am linken Ohr einen subtotalen Membrandefekt mit randständigen Trommelfellrissen erlitten hatte, der eine mittelgradige Schwerhörigkeit links zur Folge hatte. Um die Schwerhörigkeit zu beheben, treten die Ärzte dafür ein, operativ eine Trommelfellplastik einzusetzen.

Die Klägerin begehrt die Zahlung eines Schmerzengeldes von S 100.000,-- sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige Schäden aus dem Vorfall.

Der Beklagte wandte ein, er habe zum Zeitpunkt des Vorfalles das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt und sei als Unmündiger daher deliktsunfähig gewesen. Die Klägerin habe den Vorfall durch den heftigen Stoß selbst verschuldet bzw ausgelöst, sodaß eine Haftung des Beklagten ausscheide; jedenfalls aber sei von einem erheblichen Mitverschulden der Klägerin auszugehen. Die geltendgemachten Ansprüche seien überhöht; Dauer- oder Spätfolgen seien nicht zu erwarten.

Das Erstgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzengeldes von S 60.000,-- und gab dem Feststellungsbegehren statt. Das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer S 40.000,-- wies es ab.

Rechtlich sei § 1308 ABGB nicht anzuwenden, weil die Klägerin zwar den Vorfall veranlaßt habe, die erste Provokation jedoch vom Beklagten ausgegangen sei. Die Ohrfeige stelle eine Überreaktion auf das Versetzen des Stoßes dar. Der Beklagte, der nur wenige Wochen von der Vollendung des 14. Lebensjahres entfernt gewesen sei, habe bereits über die nötige Einsicht über mögliche Folgen seiner Handlungsweise verfügt, sodaß er nach § 1310 ABGB die Körperverletzung zur Gänze zu vertreten habe. Es sei für die erlittenen Verletzungen und die psychischen Beeinträchtigungen ein Schmerzengeld von S 60.000,-- angemessen. Wegen der Dauerfolgen und der voraussichtlich notwendigen Operation sei auch das Feststellungsbegehren berechtigt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten, der eine gänzliche Klagsabweisung beantragte, keine Folge, wohl aber teilweise jener der Klägerin. Es verurteilte den Beklagten zur Zahlung eines Betrages von S 90.000,-- und wies nur ein Mehrbegehren von S 10.000,-- ab.

Der Ansicht des Beklagten, auf den vorliegenden Fall sei § 1308 ABGB anzuwenden und daher seine Haftung auszuschließen, weil er zu der Ohrfeige durch die Provokation, nämlich den Stoß der damals bereits über 14 Jahre alten Klägerin, veranlaßt worden sei, könne nicht beigepflichtet werden. Es stehe nämlich fest, daß dem Verhalten der Klägerin, dem Versetzen eines Stoßes, die das Geschehen erst auslösende Provokation des Beklagten durch "Anstänkern" vorangegangen sei. Stünden sich als Kontrahenten ein noch nicht deliktsfähiger, aber kurz vor Vollendung des 14. Lebensjahres stehender Minderjähriger und eine Minderjährige von noch nicht 15 Jahren gegenüber, so wäre wegen des geringen Altersunterschiedes die Anwendung des § 1308 ABGB unbillig. Der Beklagte habe über die Einsicht verfügt, daß ein Schlag gegen den Kopf eines anderen zu einer Verletzung führen könne. Daß der Beklagte, nachdem ihm von der Klägerin ein Stoß versetzt worden war, einen Schlag gegen den Kopf der Klägerin ausgeführt habe, sei doch über eine entschuldbare Retorsionshandlung bei weitem hinausgegangen. Im Vergleich dazu trete das Verhalten der Klägerin so in den Hintergrund, daß für die Annahme eines Mitverschuldens keine Veranlassung bestehe und die Inanspruchnahme des Beklagten nach § 1310 ABGB erster Fall auch Billigkeitserwägungen nicht widerspreche. Im Hinblick auf die erforderliche Operation des Trommelfelles und die damit verbundenen Schmerzen sei ein Schmerzengeld von insgesamt S 90.000,-- angemessen.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil Rechtsfragen der in § 502 Abs 2 ZPO umschriebenen Art bei der Entscheidung nicht zu lösen gewesen seien.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil der Oberste Gerichtshof in jüngerer Zeit zu dem über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Verhältnis der Anwendbarkeit der Bestimmungen der §§ 1304, 1308, 1309 und 1310 ABGB, nicht Stellung genommen hat. Die Revision ist auch berechtigt.

Wenn bei einer Beschädigung zugleich ein Verschulden auf Seiten des Geschädigten eintritt, so trägt er nach § 1304 ABGB mit dem Geschädigten den Schaden verhältnismäßig. Neben dieser grundsätzlichen Bestimmung enthält § 1308 ABGB eine Sondernorm: Wenn Wahn- und Blödsinnige oder Unmündige jemanden beschädigen, der durch irgendein Verschulden hiezu selbst Veranlassung gegeben hat, so kann er keinen Ersatz ansprechen. Diese Norm kommt dann zur Anwendung, wenn ein Deliktsfähiger das Fehlverhalten eines Deliktsunfähigen verursacht hat. Entgegen einigen älteren Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, die § 1308 ABGB auch dann herangezogen haben, wenn nicht nur der Schädiger, sondern auch der Geschädigte minderjährig war, hat die Rechtsprechung in jüngerer Zeit ebenso wie die Lehre klargestellt, daß diese Bestimmung dem Schutz der Deliktsunfähigen dient und einen Schadenersatz gegen diese gänzlich beseitigt, wenn der voll Deliktsfähige den Deliktsunfähigen zur Schädigung veranlaßt hat. (so schon SZ 33/54; EFSlg 38.565; 41.089; Koziol Haftpflichtrecht2 I, 242; Harrer in Schwimann Rz 1 zu § 1308; Reischauer in Rummel Rz 1 und 2 zu § 1308). § 1308 kommt nur dann nicht zum Tragen, wenn der Geschädigte und der Unmündige unabhängig voneinander Bedingungen für die Entstehung eines Schadens gesetzt haben. Nur dann ist eine Aufteilung des Schadens nach § 1304 ABGB möglich (ZVR 1981/168, Harrer aaO; Reischauer aaO).

§ 1308 ABGB schließt auch die Anwendung der §§ 1309 und 1310 aus. Diese kommen also nur subsidär zur Anwendung, wenn der voll deliktsfähige Geschädigte das schädigende Verhalten des Unmündigen nicht "veranlaßt", das bedeutet typischerweise verursacht hat.

Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, daß das vorsätzliche Niederstoßen eines rund dreizehneinhalbjährigen Knaben durch ein noch nicht ganz 15-jähriges Mädchen, mag dem auch eine harmlose wörtliche Hänselei vorangegangen sein, den niedergestoßenen Kläger geradezu typisch zu einer Reaktion auf diese Herausforderung - im vorliegenden Fall zu einer Ohrfeige - veranlaßte (die hier gravierenden Folgen waren nach dem Sachverständigengutachten nicht auf eine besondere Brutalität des Schlages, sondern den unglücklichen Auftreffpunkt beim linken Ohr zurückzuführen).

Reischauer (aaO) meint nun, "zwischen einem eben deliktsfähig Gewordenen und einem gerade noch Deliktsunfähigen werde § 1308 nicht anwendbar sein, weil eine derartig scharfe Grenzziehung zu vom Gesetzgeber nicht gewollten Unbilligkeiten führte (14- und 13-jährige Klassenkameraden)". Diese Ansicht vermag der erkennende Senat nicht zu teilen: Soweit einem mj. Kind nicht bereits früher ein Verschulden zugerechnet werden kann (§ 1310 ABGB), wird es vorbehaltlich des § 866 gemäß § 153 ABGB mit der Erreichung der Mündigkeit nach den schadenersatzrechtlichen Bestimmungen verschuldensfähig. Dies bedeutet, daß der Gesetzgeber die zivilrechtliche Deliktsfähigkeit im Bereich des Schadenersatzrechtes - übereinstimmend mit der strafrechtlichen - grundsätzlich mit der Mündigkeit festsetzt. Durch die gesetzliche Festlegung von Altersgrenzen, die auf Durchschnittserfahrungen beruht, kann es, wie gerade der vorliegende Fall zeigt, zu unbilligen Ergebnissen kommen, wenn an einem Schadensereignis ein knapp vor der Mündigkeit stehender Minderjähriger und ein erst seit kurzem voll deliktsfähig Gewordener beteiligt sind. Im Interesse der Rechtssicherheit kommt aber nach Ansicht des erkennenden Senates eine "verwischte Grenzziehung", die im Gesetz keine Deckung findet und auch zeitlich nicht einheitlich abgrenzbar wäre, nicht in Betracht. Auch bei Straftaten - der Gesetzgeber wollte die schadenersatzrechtliche Deliktsfähigkeit offensichtlich mit der strafrechtlichen harmonisiert wissen -, an welchen, wie dies häufig vorkommt, Minderjährige beteiligt sind, von denen einige das 14. Lebensjahr bereits vollendet haben, einige noch nicht, kommt der Schutz vor strafrechtlicher Verantwortung den noch Unmündigen auch dann zugute, wenn ihnen in dem bestimmten Fall wegen der nötigen Einsicht ein Verschulden ebenso angelastet werden könnte, wie ihren wenig älteren Mittätern, die die Folgen ihres Handeln voll zu tragen haben. Die klare Gesetzeslage läßt auch im Bereich des Schadenersatzrechtes eine abweichende Entscheidung aus Billigkeitsgründen nicht zu.

Eine Haftung des zum Tatzeitpunkt noch unmündigen Klägers und auch die Annahme eines Mitverschuldens ist daher gemäß § 1308 ABGB ausgeschlossen. Das Klagebegehren war somit zur Gänze abzuweisen.

Der Ausspruch über die Verfahrenskosten beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.