JudikaturJustiz5Ob152/12g

5Ob152/12g – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Oktober 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen C***** S*****, geboren am *****, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Mutter I***** N*****, vertreten durch Mag. Klaus Kabelka, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 23. Mai 2012, GZ 42 R 195/12f 96, mit dem infolge Rekurses der Mutter der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 15. März 2012, GZ 59 Ps 21/10x 90, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die mj C***** wurde unehelich geboren und lebt bei ihrer obsorgeberechtigten Mutter. Der Vater hat die Familie einige Monate nach der Geburt der Tochter verlassen und ist seit seiner Abschiebung im Jahr 2004 unbekannten Aufenthalts.

Der Jugendwohlfahrtsträger (folgend nur mehr: JWT) entzog der Mutter am 2. 7. 2010 gestützt auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB die gesamte Pflege und Erziehung für die mj C***** und brachte diese in einem Krisenzentrum unter. Mit Eingabe vom 7. 7. 2010 teilte der JWT dem Erstgericht die getroffene Maßnahme mit und stellte den Antrag, den JWT „die gesamte Pflege und Erziehung“ für die mj C***** zu übertragen.

Die Mutter beantragte Antragsabweisung und (ua), die Maßnahme des JWT als „zivilrechtlich rechtswidrig“ festzustellen. Das Erstgericht sprach soweit für das Revisionsrekursverfahren von Interesse mit seinem Beschluss vom 4. 1. 2011, GZ 59 Ps 21/10x 55, (ua) aus, dass (1.) die vorläufige Maßnahme des JWT gemäß § 215 Abs 2 (richtig: Abs 1) Satz 2 ABGB der Mutter die Pflege und Erziehung für die mj C***** zu entziehen, aufgehoben, (2.) der Antrag des JWT, der Mutter die Obsorge „im Teilbereich Pflege und Erziehung“ für die mj C***** zu entziehen und dem JWT zu übertragen, abgewiesen und (4.) der Antrag der Mutter, es möge … darüber erkannt werden, dass (der JWT) seit 2. 7. 2010 die m. C***** rechtswidrig unterbringe, zurückgewiesen wird. Die Entscheidungen des Erstgerichts zu 1. (Aufhebung der Maßnahme des JWT) und 2. (Abweisung des Obsorgeübertragungsantrags) erwuchsen unbekämpft in Rechtskraft. Gegen die zu 4. erfolgte Abweisung ihres (sinngemäßen) Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vom JWT gestützt auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzten Maßnahme erhob die Mutter Rekurs, der erfolglos blieb.

Der Oberste Gerichtshof gab mit Beschluss vom 13. 12. 2011, 5 Ob 126/11g 87, dem Revisionsrekurs der Mutter dahin Folge, dass er die Entscheidungen der Vorinstanzen über den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vom JWT gestützt auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB gesetzten Maßnahme aufhob und dem Erstgericht insoweit die neuerliche Entscheidung auftrug. Der Oberste Gerichtshof ging in seiner Entscheidung im Grundsatz davon aus, dass der Mutter im Lichte des Art 8 EMRK ein Antragsrecht auf nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der vom JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB getroffenen Maßnahme zustehe (vgl dazu auch § 107a Abs 2 AußStrG des Ministerialentwurfs des KindNamRÄG 2012), wobei das Erstgericht den Prüfungsantrag inhaltlich zu beurteilen haben werde.

Das Erstgericht stellte nunmehr fest, „dass die Maßnahme des JWT vom 2. 7. 2010, wobei die minderjährige C***** … im Kriseninterventionszentrum untergebracht wurde, zu Recht erfolgte“. Es traf zur Wahrnehmung der Interimskompetenz des JWT (nur) folgende Feststellungen:

„Die Familie war dem JWT bereits seit 2009 bekannt, wo es wegen Erziehungsproblemen zu einem Beratungsgespräch gekommen war. Dem folgte vom 2. 11. 2009 bis 4. 1. 2010 eine Abklärung bezüglich eines Betretungsverbots vom (gemeint wohl: gegen den) Lebensgefährten der Mutter, die damals die Absicht äußerte, sich von diesem zu trennen. Eine Gefährdung der Minderjährigen wurde nicht festgestellt.

Am 1. 7. 2010 wurde der JWT von der Schule der Minderjährigen telefonisch um einen Termin ersucht. Die mj C***** kam am 2. 7. 2010 zum JWT und gab an, dass sie sich mit ihrer Mutter und deren Lebensgefährten nicht verstehe und von diesem beschimpft werde. Sie werde auch für Streit zwischen diesen verantwortlich gemacht und habe Angst, so wie im Sommer davor, eingesperrt zu werden. Sie würde auf keinen Fall nach Hause gehen und wenn ihr vom JWT keine Unterbringungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt würde, würde sie von zuhause fortlaufen. Die Mutter stimmte einem Krisenaufenthalt nicht zu und verweigerte auch nach einem Gespräch am 6. 7. 2010 die Zustimmung. Die Mutter gab an, dass sie sehr streng erzogen worden sei und dies auch bei ihrer Tochter wolle.“

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, der JWT habe die gesetzliche Frist zur gerichtlichen Antragstellung gewahrt. Im Zeitpunkt der Krisenunterbringung der Minderjährigen sei Gefahr im Verzug vorgelegen, weil häusliche Probleme schon aus der Vorgeschichte bekannt gewesen seien und die Minderjährige gedroht habe, von zu Hause wegzulaufen. Der JWT sei von der Schule kontaktiert worden, was indiziert habe, dass auch dort die Situation als problematisch und dringlich eingestuft worden sei. Der JWT sei somit zu Recht eingeschritten. Die spätere Entwicklung müsse außer Betracht bleiben, weil die Kindeswohlgefährdung im Zeitpunkt der Setzung der Maßnahme zu beurteilen sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter „teilweise Folge“ und „ergänzte bzw modifizierte“ den Beschluss des Erstgerichts dahin, „dass die Unterbringung der mj C***** für die Zeit vom 2. 7. 2010 bis 20. 1. 2011 für zulässig erklärt“ wurde.

Rechtlich vertrat das Rekursgericht zusammengefasst die Ansicht, die Beurteilung, ob eine in der Vergangenheit getroffene Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB zu Recht getroffen worden sei, müsse auf Basis einer ex ante Betrachtung geprüft werden, weshalb das später eingeholte Sachverständigengutachten, in dem nur eine familiäre Krise attestiert worden sei, unbeachtet bleiben müsse. Der JWT müsse sehr rasch und in der Regel nur aufgrund unzureichender Kenntnisse über die maßgeblichen Umstände entscheiden. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass der JWT von der Schule kontaktiert worden sei, sei am 2. 7. 2010 keineswegs auszuschließen gewesen, dass eine Kindeswohlgefährdung vorgelegen habe. Immerhin werde in diversen Medien alljährlich über Kurzschlusshandlungen von Schülern aus Anlass der Zeugnisverteilung berichtet. Da der JWT bereits zum dritten Mal mit der Familie befasst gewesen sei, habe dieser in Erwägung ziehen müssen, dass es dort doch gröbere Probleme gebe. Es sei davon auszugehen, dass es aus welchen Gründen auch immer zu einer Situation gekommen sei, welche für den hinzugezogenen JWT unter Berücksichtigung aller Umstände durchaus als nicht ungefährlich für das Wohl der mj C***** habe angesehen werden können, dass danach eine Verhärtung der Fronten offenbar nicht vermeidbar gewesen und dies der sofortigen Rückkehr der Minderjährigen nach Ansicht aller Beteiligten noch einige Zeit im Wege gestanden sei. Aus diesem Grund sei in teilweiser Ergänzung des erstgerichtlichen Beschlusses auszusprechen gewesen, dass die Unterbringung der Minderjährigen während des gesamten Zeitraums vom 2. 7. 2010 bis 20. 1. 2011 zulässig gewesen sei. Das Rekursgericht sei der Hoffnung, dass die Ereignisse quasi als „heilsamer Schock“ bei allen Beteiligten dazu geführt haben, dass sich das gegenseitige Verständnis und damit die Grundlage für eine friedliche Kommunikation vertieft habe und auch die Mitarbeiter des JWT in diesem äußerst sensiblen und oft auch undankbaren Betätigungsfeld trotz allem nicht müde würden, neben ihren Bemühungen um die Anliegen der Kinder stets auch ein besonderes Verständnis für die besondere Situation aufzubringen, in welcher sich deren Eltern oft befänden.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Frage, ob die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB für einen vergangenen Zeitraum ex ante nach jenem Wissenstand zu beurteilen sei, den der JWT zum Zeitpunkt der Setzung bzw Aufrechterhaltung der Maßnahme jeweils hatte oder haben musste, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Antragsstattgebung. Hilfsweise stellt die Mutter auch einen Aufhebungsantrag.

Der JWT erstattete einen als Stellungnahme bezeichneten, als Revisionsrekursbeantwortung zu wertenden Schriftsatz, in dem dieser offenbar von der Rechtmäßigkeit seines Vorgehens ausgeht.

Der Revisionsrekurs ist in seinem Aufhebungsantrag berechtigt, weil die Vorinstanzen auf der Grundlage der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme der Interimskompetenz des JWT rechtlich unvertretbar bejaht haben.

Rechtliche Beurteilung

1. Gemäß § 215 Abs 1 ABGB hat der JWT die zur Wahrung des Wohls eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der JWT vorläufig mit der Obsorge betraut.

2. Voraussetzung für eine vorläufige Maßnahme des JWT sowie auch für eine Maßnahme des Gerichts nach § 176 ABGB ist die offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit einer Änderung des bestehenden Zustands (1 Ob 60/05p; RIS Justiz RS0085168; Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang ³ § 215 ABGB Rz 8; W. Tschugguel in Kletečka/Schauer , ABGB ON 1.00 § 215 Rz 2 [Gefahr im Verzug]). Wird der JWT im Rahmen seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 ABGB tätig, weil er eine solche Gefährdung annimmt, und werden die gerichtlichen Verfügungen unverzüglich, jedenfalls aber binnen acht Tagen beantragt, obliegt es dem Gericht, rasche Nachforschungen anzustellen, um beurteilen zu können, ob diese Maßnahmen bis zu einer endgültigen Entscheidung aufrecht bleiben, sofern es diese für gerechtfertigt hält. Andernfalls, also wenn das Gericht keine Gefährdung oder keine Rechtfertigung der Maßnahme annimmt, hat es die vom JWT getroffenen Maßnahmen durch gerichtliche Verfügung abzuändern bzw aufzuheben (vgl 2 Ob 9/98g; 1 Ob 70/04g; 1 Ob 60/05p). Ansonsten bleibt die getroffene Maßnahme vorläufig ohne weiteres bis zur Endentscheidung des Gerichts aufrecht. Bis dahin ist der JWT im Umfang der getroffenen Maßnahme ex lege vorläufig mit der Obsorge betraut. Die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahme des JWT oder deckungsgleiche eigene Maßnahmen des Gerichts nach § 176 ABGB kommen nach derzeitiger Rechtslage nicht in Betracht (2 Ob 13/04g; 2 Ob 270/04a; 1 Ob 60/05p; RIS Justiz RS0007018; vgl dazu auch § 107a Abs 1 AußStrG des Entwurfs des KindNamRÄG 2012).

3.1. Sowohl Maßnahmen des Gerichts nach § 176 ABGB als auch solche des JWT nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB setzen wie bereits ausgeführt eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustands voraus (RIS Justiz RS0085168). Die Änderung der Obsorgeverhältnisse darf also nur als äußerste Notmaßnahme angeordnet werden (RS Justiz RS0085168 [T5]), setzt das Vorliegen einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls voraus (RIS Justiz RS0085168 [T7]) und muss den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des gelindesten Mittels entsprechen (1 Ob 4/12p). Genau diese Rechtsprechungsgrundsätze verkennt das Rekursgericht, wenn es die Einschätzung des Erstgerichts dahin bestätigt, dass am 2. 7. 2010 das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung keineswegs auszuschließen gewesen sei (Beschluss ON 96 S 9) bzw „unter Berücksichtigung aller Umstände“ (welcher?) eine „nicht ungefährliche“ Situation vorgelegen habe (S 22 aaO). Umso weniger kann es der Zweck einer vorläufigen Maßnahme nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB sein, den Beteiligten einen „heilsamen Schock“ zu versetzen (Beschluss ON 96 S 22).

3.2. Eine vorläufige Maßnahme nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB hat nicht schon dann zu erfolgen, wenn eine Kindeswohlgefährdung nicht zweifelsfrei auszuschließen ist; sie kommt vielmehr nur in Frage, wenn ganz bestimmte Umstände darauf hinweisen, dass die Eltern (bzw der allein obsorgebetraute Elternteil) die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllen (erfüllt) oder diese (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind und die Eltern (bzw der allein obsorgebetraute Elternteil) durch ihr (sein) Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (gefährdet) (vgl RIS Justiz RS0048633 [insb T15]). Derartige Hinweise sind den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen jedoch nicht konkret zu entnehmen:

3.3. Am 1. 7. 2010 wurde der JWT von der Schule der Minderjährigen telefonisch um einen Termin ersucht. Die mj C***** kam am 2. 7. 2010 zum JWT und gab an, dass sie sich mit ihrer Mutter und deren Lebensgefährten nicht verstehe und von diesem beschimpft werde. Sie werde auch für Streit zwischen diesen verantwortlich gemacht und habe Angst, so wie im Sommer davor, eingesperrt zu werden. Sie werde auf keinen Fall nach Hause gehen und wenn ihr vom JWT keine Unterbringungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werde, dann werde sie von zuhause fortlaufen.

3.4. Die Vorinstanzen berufen sich darauf, dass der JWT schon zuvor mit der Familie befasst gewesen sei und häusliche Probleme schon aus der Vorgeschichte bekannt gewesen seien. Dem ist entgegenzuhalten, dass bei diesen Kontakten eine Gefährdung der Minderjährigen gerade nicht festgestellt wurde; warum dann aus früheren Kontakten des JWT zur Familie konkrete Hinweise auf die Notwendigkeit eines Vorgehens nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB ableitbar gewesen sein sollen, ist zumindest nach derzeitiger Aktenlage nicht einsichtig.

3.5. Dass sich die Minderjährige mit ihrer Mutter und deren Lebensgefährten nicht verstehe und (verbal) in deren Auseinandersetzungen hineingezogen worden sei, mag eine unangenehme familiäre Situation begründen, konkrete Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung folgen daraus freilich (noch) nicht.

3.6. Was die Minderjährige mit der Behauptung meinte, sie wolle nicht, wie im Sommer davor, „eingesperrt“ werden, ist nicht nachvollziehbar. Ob die Mitarbeiter des JWT diese Äußerung und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis hinterfragt haben, steht ebenfalls nicht fest.

3.7. Es bleibt schließlich die Ankündigung der Minderjährigen, sie werde auf keinen Fall nach Hause gehen und, wenn ihr vom JWT keine Unterbringungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werde, dann werde sie von zuhause fortlaufen. Ob und aus welchen Gründen diese Ankündigung der Minderjährigen ernst zu nehmen war und ob die Mitarbeiter des JWT hinterfragten, wo die Minderjährige gegebenenfalls unterkommen wollte, steht gleichfalls nicht fest.

3.8. Ob Mitarbeiter des JWT abgesehen vom Gespräch mit der Minderjährigen irgendwelche Erhebungsmaßnahmen durchführten, etwa Rückfragen bei Lehrkräften oder Mitschülern vornahmen, ist nicht festgestellt. Es fehlen auch jegliche Feststellungen über Kontakte der Mitarbeiter des JWT zur Mutter der Minderjährigen vor Maßnahmenbeginn.

3.9. Das Rekursgericht hat darauf hingewiesen (Seite 9 seiner Entscheidung), dass aus Medienberichten alljährlich „Kurzschlusshandlungen von Schülern aus Anlass der Zeugnisverteilung (bis hin zum Selbstmord)“ bekannt seien und man könne sich „lebhaft vorstellen, wie die Mutter und eine breite Öffentlichkeit wohl reagiert hätten, wenn C***** unüberlegte Aktionen gesetzt hätte“. Diese Überlegung ist aber rein spekulativ und unterstellt schulische Probleme der Minderjährigen samt daraus resultierenden Familienkonflikten, die im vorliegenden Fall niemand konkret behauptet hat.

4.1. Zusammengefasst zeigt sich somit, dass die Vorinstanzen eine konkrete Kindeswohlgefährdung aufgrund der gegebenen Sachverhaltsgrundlage zu Unrecht bejaht haben. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht daher zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des JWT nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB konkrete Feststellungen insbesondere darüber zu treffen haben, welche Kontaktperson von Seiten der Schule aufgetreten ist, welche Informationen den Mitarbeitern des JWT von dieser zuteil wurden, welchen Eindruck die Minderjährige beim Gespräch am 2. 7. 2010 hinterließ, wie lange dieses Kontaktgespräch dauerte, ob und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis hinterfragt wurde, wo die Minderjährige im Fall ihres angekündigten Fortlaufens unterkommen wollte, und welche Erhebungsmaßnahmen die Mitarbeiter des JWT (zB Rückfrage in der Schule oder bei Mitschülern) vor dem Vorgehen nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB setzten oder aus welchen Gründen solche unterblieben. Zur Klärung dieser Tatfragen werden wohl Befragungen der befassten Mitarbeiter des JWT unumgänglich sein.

4.2. Erst aufgrund der verbreiterten Sachverhaltsgrundlage wird dann beurteilt werden können, ob die Inanspruchnahme der Interimskompetenz des JWT im gegebenen Umfang rechtmäßig war. Blickwinkel dieser Prüfung ist eine ex ante Betrachtung (vgl jüngst 1 Ob 4/12p) auf der Basis der dem JWT zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung gestandenen oder im Falle gebotener Erhebungen verfügbaren Entscheidungsgrundlagen.

Der Revisionsrekurs der Mutter ist somit in seinem Aufhebungsantrag berechtigt.

Rechtssätze
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