JudikaturJustiz23Ds6/23v

23Ds6/23v – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Februar 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 28. Februar 2024 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Musger als weiteren Richter sowie die Rechtsanwälte Mag. Dorn und Dr. Mitterlehner als Anwaltsrichter in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Drach in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwalt in *, wegen des Disziplinarvergehens der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes nach § 1 Abs 1 zweiter Fall DSt über die Berufungen des Beschuldigten und des Kammeranwalts gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer * vom 2. Juni 2022, GZ D 161/21 17, nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wehofer, des Kammeranwalts Mag. Meyenburg, des Beschuldigten sowie seines Verteidigers Mag. Lehner LL.M. zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Berufung des Beschuldigten gegen den Ausspruch über die Schuld wird das angefochtene Erkenntnis aufgehoben und es wird in der Sache selbst erkannt:

* wird von dem wider ihn erhobenen Vorwurf, er habe im Zusammenhang mit der am 28. Jänner 2021 vollzogenen Abschiebung der von ihm seit 27. Jänner 2021 vertretenen N* T* und deren minderjähriger Töchter T* und L* T* nach der Abschiebung bis zum 30. Jänner 2021 im Rahmen von Medienkontakten die – in der Folge von mehreren Medien zitierte – Äußerung getätigt, der österreichische Innenminister * sei „der Rechtsbrecher“, gemäß § 38 Abs 1 erster Fall iVm § 54 Abs 3 DSt freigesprochen.

Mit ihren gegen den Ausspruch über die Strafe gerichteten Berufungen werden der Beschuldigte und der Kammeranwalt auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde * des Disziplinarvergehens der Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes nach § 1 Abs 1 zweiter Fall DSt schuldig erkannt.

[2] Danach hat er dadurch gegen § 10 Abs 2 RAO und § 49 RL BA 2015 verstoßen, dass er im Zusammenhang mit der am 28. Jänner 2021 vollzogenen Abschiebung der von ihm seit 27. Jänner 2021 vertretenen N* T* und deren minderjähriger Töchter T* und L* T* nach der Abschiebung bis zum 30. Jänner 2021 im Rahmen von Medienkontakten die – in der Folge von mehreren Medien zitierte – Äußerung tätigte, der österreichische Innenminister * sei „der Rechtsbrecher“.

Rechtliche Beurteilung

[3] Der Disziplinarbeschuldigte wurde hierfür nach (richtig) § 16 Abs 1 Z 2 DSt zur Disziplinarstrafe einer Geldbuße in der Höhe von 1.000 Euro verurteilt.

[4] Nach den wesentlichen Feststellungen des Disziplinarrats übernahm der Beschuldigte am 27. Jänner 2021 die rechtsfreundliche Vertretung von N* T* und deren minderjähriger Töchter T* und L* T* in den gegen diese anhängigen fremdenrechtlichen Verfahren. Die Genannten, gegen die – seit dem 23. September 2019 rechtskräftige – Rückkehrentscheidungen erlassen worden waren, befanden sich seit dem 25. Jänner 2021 zwecks Abschiebung nach Georgien in Haft. Die Abschiebungen erfolgten am 28. Jänner 2021. Über ihre im Mai 2020 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingebrachten Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden worden.

[5] Am 28. Jänner 2021 erschien in einer Tageszeitung eine Stellungnahme des Innenministers * zu diesen öffentlich vieldiskutierten Abschiebungen, inhaltlich der er – zusammengefasst – die Ansicht vertrat, die Abschiebung sei in Umsetzung der Entscheidung eines Höchstgerichts erfolgt und daher notwendig gewesen, um dem Rechtsstaat zum Durchbruch zu verhelfen. „Die Annahme, der Innenminister könnte höchstgerichtliche Entscheidungen in irgend einer Form konterkarieren“ sei „doch absurd“. Er habe sich den Fall zwar vorlegen lassen, den nächtlichen Einsatz aber nicht persönlich autorisiert. Für die entsprechende Prüfung einschließlich der Berücksichtigung des Wohls von Kindern und Jugendlichen seien nämlich die Behörden und Gerichte zuständig. Es handle sich um einen „formalen Prozess“. Wenn feststehe, dass es keine Einspruchsmöglichkeiten mehr gebe, gebe es auch keinen Aufenthaltstitel mehr für die Betroffenen in Österreich und dann sei es „der klare Auftrag der Fremdenpolizei, die Außerlandesbringung umzusetzen“.

[6] In einem am 29. Jänner 2021 im ORF ausgestrahlten Interview in der Sendung ZIB 2 betonte der Innenminister im Wesentlichen erneut die grundsätzliche Notwendigkeit und seine eigene Verpflichtung als Innenminister, „höchstgerichtliche Entscheidungen“ schon unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung zu respektieren und auch umzusetzen. Er führte weiters aus, dass nicht nur das Kindeswohl, sondern auch das humanitäre Bleiberecht in allen Instanzen geprüft und grundsätzlich vor jeder Abschiebung erneut beurteilt werde, ob deren Aussetzung aufgrund gravierender Änderung der maßgeblichen Umstände geboten wäre. Zudem hob er hervor, dass die von der konkreten Abschiebung betroffenen Kinder „Opfer des Tuns ihrer Eltern“ geworden seien. Die Mutter habe nämlich „bewusst … das Asylrecht missbraucht“ und damit einen „Rechtsbruch“ begangen, indem sie „unzählige“ – in der Folge jeweils abgewiesene – Asylanträge gestellt und bewusst ignoriert habe, dass von Anfang an keine Bleibeberechtigung bestand. Weiters sei sie (gleichfalls rechtsmissbräuchlich) nach zweijährigem Aufenthalt in Georgien erneut nach Österreich eingereist, habe wiederum negativ beschiedene Asylanträge eingebracht, schließlich sechs Abschiebeversuche vereitelt und solcherart versucht, ein Bleiberecht zu erzwingen. Sie habe dabei „offensichtlich bewusst“ keine Rücksicht auf das Kindeswohl genommen und müsse auch Verantwortung dafür übernehmen, was sie ihren Kindern zumute.

[7] Nachdem am 29. Jänner 2021 ein weiterer Artikel mit dem Titel: „FAMILIE ABGESCHOBEN – *: Eltern haben das Asylrecht missbraucht“, in einer Tageszeitung veröffentlicht worden war, wurde der Beschuldigte als Rechtsvertreter der Abgeschobenen von Journalistinnen telefonisch kontaktiert und äußerte sich im Zuge dessen in einem Gespräch mit der APA auf die ihm nunmehr vorgeworfene Weise über den Innenminister.

[8] Diese Äußerung wurde am 30. Jänner 2021 von mehreren Medien, darunter orf.at und wien.orf.at und der K* (online), zitiert. Nach einem in Letzterer erschienenen Artikel habe sich * über den Innenminister, insbesonders über dessen Schuldzuweisungen an die Mutter der 12 jährigen T*, empört gezeigt und konkret angegeben, dass die Mutter keine Gesetze gebrochen habe, wobei allfällige Fehler der Eltern darüber hinaus ohnehin keine Rolle bei Abwägung des Kindeswohls spielen würden. Deren Verhalten sei „rechtlich komplett irrelevant“, „das Kindeswohl“ stehe „über allem“ und hätte unmittelbar vor der Abschiebung neuerlich geprüft werden müssen. Zudem sei die Stellung auch zahlreicher Anträge kein Verbrechen. Die Familie könne vielmehr so viele Anträge stellen, wie sie wolle; das Kindeswohl sei „vorrangig und nicht nebenbei zu beachten“. * habe wörtlich geäußert: „Recht muss Recht bleiben, er ist der Rechtsbrecher. Er soll erklären, warum es für die T* in Georgien besser ist als in W*“. Letztlich habe er darauf hingewiesen, dass * die gerichtliche Entscheidung sehr wohl „ändern“ und der Familie ein Bleiberecht gewähren hätte können.

[9] Mit Erkenntnis vom 18. März 2022, GZ W 180 2240292 1/45E, W 180 2240293 1/31E und W180 2240291 1/27/E, gab das Bundesverwaltungsgericht den gegen die Abschiebungen von N*, T* und L* T* nach Georgien gerichteten Maßnahmenbeschwerden der vom Beschuldigten vertretenen Abgeschobenen Folge und erklärte die Abschiebungen für rechtswidrig.

[10] Inhaltlich kam das Bundesverwaltungsgericht mit ausführlicher Begründung zum Schluss, dass die Wirksamkeit der T* T* betreffenden Rückkehrentscheidung zum Zeitpunkt der Abschiebung trotz des „unbestritten fremdenrechtlich qualifizierten Fehlverhaltens“ deren Mutter, die sich durch wiederholte Stellung von unberechtigten Anträgen auf internationalen Schutz (anfangs unter Aliasnamen) und die mehrfache Vereitelung der Abschiebung „evident rechtsmissbräuchlich“ verhalten habe, nicht ausreichend gesichert scheine. Der Vollzug der Abschiebung der T* T* am 28. Jänner 2021 „ohne erneute Abwägung im Hinblick auf das Kindeswohl, insbesondere das eigenständig zu beurteilende Privatleben der Genannten“, erweise sich daher als unverhältnismäßig und damit als rechtswidrig. Im Hinblick auf die Wahrung der Familieneinheit schlage dies auch auf die Abschiebungen der N* und der L* T* durch.

[11] Dagegen erhob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (außerordentliche) Revision, in der zusammengefasst eine maßgebliche Änderung der Entscheidungsgrundlagen für die Abwägung nach § 9 BFA VG iVm Art 8 MRK zugunsten der Fremden bestritten wurde.

[12] Nach einem am 22. März 2022 in „Z*“ veröffentlichten Artikel zeigte sich der Beschuldigte erfreut darüber, „dass das Bundesverwaltungsgericht eine klare Antwort auf die unrichtige Darstellung des Innenministeriums gegeben hat“ (ES 4 bis 21).

[13] Gegen dieses Erkenntnis richten sich die Berufungen des Disziplinarbeschuldigten und des Kammeranwalts, wobei Ersterer die Aussprüche über die Schuld (zur Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen in deren Rahmen RIS Justiz RS0128656 [T1]) und die Strafe, der Kammeranwalt nur jenen gegen den Ausspruch über die Strafe bekämpft.

[14] Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) des Beschuldigten zeigt zutreffend auf, dass die vom Disziplinarrat getroffenen Feststellungen die rechtliche Annahme einer Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes nach § 1 Abs 1 zweiter Fall DSt nicht tragen.

[15] Nach gefestigter straf-, medien- und disziplinarrechtlicher Judikatur stellt der Bedeutungsinhalt einer inkriminierten Äußerung eine Tatfrage dar. In allen Fällen eines für die Tatbestandsmäßigkeit entscheidenden verbalen Handelns ist daher der Sinn (Bedeutungsinhalt) der inkriminierten Äußerung als Sachverhaltsgrundlage festzustellen und bildet erst den Bezugspunkt für die rechtliche Beurteilung, ob durch das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten ein Disziplinarvergehen begründet wurde. Diesbezügliche Feststellungen können durch die bloße Wiedergabe des – im vorliegenden Fall durchaus interpretativen Spielraum bietenden (vgl nur 6 Ob 266/00m, 6 Ob 209/04k, wonach der Begriff „Rechtsbrecher“ nicht zwingend dem Vorwurf strafbaren Verhaltens oder verbrecherischen Handelns gleichzusetzen ist) – Wortlauts der Äußerung nicht ersetzt werden; eine solche dient allenfalls der Begründung getroffener Konstatierungen (vgl RIS Justiz RS0092588, RS0092437 [T4]; 28 Ds 12/21k, 30 Ds 5/19t uva).

[16] Feststellungen zum Bedeutungsinhalt der hier aktuellen Bezeichnung eines Regierungsmitglieds als „Rechtsbrecher“ im situativen Kontext sind der angefochtenen Entscheidung, die sich eben gerade auf die Wiedergabe des Wortlauts der inkriminierten Äußerung beschränkt, nicht zu entnehmen. Bereits dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen erfordert – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – die Aufhebung des Erkenntnisses, ohne dass es eines Eingehens auf das weitere Berufungsvorbringen bedürfte.

[17] Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, die damit notwendige Verfahrensergänzung durch Vernehmung des Beschuldigten, zusammenfassenden Vortrag des Protokolls über die mündliche Disziplinarverhandlung, ON 16 der D Akten, samt den Beilagen V C und V I und Verlesung des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Juli 2022, GZ Ra 2022/21/0093 9, selbst vorzunehmen und auf dieser Basis folgende zusätzliche Feststellungen zu treffen (§ 52 DSt):

[18] Der Beschuldigte Rechtsanwalt *, nahm am 30. Jänner 2021 in einem Gespräch mit einer Journalistin der APA zur öffentlich breit diskutierten und im Mittelpunkt medialen Interesses stehenden Abschiebung von N*, T* und L* T* Stellung und äußerte sich – in Reaktion auf die vorangegangenen Aussagen des Innenministers * in einem am 29. Jänner 2021 im ORF ausgestrahlten Interview gegenüber der ZIB 2 und einen daraus abgeleiteten Vorhalt der Journalistin, wonach die Mutter N* T* „an allem schuld“ sei – auf die in einem in der Tageszeitung K* am 30. Jänner 2021 online veröffentlichten Artikel wiedergegebene Weise.

[19] Mit der Aussage: „er [gemeint der Innenminister] ist der Rechtsbrecher“, wurde zum Ausdruck gebracht, dass Innenminister * als Oberstes Organ der Verwaltung die Letztverantwortung für die Abschiebung der Mandanten des Beschuldigten getragen habe, welche rechtswidrig gewesen sei und gegen die geltenden Gesetze verstoßen habe, weil das Kindeswohl die entgegenstehenden öffentlichen Interessen an der Außerlandesbringung (jedenfalls) der T* T* überwogen habe und die gebotene entsprechende Prüfung des Kindeswohls unmittelbar vor der Abschiebung unterblieben sei. Strafbares Verhalten oder ein Charaktermangel wurde * damit nicht vorgeworfen.

[20] Der Beschuldigte war von der Richtigkeit seiner Rechtsansicht, die in der Folge vom Bundesverwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof (VwGH, 26. Juli 2022, Ra 2022/21/0093 9) bestätigt wurde, überzeugt. Es ging ihm nicht darum, den Innenminister zu diffamieren oder zu beleidigen. Er verfolgte bei seiner Äußerung das Ziel, den medial verbreiteten Aussagen des Innenministers entgegenzutreten, auf diese Art den Ruf seiner bereits außer Landes gebrachten Mandanten in deren Vertretung zu schützen und – auch mit Blick auf die 18 monatige Geltung von rechtmäßigen Anordnungen zur Außerlandesbringung nach § 61 FPG (§ 12a Abs 6 AsylG) – öffentlich darzulegen, dass die Abschiebung unabhängig von einem allfälligen Fehlverhalten der Kindesmutter rechtswidrig war.

[21] Diese Feststellungen zum Bedeutungsinhalt der inkriminierten Äußerung und zur diesbezüglichen Intention des Beschuldigten gründen auf dessen glaubwürdiger Verantwortung, dem Wortlaut der Äußerung im Gesamtzusammenhang mit den damit inhaltlich im Konnex stehenden Ausführungen, der (vom Disziplinarrat jeweils zutreffend dargestellten) Chronologie des Geschehensablaufs und den Begleitumständen und waren insgesamt aus dem situativen Kontext abzuleiten.

Auf Grundlage der solcherart ergänzten, ansonsten unbedenklichen und von keiner Nichtigkeit betroffenen Feststellungen des Disziplinarrats (vgl dazu Ratz , WK StPO § 473 Rz 13) hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

[22] Der Rechtsanwalt ist nach § 9 Abs 1 zweiter Satz RAO befugt, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen, ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seinem Auftrag, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten.

[23] § 10 Abs 2 RAO verpflichtet den Rechtsanwalt allgemein, durch Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit in seinem Benehmen die Ehre und Würde des Ansehens des Standes zu wahren, nach § 49 RL BA ist dieses Gebot im Speziellen auch im Umgang mit Medien zu beachten.

[24] Von einem Rechtsanwalt ist demgemäß schon wegen seiner hohen Bildung und seiner Tätigkeit im Rahmen der Rechtspflege zu verlangen, sich nicht nur gegenüber einer Behörde eines sachlichen und korrekten Tones zu bedienen, sondern grundsätzlich auf vermeintliches Fehlverhalten einer Behörde mit sachlichen und juristischen Formulierungen zu reagieren und Beleidigungen sowie unnötige Angriffe zu unterlassen (vgl RIS Justiz RS0055208, RS0056183, sowie Feil/Wennig , Anwaltsrecht 8 § 9 RAO Rz 16). Wenn er sich mit seiner Kritik im Rahmen des Gesetzes hält und sie sachlich, ohne beleidigendes Beiwerk vorträgt, steht ihm jedoch wie jedem anderen Staatsbürger das Recht auf freie Meinungsäußerung zu (Art 10 Abs 1 MRK; vgl RIS Justiz RS0073088, RS0055003). Dieses Recht umfasst nach der ständigen Rechtsprechung sowohl des Obersten Gerichtshofs als auch des EGMR auch jene Ideen auszusprechen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen; dies verlangen Pluralismus, Toleranz und Weitsichtigkeit, ohne die es keine demokratische Gemeinschaft geben kann, und erfordert solcherart besondere Zurückhaltung bei der Beurteilung einer Äußerung eines Rechtsanwalts als strafbares Disziplinarvergehen ( Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek , RAO 11 , § 1 DSt Rz 61 mwN, vgl auch § 9 RAO Rz 16 ff mwN).

[25] Nicht exzessive Werturteile, die auf einem hinreichendem Tatsachensubstrat beruhen, werden in diesem Zusammenhang – wie im Medienrecht (vgl 15 Os 130/16f [15 Os 131/16b]) und im zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechtsschutz (vgl RIS Justiz RS0054817) – regelmäßig unbedenklich sein (vgl 23 Ds 3/19x, aber auch 24 Ds 20/22h). Rechtsfolgenbehauptungen – wie hier die Behauptung der Rechtswidrigkeit der Abschiebung – sind dabei nach ständiger Rechtsprechung jedenfalls dann als Werturteil zu qualifizieren, wenn sie nicht einfach und zweifelsfrei aus dem Gesetz abgeleitet werden können und deutlich zum Ausdruck kommt, dass es sich dabei um die (subjektive) Rechtsüberzeugung des Äußernden handelt (vgl RIS Justiz RS0112211).

[26] Zwar hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass Pressekonferenzen wie auch überhaupt mediale Ereignisse regelmäßig kein geeignetes Forum sind, Rechtsstandpunkte gegenüber einem Verfahrensgegner durchzusetzen ( Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek , RAO 11 , § 9 RAO Rz 20 mwN), doch gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung naturgemäß auch für Gespräche zwischen einem Rechtsanwalt und einem Journalisten (erneut RIS Justiz RS0055003).

Für den konkreten Fall folgt daraus:

[27] Nach den vom Obersten Gerichtshof ergänzend getroffenen Feststellungen brachte die beanstandete Äußerung zum Ausdruck, dass die Abschiebung (insbesondere) von T* T* rechtswidrig gewesen sei und der Innenminister dafür die Letztverantwortung getragen habe. Dies beruhte auf dem unstrittig wahren Tatsachensubstrat, dass die Abschiebung tatsächlich erfolgt und politisch wie rechtlich in den Verantwortungsbereich des Innenministers gefallen war. Die mit der Formulierung „Rechtsbrecher“ vorgenommene Qualifikation der Abschiebung als rechtswidrig war ein Werturteil, das im konkreten Zusammenhang (gerade) noch nicht als exzessiv anzusehen ist. Dabei ist ins Kalkül zu ziehen, dass der Beschuldigte sich in Zusammenhang mit den in Rede stehenden Abschiebungen, die bereits im Vorfeld zu Angelegenheiten von höchstem öffentlichen Interesse geworden waren, nicht aktiv an die Medien wandte. Er wurde vielmehr von Journalistinnen kontaktiert und reagierte über deren ausdrücklichen Vorhalt bloß auf öffentliche Äußerungen des Innenministers, der (aus seiner Sicht) falsche Rechtsbehauptungen aufgestellt und seinen Mandanten Rechtsbruch und Asylmissbrauch vorgeworfen hatte. Dabei verfolgte er zudem die Absicht, die Interessen der bereits Abgeschobenen und deren Ruf zu wahren (vgl zum Ganzen auch EGMR 23. 4. 2015 [gK], Bsw 29369/10; Morice/Frankreich ; vgl auch Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek , RAO 11 , § 9 RAO Rz 17 mwN).

[28] Auf Basis der dargestellten Grundsätze und des festgestellten Bedeutungsinhalts erweist sich die dem Beschuldigten vorgeworfene Äußerung als – wenn auch im Wortüberschwang (vgl VfSlg 13.122/1992, 16.267/2001; VfGH 12. Juni 2007, B 2114/06) erfolgte – zulässige Kritik, die sich (noch) innerhalb der von § 10 Abs 2 RAO, § 49 RL BA und Art 10 MRK umschriebenen Grenzen bewegt.

[29] Eine dadurch bewirkte Beeinträchtigung der Ehre oder des Ansehens des Standes liegt demnach nicht vor.

[30] In Stattgebung der Berufung des Beschuldigten wegen des Ausspruchs über die Schuld war daher wie aus dem Spruch ersichtlich mit Freispruch vorzugehen.

[31] Der in der Berufungsverhandlung gestellte Antrag des Beschuldigten auf „Vorführung des Interviews des damaligen Bundesministers * in der ZIB 2 vom 29. Jänner 2021“ zum Beweis dafür, „dass dieser den medialen Schauplatz gewählt hat, dass er den Asylwerbern einen Rechtsbruch zur Last gelegt hat und, dass die Aussage des Disziplinarbeschuldigten lediglich eine Replik auf dem von der Behörde gewählten Kanal war“, ist damit obsolet. Im Übrigen konnte das Beweisthema als erwiesen gelten (§ 55 Abs 2 Z 3 StPO iVm § 77 Abs 3 DSt).

[32] Mit ihren gegen den Ausspruch über die Strafe gerichteten Berufungen waren der Beschuldigte und der Kammeranwalt auf diese Entscheidung zu verweisen.

Rechtssätze
5