JudikaturJustiz1Ob60/22p

1Ob60/22p – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. April 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj S*, geboren am * 2011, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter J*, vertreten durch Mag. Elisabeth Mace, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 11. Jänner 2022, GZ 48 R 263/21p 80, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 25. Oktober 2021, GZ 1 Ps 110/18i 71, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1. Auch im Verfahren außer Streitsachen kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RIS Justiz RS0030748). Dieser Grundsatz ist im Pflegschaftsverfahren nur ausnahmsweise dann nicht anzuwenden, wenn das Aufgreifen eines Verfahrensfehlers zur Wahrung des Kindeswohls erforderlich ist (RS0030748 [T2, T5, T18]), was jeweils im konkreten Einzelfall zu beurteilen ist (vgl RS0030748 [T7]).

[2] 1.2. Die Revisionsrekurswerberin kritisiert, dass ein von ihr in erster Instanz vorgelegtes medizinisches Privatgutachten unberücksichtigt geblieben und keine Ergänzung des vom Gericht eingeholten Gutachtens angeordnet worden sei. Dem hielt aber schon das Rekursgericht entgegen, dass das Erstgericht seiner Entscheidung das unbedenkliche Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen zugrundelegen durfte, weil sich das Privatgutachten mit diesem nicht konkret auseinandersetzt. Die Revisionsrekurswerberin geht auf diese Begründung nicht ein und zeigt schon aus diesem Grund keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf. Ob das gerichtliche Sachverständigengutachten zu ergänzen gewesen wäre, ist im Übrigen eine in dritter Instanz nicht mehr bekämpfbare Frage der Beweiswürdigung (vgl RS0043163 [T8]).

[3] 1.3. Inwieweit das Rekursgericht (oder das Erstgericht) der Mutter kein rechtliches Gehör eingeräumt haben soll, wird im Revisionsrekurs nicht konkret dargelegt. Davon, dass „sämtliches Vorbringen und sämtliche Beweismittel [der Mutter] unberücksichtigt geblieben seien“, kann keine Rede sein. Sofern sie damit die Beweiswürdigung bekämpfen möchte, ist dies in dritter Instanz auch im Außerstreitverfahren unzulässig (RS0007236). Zum beanstandeten Unterbleiben ihrer ergänzenden Einvernahme führt die Revisionsrekurswerberin nicht aus, zu welchem konkreten Vorbringen diese erfolgen hätte sollen, sodass es schon an der erforderlichen Darlegung der Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers mangelt. Soweit die Mutter damit – wie in ihrem Rekurs – auf ihre Behauptung abstellen will, wonach der Vater die Kommunikation mit ihr verweigere, er sie gegenüber dem Kind als krank bezeichnet und ihr (nicht näher beschriebene) zynische und herablassende Mitteilungen übermittelt habe, übergeht sie, dass das Rekursgericht die rechtliche Relevanz dieses Vorbringens mit der Begründung verneinte, dass dies die Erziehungsfähigkeit des Vaters nicht beeinträchtige. Auf die Kritik der Revisionsrekurswerberin, sie sei vom Rekursgericht nicht über dessen „rechtliche Beurteilung informiert“ und ihr keine „Möglichkeit zur Stellungnahme“ eingeräumt worden, muss mangels näherer Darlegung des damit offenbar angesprochenen Erörterungsmangels nicht eingegangen werden. Soweit die Rechtsmittelwerberin kritisiert, dass das Kind vom Erstgericht nicht befragt und dessen „Lebenssituation nicht erhoben“ wurde, übersieht sie, dass es von der gerichtlich bestellten Sachverständigen eingehend – auch zu seinem bevorzugten Aufenthalt – befragt wurde.

[4] 1.4. Der gänzlich unsubstanziierte Vorwurf, das Rekursgericht sei vom „Grundsatz der Parteiendisposition“ abgewichen (wobei die Revisionsrekurswerberin an anderer Stelle die Verpflichtung des Gerichts zur Erforschung der materiellen Wahrheit hervorhebt), ist nicht nachvollziehbar. Da sich das Rekursgericht ausführlich mit den im Rekurs behaupteten Verfahrensmängeln auseinandergesetzt hat, kann ihm auch kein Begründungsmangel vorgeworfen werden. Zur behaupteten Aktenwidrigkeit enthält der Revisionsrekurs keine näheren Darlegungen, es bleibt auch offen, ob davon der erst oder der zweitinstanzliche Beschluss betroffen sein soll.

[5] 2. Die – von der Verfahrensrüge inhaltlich nicht klar abgegrenzte – Rechtsrüge beruht nicht auf den getroffenen Feststellungen. Die Beteuerung der Revisionsrekurswerberin, sie sei erziehungsfähig und in der Lage, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und darauf adäquat zu reagieren und sie fördere die Beziehung des Kindes zum Vater, steht mit diesen ebenso im Widerspruch, wie die Behauptung, dem Vater fehle es an der Erziehungsfähigkeit. Insgesamt vermag die Revisionrekurswerberin nicht aufzuzeigen, dass die Vorinstanzen die im Einzelfall zu beurteilende (vgl RS0115719) Frage, ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung hier erfüllt sind, in korrekturbedürftiger Weise gelöst und das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt hätte. Sie setzt sich auch nicht mit der rechtlichen Beurteilung des Rekursgerichts auseinander, wonach dem vom Minderjährigen geäußerten Wunsch, bei der Mutter wohnen zu wollen, im vorliegenden Fall keine entscheidende Bedeutung zukommt, weil dies seinem Wohl zuwiderlaufen würde (vgl RS0048820). Davon, dass das Rekursgericht die gebotene Zukunftsprognose (vgl RS0048632) unterlassen habe, kann keine Rede sein.

[6] 3. Der Revisionsrekurswerberin ist schließlich – wie schon vom Rekursgericht – entgegenzuhalten, dass sie zuletzt nicht die alleinige Obsorge anstrebte, sondern die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge beider Elternteile, worauf auch ihr Antrag im Revisionsrekurs gerichtet ist. Diese setzt aber ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern voraus (RS0128812), deren Fehlen (vor allem aufgrund der negativen Einstellung der Mutter dem Vater gegenüber) das Rekursgericht in unbedenklicher Weise angenommen hat.