JudikaturJustiz15Os70/20p

15Os70/20p – OGH Entscheidung

Entscheidung
30. September 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. September 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Schriftführerin Dr. Ondreasova, in der Strafsache gegen V***** S***** wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 12 dritter Fall, 15, 142 Abs 1, 143 Abs 1 erster und zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 12. November 2019, GZ 13 Hv 26/19i 135, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner und des Verteidigers Mag. Rachholz, zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde V***** S***** gemäß § 259 Z 3 StPO von der wider ihn erhobenen Anklage freigesprochen ,

er habe in W***** dadurch, dass er D***** B***** einen Revolver übergab, ihm sowie M***** Bo***** die Lenkung eines Fluchtwagens und Aufpasserdienste zusagte und leistete sowie bei der Auswahl der Tatobjekte mitwirkte, zur Ausführung der strafbaren Handlungen der Genannten beigetragen, die im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) in Wien mit Gewalt gegen Personen und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) unter Verwendung einer Waffe nachstehenden Personen fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich oder einen Dritten durch die Sachzueignung unrechtmäßig zu bereichern, weggenommen oder abgenötigt sowie wegzunehmen versucht (I./) haben, wobei sie die Raubüberfälle als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung unter Mitwirkung (§ 12 StGB) eines anderen Mitglieds dieser Vereinigung begingen, und zwar

I./ Ende November 2011, indem B***** mit verdecktem Gesicht und einer Faustfeuerwaffe und Bo***** mit verdecktem Gesicht und einer Gaspistole das Geschäftslokal des Juweliers Or***** zur Durchführung eines Raubüberfalls betreten wollten, wobei es aufgrund der versperrten Eingangstüre beim Versuch blieb;

II./ am 31. Dezember 2011, indem B***** und Bo***** maskiert die Tankstelle T***** betraten, Bo***** eine Gaspistole auf die Angestellten S***** H***** und C***** L***** richtete, Geld forderte, von H***** etwa 500 Euro Bargeld übernahm, sie zwang, einen Safe zu öffnen, ihr danach zweimal einen Schlag gegen den Kopf versetzte und neuerlich Geld forderte, woraufhin sie ihm ein Kuvert mit weiteren 10.200 Euro Bargeld aushändigte, und B***** sich zur Unterstützung im Fall der Gegenwehr im Bereich der Eingangstüre des Geschäftslokals aufhielt, wobei S***** diesen Raub vorgeschlagen und zwei Tage vor der Tat gemeinsam mit B***** die Tankstelle ausgekundschaftet habe ;

III./ am 28. Februar 2012, indem B***** und Bo***** maskiert die Tankstelle O***** betraten, Bo***** eine Gaspistole gegen den Angestellten I***** La***** richtete, Bo***** Geld forderte und aus der vom Opfer geöffneten Kassenlade etwa 250 Euro an sich nahm, nach einem Tresor fragte, das Opfer mehrmals gegen den Kopf schlug und danach eine Tasche mit 920 Euro Bargeld an sich nahm, wobei S***** mit B***** beim Auskundschaften der zu II./ genannten Tankstelle übereingekommen sei , dass es sich auch bei der O*****-Tankstelle um ein taugliches Objekt für einen Raub handelt;

IV./ am 10. März 2012, indem B***** mit aufgeklebtem Bart und Bo***** mit einer Baseballkappe maskiert das Geschäftslokal des Juweliers Or***** betraten, B***** einen Revolver auf den Angestellten Ü***** C***** richtete, Bo***** das Opfer unter Vorweisung einer Gaspistole in einen rückwärtigen Raum drängte, mit dem Griffstück der Pistole gegen dessen Kopf schlug und es mit Kabelbindern fesselte, während B***** Schmuck im Wert von zumindest 27.000 Euro an sich nahm, wobei S***** während der Tat mit B***** in ständigem Telefonkontakt gestanden habe .

Rechtliche Beurteilung

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3 und 4 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, der Berechtigung zukommt:

Die Verfahrensrüge aus Z 3 reklamiert zu Recht einen Verstoß gegen § 252 Abs 1 StPO, der durch die in der Hauptverhandlung am 12. November 2019 (ON 134 S 4) erfolgte Verlesung der Protokolle über die Vernehmungen des B***** und des Bo***** als Beschuldigte im Ermittlungsverfahren (ON 10 S 51 bis 93 und ON 29 S 93 bis 97 sowie ON 10 S 121 bis 147 und ON 29 S 79 bis 83) bewirkt wurde.

Gemäß der – hier allein in Rede stehenden – Z 1 des § 252 Abs 1 StPO dürfen (unter anderem) Protokolle über die Vernehmung von Zeugen bei sonstiger Nichtigkeit – soweit vorliegend r elevant – nur verlesen oder vorgeführt werden, wenn der Aufenthalt der Vernommenen unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen ihres Alters, wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit oder wegen entfernten Aufenthalts oder aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht bewerkstelligt werden konnte .

Welche Maßnahmen gesetzt werden müssen, um im Ausland aufhältige Beweispersonen zum persönlichen Erscheinen vor dem erkennenden Gericht zu veranlassen, damit im Fall der Erfolglosigkeit eine Unerreichbarkeit im aufgezeigten Sinn vorliegt und eine Verlesung iSd § 252 Abs 1 Z 1 StPO zulässig ist, unterliegt der Einzelfallbeurteilung. D ie Voraussetzungen für die Verlesung sind dabei umso restriktiver zu handhaben, je wichtiger der fragliche Zeugenbeweis für die Wahrheitsfindung ist und je schwerer der dem Angeklagten zur Last liegende Vorwurf wiegt (RIS-Justiz RS0108361; Kirchbacher , WK-StPO § 252 Rz 61 ff; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 231).

Zutreffend weist die Beschwerdeführerin darauf hin, dass die Wohnadressen der (nunmehrigen) Zeugen B***** und Bo***** in Serbien bekannt waren (vgl ON 10 S 51 und S 121, ON 105 S 5 und ON 111 S 1). Anhaltspunkte dafür, dass die Genannten einer Ladung nicht Folge leisten können (oder wollen), liegen – entgegen der Meinung des Erstgerichts – nicht vor. B***** und Bo***** wurden rechtskräftig wegen der Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB zu Freiheitsstrafen verurteilt, wobei jeweils vom weiteren Vollzug dieser Strafen wegen Aufenthaltsverbots gemäß § 133a StVG vorläufig abgesehen wurde. Das gegen die Genannten jeweils bestehende Aufenthaltsverbot in Österreich stellt aber für sich allein kein tatsächliches, sondern bloß ein vom Willen inländischer Behörden abhängiges „Hindernis“ und damit keinen erheblichen Grund dar, der eine sofortige Verlesung früherer Angaben gestattet (RIS Justiz RS0098229 [T1]; Kirchbacher , WK-StPO § 252 Rz 62). Bleibt anzumerken, dass § 27a Abs 2 FPG die Möglichkeit vorsieht, nicht der Visumspflicht unterliegenden Fremden während der Gültigkeitsdauer eines Einreise- oder Aufenthaltsverbots auf Antrag die Bewilligung zur Wiedereinreise (für eine sachlich gebotene Gültigkeitsdauer) zu erteilen, wenn dies (neben weiteren Voraussetzungen unter anderem) aus wichtigen öffentlichen Gründen – wie etwa der Zeugenaussage in einem Strafprozess (vgl EBRV 952 BlgNR 22. GP 102) – notwendig ist. Eine solche Bewilligung steht für die Dauer ihrer Gültigkeit einer Fortsetzung des Strafvollzugs wegen unerlaubter Wiedereinreise nach § 133a Abs 5 StVG im Übrigen entgegen ( Pieber in WK 2 StVG § 133a Rz 30/1).

Vorliegend hat das Erstgericht nicht einmal versucht , die genannten Personen durch Ladungen zum persönlichen Erscheinen vor dem erkennenden Schöffengericht zu veranlassen (vgl ON 1 S 45 f, ON 102), sondern nur Erhebungen zu deren Aufenthaltsorten in Serbien und zur für eine „allfällige Einvernahme im Wege einer Videokonferenz zuständige(n) Stelle in Serbien“ veranlasst (vgl ON 101, siehe zu den am 21. März 2019 bei Gericht eingelangten entsprechenden Informationen ON 105).

Mit Blick auf die Schwere der gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe und die Wichtigkeit der A ussagen der genannten Zeugen für die Wahrheitsfindung lagen daher gegenständlich mangels geeigneter Maßnahmen, das persönliche Erscheinen der beiden Zeugen zu veranlassen, die Voraussetzungen für die Durchbrechung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nach § 252 Abs 1 Z 1 StPO nicht vor.

Bleibt zu der vom Erstgericht (allein) in Aussicht genommenen Vernehmung der Genannten unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung im Rechtshilfeweg gemäß § 247a Abs 2 StPO (s ON 111, 115, 116, 123; vgl auch US 6) anzumerken, dass deren Scheitern die Frage der Verlesungsermächtigung nach § 252 Abs 1 Z 1 StPO nicht tangiert (vgl Kirchbacher , WK-StPO § 247a Rz 8 f und § 252 Rz 64; RIS-Justiz RS0127314). Darüber hinaus ist die – ein Surrogat der unmittelbaren persönlichen Befragung vor dem erkennenden Gericht darstellende – Vernehmung in Form einer Videokonferenz (im Rechtshilfeweg) im gegebenen Zusammenhang nur zulässig, wenn ein Zeuge wegen seines Aufenthalts im Ausland nicht in der Lage oder nicht willens ist, vor Gericht zu erscheinen.

Die durch die Verlesung der Protokolle über die Vernehmungen des B***** und des Bo***** in der Hauptverhandlung am 12. November 2019 bewirkte Formverletzung vermochte erkennbar einen die Anklage beeinträchtigenden Einfluss auf die Entscheidung zu üben. Denn die Tatrichter haben mit Rücksichtnahme auf die verlesenen, den Angeklagten teilweise be- und teilweise entlastenden Aussagen – trotz weiterer von ihnen berücksichtigter Beweisergebnisse, wie einer sichergestellten „DNA-Spur des Angeklagten auf der beim Raub verwendeten Tasche“ und von Beobachtungen eines Telefonats des B***** während des Überfalls am 10. März 2012 – aufgrund des Fehlens eines (von ihnen selbst als wesentlich eingeschätzten [vgl US 6 f]) unmittelbaren Eindrucks von den beiden Tatbeteiligten und „im Hinblick auf die [in] sich und auch gegenüber einander nicht kongruenten Angaben der Zeugen“ eine Beteiligung des Angeklagten „nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit“ feststellen können (US 4 f).

Es war daher das Urteil aufzuheben, eine neue Hauptverhandlung anzuordnen und die Sache an das Landesgericht für Strafsachen Wien zu verweisen (§ 285c Abs 2 StPO).

Damit erübrigt sich ein Eingehen auf die weiteren Beschwerdeargumente.

Rechtssätze
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