JudikaturJustiz15Os34/06y

15Os34/06y – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. Mai 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Mai 2006 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek, Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Hennrich als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dima M***** wegen des Vergehens des versuchten Diebstahles nach §§ 15, 127 StGB, GZ 30 U 305/03x-19 des Bezirksgerichtes Favoriten, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen 1. die Nichtermittlung des gesetzlichen Vertreters des jugendlichen Beschuldigten, 2. die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung ohne Beiziehung eines Verteidigers und 3. die Beigebung eines Verteidigers „als gesetzlicher Vertreter" für den mittlerweile volljährigen Verurteilten sowie die Zustellung einer Ausfertigung des Urteils an diesen, in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Aicher, der Verteidigerin Dr. Scheimpflug, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren 30 U 305/03x des Bezirksgerichtes Favoriten verletzen:

1./ die Unterlassung der Ermittlung des gesetzlichen Vertreters des jugendlichen Beschuldigten Dima M***** sowie die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung am 5. Mai 2004 ohne Beiziehung entweder eines gesetzlichen Vertreters, dessen Aufenthalt bekannt und im Inland gelegen ist, oder in Ermangelung dessen eines beizugebenden Verteidigers § 38 Abs 2 JGG und § 39 Abs 1 Z 2 iVm § 38 Abs 5 Z 1 letzter Halbsatz JGG;

2./ der Beschluss vom 6. April 2005 auf Beigebung eines Verteidigers „als gesetzlicher Vertreter" (ON 22) für den mittlerweile volljährig gewordenen Verurteilten und die Zustellung einer Ausfertigung des Urteils an diesen Verteidiger § 39 Abs 1 Z 2 iVm § 38 Abs 5 Z 1 letzter Halbsatz JGG.

Das Urteil des Bezirksgerichtes Favoriten vom 5. Mai 2004, GZ 30 U 305/03x-19, wird aufgehoben und die Sache zur Verfahrenserneuerung an das Bezirksgericht Favoriten verwiesen.

Text

Gründe:

In der Jugendstrafsache zu AZ 30 U 305/03x des Bezirksgerichtes Favoriten wurde der am 5. Dezember 1986 geborene jugendliche Dima M***** mit Urteil vom 5. Mai 2004 (ON 19) des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Wochen verurteilt. Beim Beschuldigten handelte es sich um einen Asylwerber russischer Staatsangehörigkeit, von dessen Eltern lediglich die Vornamen bekannt waren (S 5). Ermittlungen nach dem - allenfalls im Inland befindlichen - Aufenthalt der Eltern wurden nach der Aktenlage nicht geführt. Der jugendliche Beschuldigte war im Verfahren weder anwaltlich vertreten noch hat ein gesetzlicher Vertreter am Verfahren mitgewirkt. Das Urteil wurde vorerst in gekürzter Form ausgefertigt und das Protokoll durch einen Vermerk ersetzt (§ 458 StPO; ON 10). Am 10. März 2005 stellte die Bezirksrichterin in einem Aktenvermerk fest, dass zur Hauptverhandlung „kein gesetzlicher Vertreter des Jugendlichen geladen" und das Urteil einem solchen Vertreter auch nicht zugestellt worden war. Gleichzeitig verfügte sie die Übertragung des Protokolls (S 1c verso). Nachdem am 14. März 2005 ein Protokoll hergestellt worden war (ON 10a), fertigte die Bezirksrichterin das Urteil aus (ON 19). Schließlich verfügte sie am 6. April 2005 mit Beschluss die Beigebung eines Verteidigers mit den Rechten des gesetzlichen Vertreters (§ 38 Abs 5 Z 1 JGG) für den mittlerweile volljährigen Verurteilten (ON 22) sowie - nach Bekanntgabe der Person des Verteidigers durch den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Wien - die Zustellung des Bestellungsbescheides und einer Ausfertigung des Urteils an diesen. Ein Rechtsmittel gegen das Urteil wurde nicht ergriffen.

Rechtliche Beurteilung

Das vorliegende Strafverfahren steht - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde im Wesentlichen zutreffend aufzeigt - mit dem Gesetz nicht im Einklang. Der gesetzliche Vertreter eines jugendlichen Beschuldigten ist nach Maßgabe des § 38 JGG zur Mitwirkung am Strafverfahren berechtigt. Gemäß § 38 Abs 2 JGG sind dem Erziehungsberechtigten unter anderem der Strafantrag und das Urteil zuzustellen und er ist von der Anordnung einer mündlichen Verhandlung mit dem Beifügen zu benachrichtigen, dass seine Teilnahme empfohlen werde. Der gesetzliche Vertreter hat auch das eigenständige Recht zur Anfechtung des Urteils (§ 38 Abs 3 JGG). Um diese Rechtsmittelbefugnis überhaupt ausüben zu können, ist eine Bekanntmachung des Urteils an den gesetzlichen Vertreter erforderlich. All dies gilt nach § 38 Abs 2 erster Satz letzter Halbsatz JGG aber nur dann, wenn der Aufenthalt des gesetzlichen Vertreters bekannt und im Inland gelegen ist. Kann dem Jugendlichen jedoch im Strafverfahren kein gesetzlicher Vertreter beistehen, so gehen gemäß § 38 Abs 5 Z 1 letzter Halbsatz JGG dessen Rechte auf den - diesfalls auch im bezirksgerichtlichen Verfahren gemäß § 39 Abs 1 Z 2 JGG von Amts wegen beizugebenden - Verteidiger über (Schroll in WK2 § 38 JGG Rz 13 und 15 sowie § 39 JGG Rz 12). Die Einschränkung des § 38 Abs 2 erster Satz letzter Halbsatz JGG enthebt das Strafgericht freilich nicht von der Verpflichtung, auch bei jugendlichen Beschuldigten ohne österreichische Staatsbürgerschaft vorweg Erhebungen (etwa im Wege der Sicherheitsbehörde) zu führen, ob es einen bekannten inländischen Aufenthaltsort des gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen gibt (WK2 § 38 JGG Rz 3).

Wenn diese Erhebungen zu keinem positiven Ergebnis führen, ist das Bezirksgericht verpflichtet, dem jugendlichen Beschuldigten im Interesse der Rechtspflege, vor allem zur Wahrung seiner Rechte, gemäß § 39 Abs 1 Z 2 JGG von Amts wegen einen Verteidiger beizugeben (notwendige Verteidigung), dem dann auch die Rechte des gesetzlichen Vertreters nach § 38 Abs 5 Z 1 letzter Halbsatz JGG zukommen (WK2 § 38 Rz 4, § 39 JGG Rz 12).

Da dies alles aber nicht geschehen ist, erweisen sich die Durchführung der Hauptverhandlung vom 5. Mai 2004 sowie die anschließende Urteilsfällung als verfehlt.

Eine zusätzliche Verpflichtung des Strafgerichts zur Verständigung des Pflegschaftsgerichts, um diesem zu ermöglichen „Vorsorge nach § 187 ABGB zu treffen oder ein Vorgehen nach § 211 ABGB zu veranlassen", ist freilich - der Beschwerde zuwider - aus dem Gesetz nicht abzuleiten (aM 11 Os 26/06t).

Indem die Bezirksrichterin dem Beschuldigten erst mit Beschluss vom 6. April 2005 (ON 22) von Amts wegen einen Verteidiger „als gesetzlicher Vertreter" beigab und diesem das Urteil zustellte, nachdem der Beschuldigte bereits mit 5. Dezember 2004 volljährig geworden war, verkannte sie, dass die - nach zivilrechtlichen Gesichtspunkten zu bestimmende - Obsorge und damit die gesetzliche Vertretung nur bis zur Volljährigkeit besteht (§§ 21 Abs 2, 172 ABGB), weshalb auch die Mitwirkungsrechte nach § 38 JGG nur bis zum Ablauf des 18. Lebensjahres gelten und nach dem 18. Geburtstag des Beschuldigten auch eine die Mitwirkungsrechte des gesetzlichen Vertreters substituierende Verteidigerbestellung nach §§ 38 und 39 JGG nicht mehr in Betracht kommt (Schroll in WK2 § 38 JGG Rz 22 und § 39 Rz 1).

Weil unter den gegebenen Umständen nicht auszuschließen ist, dass sich die Durchführung der Hauptverhandlung vom 5. Mai 2004 ohne Mitwirkung eines gesetzlichen Vertreters oder eines Verteidigers zum Nachteil des damals jugendlichen Beschuldigten ausgewirkt hat, war das in der Hauptverhandlung ergangene (und unangefochten gebliebene) Urteil aufzuheben und insoweit die Verfahrenserneuerung anzuordnen. Gleichwohl kommt - wie bereits dargelegt - im erneuerten Verfahren § 38 JGG für den mittlerweile über 18-jährigen Beschuldigten nicht mehr zum Tragen.

Rechtssätze
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