JudikaturJustiz15Os154/13f

15Os154/13f – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Februar 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Februar 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Dr. Michel Kwapinski und Mag. Fürnkranz als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Ent als Schriftführer in der Strafsache gegen Nicole E***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB, AZ 27 U 3/12f des Bezirksgerichts Salzburg, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Beschwerdegericht vom 13. August 2013, AZ 43 Bl 95/13b (ON 37), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, und des Verteidigers Mag. Hochberger, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Beschwerdegericht vom 13. August 2013, AZ 43 Bl 95/13b (ON 37), verletzt § 199 StPO iVm § 198 Abs 1 und Abs 2 Z 2 StPO.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

Der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Salzburg gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 9. Juli 2013, GZ 27 U 2/12f 33, wird nicht Folge gegeben.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 27 U 3/12f des Bezirksgerichts Salzburg beantragte die Staatsanwaltschaft Salzburg die Bestrafung der Nicole E***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB, weil die Genannte am 28. Oktober 2011 in Salzburg auf der Kreuzung H*****weg/K*****-Gasse als Pkw-Lenkerin infolge Außerachtlassung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit nach dem Einfahren in den H*****weg wieder rückwärts in den Kreuzungsbereich fuhr, dort die Radfahrerin Ingeborg B***** mit dem Heck ihres Pkws erfasste, zu Boden stieß und dadurch fahrlässig am Körper verletzte, wobei die Tat eine schwere Verletzung, nämlich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, einen Bruch des Scheitelbeins und Hinterhauptbeins links sowie Hämatome und Prellungen am Körper zur Folge hatte (ON 4).

Mit Beschluss vom 18. April 2013, GZ 27 U 3/12f 25, stellte das Bezirksgericht Salzburg das gegen Nicole E***** geführte Strafverfahren gemäß § 200 Abs 5 StPO iVm § 199 StPO ein, nachdem diese die ihr im Rahmen eines Diversionsanbots auferlegten Pflichten durch Zahlung von 2.500 Euro an Geldbuße und von 200 Euro an „Teilschmerzengeld“ erfüllt hatte. Danach sei bei der unbescholtenen und einsichtigen Angeklagten weder eine schwere Schuld noch ein sonstiges Diversionshindernis auszumachen.

Das Landesgericht Salzburg gab der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 27) mit Beschluss vom 17. Mai 2013, AZ 43 Bl 60/13f (ON 29), Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens auf. Nach Ansicht des Rechtsmittelgerichts stand einer diversionellen Erledigung der (insgesamt) erhebliche soziale Störwert der Tat entgegen, weil die Angeklagte „im Schritttempo bei für sie ungünstigen Sichtverhältnissen und erhöhten Anforderungen zur Verkehrsbeobachtung, wonach insbesondere Blicke durch die Seitenscheiben nötig gewesen wären, rückwärts in eine in einer Wohnstraße befindliche Kreuzung eingefahren sei und dabei die sich langsam annähernde 88 jährige Radfahrerin übersehen und erst im Kollisionszeitpunkt bemerkt“ habe und die schweren Verletzungen des Opfers, insbesondere das Schädel-Hirn-Trauma mit ausgedehnten Hirnblutungen, nicht mehr ausgleichbar seien. Handlungs- und Erfolgsunwert würden im konkreten Fall daher zur ausnahmsweisen Annahme des Diversionshindernisses der „schweren Schuld“ (§ 198 Abs 2 Z 2 StPO) führen.

In der Hauptverhandlung vom 25. Juni 2013, in welcher die Angeklagte erneut den ihr unterlaufenen Sorgfaltsverstoß beim Rückwärtsfahren zugestand und die Durchführung einer Diversion beantragte (ON 31 AS 3), erörterte das Erstgericht die bisherigen Verfahrensergebnisse insbesondere vom Unfallsort angefertigte Lichtbilder (ON 3) und stellte (bei Zahlung einer Geldbuße von 2.700 Euro und 200 Euro an Teilschmerzengeld) nochmals ein Vorgehen nach dem 11. Hauptstück in Aussicht (ON 31, AS 7).

Mit Beschluss vom 9. Juli 2013, GZ 27 U 3/12f 33, stellte das Bezirksgericht Salzburg das Strafverfahren gegen Nicole E***** zufolge Erfüllung der ihr auferlegten Verpflichtungen (erneut) gemäß § 200 Abs 5 iVm § 199 StPO ein. Demzufolge ereignete sich der Verkehrsunfall nicht etwa in einer Wohnstraße, sondern auf dem H*****weg, auf welchem die Angeklagte rückwärts fuhr, als die Radfahrerin Ingeborg B***** aus einer Wohnstraße, nämlich der K*****-Gasse, herausfuhr. Der Bezirksrichter verneinte das Vorliegen general- oder spezialpräventiver Diversionshindernisse und nahm an, dass bei der unbescholtenen und Mitverantwortung für das Unfallgeschehen übernehmenden Angeklagten das bisherige Strafverfahren sowie die Zahlung einer Geldbuße ausreichten, um sie von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.

Einer dagegen gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 34) gab das Landesgericht Salzburg mit Beschluss vom 13. August 2013, AZ 43 Bl 95/13b (ON 37), neuerlich Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Bezirksgericht Salzburg die Fortsetzung des Verfahrens auf. Zur Begründung verwies das Rechtsmittelgericht auf seine Ausführungen im Beschluss vom 17. Mai 2013 und erklärte, „aus den dort angeführten Argumenten“ weiterhin von einem „erheblichen sozialen Störwert“ der Tat und solcherart vom Vorliegen einer „schweren Schuld“ (§ 198 Abs 2 Z 2 StPO) auszugehen, weil die Angeklagte „rückwärts in eine in einer Wohnstraße befindliche Kreuzung eingefahren“ sei.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht dieser Beschluss des Landesgerichts Salzburg mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Ein Vorgehen nach dem 11. Hauptstück der StPO setzt neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt und dem Fehlen spezial- und generalpräventiver Notwendigkeit der Bestrafung (§ 198 Abs 1 StPO) unter anderem eine als nicht schwer anzusehende Schuld des Beschuldigten voraus (§ 198 Abs 2 Z 2 StPO).

Das Diversionshindernis der „schweren Schuld“ ist vom Strafbefreiungshindernis des „schweren Verschuldens“ im Sinn des § 88 Abs 2 StGB zu unterscheiden. Während das „schwere Verschulden“ nach § 88 Abs 2 StGB ganz spezifisch auf die fahrlässige Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB abstellt, bezieht sich das Diversionshindernis der „schweren Schuld“ auf den gesamten Einzugsbereich der einer diversionellen Erledigung zugänglichen Straftaten (RIS Justiz RS0122090 [T1]; Schroll , WK-StPO § 198 Rz 23a).

Solcherart ist bei der Bewertung des Grades der Schuld als „schwer“ von jenem Schuldbegriff auszugehen, der nach §§ 32 ff StGB die Grundlage für die Strafbemessung bildet, wobei stets nach Lage des konkreten Falls eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. „Schwere“ Schuld liegt vor, wenn Handlungs-, Erfolgs- und Gesinnungsunwert insgesamt eine Unwerthöhe erreichen, die im Wege einer überprüfenden Gesamtwertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist (RIS-Justiz RS0116021), wobei der vom Gesetzgeber in der Strafdrohung zum Ausdruck gebrachten Vorbewertung des deliktstypischen Unrechts- und Schuldgehalts Indizwirkung zukommt (RIS Justiz RS0122090 [T7]; Schroll , WK-StPO § 198 Rz 28 mwN).

Bei Delikten mit geringen Strafobergrenzen somit in erster Linie bei Fahrlässigkeitsdelikten ist angesichts des vom Gesetzgeber bereits durch die geringe Strafobergrenze (im Fall des § 88 Abs 4 erster Fall StGB sechs Monate Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätze) zum Ausdruck gebrachten geringen sozialethischen Vorwurfs nur in besonderen Ausnahmefällen nämlich bei Vorliegen gewichtiger erschwerender Umstände ein Diversionshindernis gegeben. Dies etwa dann, wenn ein gravierender (nicht nur in der Verletzung bestimmter Verkehrsvorschriften gelegener) Sorgfaltsverstoß vorliegt, der einen Schadenseintritt mehr als wahrscheinlich erscheinen lässt, wobei die Tat mit einem erheblichen sozialen Störwert einhergehen muss (RIS-Justiz RS0122090 [insbes T6]; Schroll , WK-StPO § 198 Rz 29 und 31; ders , Judikatur zu den Anwendungsvoraussetzungen der Diversion, ÖJZ 2013, 861 [862]; Burgstaller , Die strafrechtliche Seite des Verkehrsunfalls und ihre Erledigung mittels Diversion, ZVR 2009, 467 ff [471]; Schwaighofer , Diversion nach Straßenverkehrsunfällen, ZVR 2008, 276 ff [279 f]).

Wenngleich das hier in Rede stehende, der allgemeinen Fahrordnung zuwiderlaufende Rückwärtsfahren gerade im Kreuzungsbereich besondere Vorsicht und Rücksichtnahme auf den übrigen Verkehr erfordert (§ 14 Abs 3 StVO; RIS-Justiz RS0073932), kann in dem der Angeklagten aktuell angelasteten Verstoß gegen dieses Verkehrsgebot ein außergewöhnlich gravierender Sorgfaltsverstoß bzw besonders krasser Aufmerksamkeitsfehler noch nicht erblickt werden. Die im Straßenverkehr keinesfalls untypische Nachlässigkeit bei der Beobachtung anderer Verkehrsteilnehmer alleine verkörpert auch noch keinen erheblichen sozialen Störwert, der einen im Sinn des § 198 Abs 2 Z 2 StPO qualifizierten Schuldvorwurf begründen würde (vgl Schroll , Diversion bei Verkehrsunfällen, Der Sachverständige 3/2003 139 [143 f]; Burgstaller/Schütz in WK² § 88 Rz 51 und 72 f; Schwaighofer , Diversion nach Straßenverkehrsunfällen, ZVR 2008, 280; 11 Os 64/12i).

Da sich bei der wie hier bloß fahrlässigen Herbeiführung eines deliktischen Erfolgs (§ 88 Abs 4 erster Fall StGB) selbst bedeutsame Folgen nur minimal auf die Schuldschwere auswirken ( Schroll , WK-StPO § 198 Rz 16; Schwaighofer , Diversion nach Straßenverkehrsunfällen, ZVR 2008, 279 f), führen auch die massiven Verletzungen des Opfers nicht eo ipso zur Annahme einer schweren Schuld.

Spezialpräventive Diversionshindernisse wurden nicht angenommen. Generalpräventive Bedenken stünden einem Vorgehen nach §§ 198 ff StPO nur entgegen, wenn keine Diversionsform der Bevölkerung ein ausreichendes Signal der Rechtsbewährung vermitteln könnte ( Schroll , WK StPO § 198 Rz 41; RIS-Justiz RS0123346; 11 Os 64/12i), was angesichts der bezahlten Geldbuße nicht in Rede steht.

Da sich die Beschwerdeentscheidung des Landesgerichts Salzburg zum Nachteil der Nicole E***** auswirkte, war die Feststellung der Gesetzesverletzung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit der aus dem Spruch ersichtlichen konkreten Wirkung zu verknüpfen.

Rechtssätze
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