JudikaturJustiz14Os2/22h

14Os2/22h – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. April 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 26. April 2022 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Wagner in der Strafsache gegen * F* wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 erster Fall und 4 zweiter Fall StGB, AZ 6 Hv 68/20d des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über den Antrag der Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 3. August 2020, GZ 6 Hv 68 /20d 19, wurde * F* des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 erster Fall und 4 zweiter Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt.

[2] Danach hat sie am 19. Dezember 2019 in G* * I* dadurch grob fahrlässig schwer am Körper verletzt, dass sie mit der von ihr gelenkten Straßenbahn unter Missachtung des Haltesignals in die Kreuzung * einfuhr, zu spät bremste und mit dem die Straße am Zebrastreifen überquerenden I* kollidierte, wodurch dieser Verletzungen am Bein erlitt, welche die Amputation des linken Unterschenkels zur Folge hatten.

[3] Der dagegen von der Angeklagten ergriffenen Berufung wegen Nichtigkeit und der Aussprüche über die Schuld und die Strafe gab das Oberlandesgericht Graz mit Urteil vom 7. Juli 2021, AZ 9 Bs 412/20m, keine Folge (ON 34).

Rechtliche Beurteilung

[4] Dagegen richtet sich der eine Verletzung der Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit d, Art 7 MRK sowie Art 1 des 1. ZPMRK und Art 2 des 7. ZPMRK behauptende, nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützte Antrag der Verurteilten auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a StPO.

[5] Grundlage eines Erneuerungsantrags im (wie hier) erweiterten Anwendungsbereich (vgl RIS Justiz RS0122228) ist eine als grundrechtswidrig bezeichnete (letztinstanzliche) Entscheidung oder Verfügung eines dem Obersten Gerichtshof untergeordneten Strafgerichts (vgl dazu Rebisant , WK StPO § 363c Rz 34 ff). Der A ntrag hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 7 § 13 Rz 16; zur sinngemäßen Geltung aller gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen vgl RIS Justiz RS0122737) – eine Grundrechtsverletzung deutlich und bestimmt darzulegen (RIS Justiz RS0122737 [T17]) und sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS Justiz RS0124359).

[6] Die Behandlung eines Erneuerungsantrags bedeutet daher nicht die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung oder Verfügung nach Art einer zusätzlichen Beschwerde- oder Berufungsinstanz. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Prüfung der reklamierten Verletzung eines Rechts nach der MRK oder einem ihrer Zusatzprotokolle (vgl RIS Justiz RS0129606 [T2, T3], RS0132365).

[7] Diesen Anfechtungsumfang vernachlässigt die Erneuerungswerberin, indem sie – ohne nachvollziehbaren Bezug zu einem Grundrecht (vgl aber RIS Justiz RS0128393 [T2]) – in einer „Mängelliste im Verfahren“ das Gutachten des (der Hauptverhandlung durch Vernehmung beigezogenen [ON 18 S 3 f]) Sachverständigen kritisiert, das Fehlen von Hinweisen auf die Verletzungskausalität des verspäteten Bremsvorgangs moniert, eine Berücksichtigung der Sichtverhältnisse im Unfallzeitpunkt vermisst, eine falsche Schaltung der Ampelanlage andeutet sowie den Beweiswert der Aussagen der „Zeugen aus den Querstraßen“ in Zweifel zieht, teils mit eigenen Schlussfolgerungen aus den Zeugenaussagen die Erwägungen des Berufungsgerichts zur Begründetheit der Schuldberufung in Frage stellt und dem Berufungsgericht Rechtsfehler bei der Anwendung der StVO vorwirft.

[8] Soweit der Erneuerungsantrag – unter anderem mit nicht nachvollziehbarem Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR zu (richtig:) Art 4 7. ZPMRK – einen Anspruch auf Beweiswiederholung durch das Berufungsgericht reklamiert, macht er nicht klar, weshalb der den Zugang zu einem Gericht absichernde Art 6 MRK ein Recht auf eine zweite Instanz einräumt (vgl RIS Justiz RS0074613) und warum (ungeachtet des Gesetzesvorbehalts im letzten Satz des Art 2 Abs 1 7. ZPMRK) ein generelles (Grund )Recht auf Beweisaufnahme im Berufungsverfahren (vgl §§ 473 Abs 2, 489 Abs 1 StPO) bestehen sollte (RIS Justiz RS0132214; vgl Grabenwarter/Pabel , EMRK 7 § 24 Rz 171).

[9] Eine Verletzung von Art 6 Abs 1 MRK erblickt der EGMR im Übrigen nur dann, wenn das Berufungsgericht (bei voller Kognitionsbefugnis in der Schuldfrage) von der Beweiswürdigung des Erstgerichts zum Nachteil des Angeklagten ohne unmittelbare Beweisaufnahme abweicht (vgl erneut RIS Justiz RS0132214; EGMR 29. 3. 2016, 61112/12, Gómes Olmeda/Spanien [Z 33 ff]; Wiederin , WK StPO § 6 Rz 65). Im vorliegenden Fall hegte das Berufungsgericht keine Bedenken gegen vom Erstgericht festgestellte entscheidende Tatsachen (samt Würdigung der Verfahrensergebnisse) und fand es auch nicht notwendig, den Bezugspunkt der Beweiswürdigung durch neue Zeugen oder Sachverständige (oder Sachbeweise und in § 252 Abs 2 StPO genannte Beweismittel) zu erweitern (ON 34 [insbes] S 4). Mit bloßer Beweiswürdigungskritik, eigenen Erwägungen zur Überzeugungskraft von Verfahrensergebnissen (insbes des Sachverständigengutachtens) und der Behauptung, das Berufungsgericht hätte das in erster Instanz Vorgekommene ohne Beweiswiederholung nicht beurteilen dürfen (vgl aber zu § 473 Abs 2 StPO 11 Os 82/18w, EvBl 2019/7, 39 [ Ratz ]), wird ein diesem anzulastender Verstoß gegen das Willkürverbot (vgl RIS Justiz RS0129981) nicht zur Darstellung gebracht.

[10] Der (im Übrigen erstmals erhobene [vgl aber RIS Justiz RS0122737]) Einwand, das Erstgericht sei wegen offenkundiger Fehlleistungen des Wahlverteidigers zum Einschreiten verpflichtet gewesen, erklärt nicht, weshalb dessen Verhältnis zur Angeklagten vom Schutzbereich des Art 6 Abs 3 lit c MRK umfasst sein soll (14 Os 51/12z; vgl zur Geltendmachung des Fehlens ordnungsgemäßer Pflichtverteidigung im Rahmen der Urteilsanfechtung Ratz , WK StPO § 281 Rz 163 und 315).

[11] Der (ebenfalls neue [vgl jedoch abermals RIS Justiz RS0122737]) Vorwurf struktureller Befangenheit des Sachverständigen aufgrund seiner Tätigkeit für die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren lässt offen, weshalb (gemeint) Art 6 Abs 3 lit d MRK trotz des in der Abstandnahme von einem Verlangen um Sachverständigenbestellung im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme nach § 126 Abs 5 erster Satz StPO (siehe ON 1 S 1 [= Verfügung der Zustellung der eine Information iSd § 126 Abs 3 letzter Satz StPO enthaltenden Sachverständigenbestellung ON 3 an die Erneuerungswerberin „zur Äußerung“]) gelegenen (stillschweigenden) Grundrechtsverzichts (RIS Justiz RS0131744; Ratz , Initiative, Bestellung und Führung beim Sachverständigenbeweis der StPO, ÖJZ 2018, 951 [956]) verletzt sein soll.

[12] In Betreff der Reklamation einer Verletzung von Art 1 1. ZPMRK ist der Antrag wiederum mangels horizontaler Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, weil eine diesbezügliche Konventionsverletzung im Instanzenzug nicht behauptet wurde (vgl erneut RIS Justiz RS0122737). Im Übrigen legt der Antrag nicht substantiiert dar, inwiefern durch die angefochtene Entscheidung von Art 1 1. ZPMRK garantierter Eigentumsschutz verletzt worden sein könnte, sodass es an einem nachvollziehbaren Bezug zum reklamierten Grundrecht fehlt (vgl RIS Justiz RS0124359 [T2]).

[13] Gleiches gilt für den – auf Basis eigener Tatsachenfeststellungen entwickelten (vgl aber RIS Justiz RS0125393 [T1]) – Einwand einer Verletzung des Art 7 MRK aufgrund rechtsfehlerhafter Beurteilung des Fahrverhaltens der Angeklagten.

[14] Zum „Antrag auf Entschädigung nach Art 41 EMRK“ ist darauf zu verweisen, dass (im gegebenen Zusammenhang) ein Freispruch oder die Verhängung einer milderen Strafe im erneuerten Verfahren Anspruchsvoraussetzung für einen Entschädigungsanspruch nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG sind ( Rebisant , WK StPO § 363c Rz 136; vgl zum antragsgebundenen Kostenbeitrag nach § 393a StPO 13 Os 33/21h).

[15] Der solcherart unzulässige Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung in sinngemäßer Anwendung des Art 35 Abs 3 MRK zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).

Rechtssätze
5