JudikaturJustiz14Os104/95

14Os104/95 – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. August 1995

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29.August 1995 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr.Massauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schindler, Dr.Mayrhofer, Dr.Ebner und Dr.E.Adamovic als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag.Wlattnig als Schriftführer, in der Strafsache gegen Brigitte S***** wegen des Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 und Abs 3 zweiter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Schöffengericht vom 27.März 1995, GZ 12 Vr 207/94-37, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Jerabek, und des Verteidigers Mag.Kerschbaumer, jedoch in Abwesenheit der Angeklagten zu Recht erkannt:

Spruch

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

Brigitte S***** wird von der Anklage, sie habe von November 1993 bis 3. März 1994 in Mürzzuschlag im bewußten und gewollten Zusammenwirken mit Leopold S***** als Mittäter ihre Verpflichtung zur Fürsorge bzw Obhut gegenüber der wegen Gebrechlichkeit wehrlosen Maria S***** gröblich vernachlässigt, indem sie ihr nur unzureichende und unsachgemäße Pflege zukommen ließ, und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, deren Gesundheit beträchtlich geschädigt, sodaß die Tat den Tod der Maria S***** zur Folge hatte, demnach das Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 und Abs 3 zweiter Fall StGB begangen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft und die Angeklagte werden mit ihren Berufungen auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Brigitte S***** des Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jugendlicher oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 und Abs 3 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.

Darnach wird ihr vorgeworfen, im bewußten und gewollten Zusammenwirken mit ihrem zwischenzeitig verstorbenen Ehegatten Leopold S***** von November 1993 bis 3.März 1994 in Mürzzuschlag ihre Verpflichtung zur Fürsorge bzw Obhut gegenüber ihrer wegen Gebrechlichkeit wehrlosen Schwiegermutter Maria S***** gröblich vernachlässigt zu haben, indem sie der Genannten nur unzureichende und unsachgemäße Pflege zukommen ließ, und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, deren Gesundheit beträchtlich geschädigt zu haben, wobei die Tat den Tod der Maria S***** zur Folge hatte.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Schuldspruch bekämpft die Angeklagte mit einer auf die Gründe der Z 5, 5 a, 9 lit a und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde.

Mit ihrer Rechtsrüge (Z 9 lit a) macht die Beschwerdeführerin geltend, daß Maria S***** nur in den Zeiträumen vom 20.Dezember 1993 bis 12.Jänner 1994 und vom 18.Jänner 1994 bis 25.Jänner 1994 ihrer Obhut unterstanden sei und daß sie im übrigen ihre Betreuungspflicht nicht gröblich vernachlässigt habe.

Diese Einwände bestehen zu Recht.

Nach § 92 Abs 2 StGB ist zu bestrafen, wer seine Verpflichtung zur Fürsorge oder Obhut einem Menschen gegenüber, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder Schwachsinns wehrlos ist, gröblich venachlässigt und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, dessen Gesundheit oder dessen körperliche oder geistige Entwicklung beträchtlich schädigt. Das Vergehen ist als vorsätzliches unechtes Unterlassungsdelikt in der Form eines eigenhändigen Sonderdeliktes konstruiert. Unmittelbarer Täter (§ 12 erster Fall StGB) dieser strafbaren Handlung kann daher nur sein, wer in einem bestimmten Beschützerverhältnis - nämlich einer Fürsorge- oder Obhutsverpflichtung - gegenüber der geschützten Person steht, wen somit eine Garantenpflicht trifft (§ 2 StGB).

Der Begriff der Fürsorge umfaßt alle Rechtsverhältnisse, welche die Verpflichtung begründen, für das körperliche oder geistig-seelische Wohl der geschützten Person zu sorgen, wobei diese Pflicht auf Gesetz, behördlichem Auftrag oder Vertrag beruhen kann. Der Begriff der Obhut reicht insofern über jenen der Fürsorge hinaus, als davon auch alle faktisch bestehenden Schutz- oder Betreuungsverhältnisse erfaßt werden, durch die jemand - zumindest vorübergehend - die Aufsicht oder Betreuung einer geschützten Person übernommen hat. Er erfüllt insoweit eine Auffangfunktion zum engeren Fürsorgebegriff.

Nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes war Leopold S***** als Sohn zur Fürsorge gegenüber seiner Mutter Maria S***** verpflichtet (§ 137 Abs 2 ABGB), wogegen die Angeklagte als Schwiegertochter eine solche im Gesetz begründete Pflicht grundsätzlich nicht traf. Eine Verpflichtung der Beschwerdeführerin zur Fürsorge aus behördlichem Auftrag oder aus Vertrag war nach den erstgerichtlichen Feststellungen nicht gegeben.

Hingegen unterstand Maria S***** in den Zeiträumen der stationären Krankenhausaufenthalte ihres Sohnes der Obhut der Angeklagten, die die Betreuung ihrer Schwiegermutter für diese Zeiträume übernommen hatte. Feststellungen, denenzufolge der Beschwerdeführerin über die erwähnten Zeiten hinaus die Obhut über ihre Schwiegermutter zugekommen wäre, hat das Erstgericht aber nicht getroffen. Aus dem Umstand, daß die Angeklagte ihren zur Fürsorge gegenüber seiner Mutter verpflichteten Gatten bei den Betreuungsfahrten begleitete und in dessen Gegenwart Betreuungshandlungen an Maria S***** setzte, kann eine Verpflichtung zur Obhut nicht abgeleitet werden. Eine solche könnte auch nicht auf den Umstand gegründet werden, daß Leopold S***** selbst an Krebs litt, weil es an Konstatierungen dahin mangelt, daß er infolge seiner Erkrankung außerstande gewesen wäre, für die erforderliche Pflege seiner Mutter - sei es auch bloß durch Anordnungen - Sorge zu tragen, und daß dieser Umstand vom Vorsatz der Angeklagten mitumfaßt gewesen wäre.

Somit erfüllte die Beschwerdeführerin nur hinsichtlich der Zeiträume vom 20.Dezember 1993 bis 12.Jänner 1994 und vom 18.Jänner 1994 bis 25. Jänner 1994 die persönlichen Voraussetzungen für die unmittelbare Täterschaft am eigenhändigen Sonderdelikt nach § 92 Abs 2 StGB. Hinsichtlich der anderen Tatzeiträume käme nur eine unmittelbare Täterschaft des verstorbenen Leopold S***** in Betracht, zu dessen strafbarer Handlung eine Bestimmung (§ 12 zweiter Fall StGB) oder ein sonstiger Tatbeitrag (§ 12 dritter Fall StGB) durch die Angeklagte rechtlich zwar möglich wäre, doch vermögen die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichtes eine solche Haftung der Beschwerdeführerin nicht zu begründen. Darnach bestand die Tathandlung der Angeklagten darin, gemeinsam mit ihrem Ehemann die Maria S***** nur unzureichend und unsachgemäß gepflegt zu haben, somit in der Unterlassung der erforderlichen Pflege. Ein sonstiger Tatbeitrag kann zwar auch in einem Unterlassen bestehen, doch setzt die Strafbarkeit eines solchen Täters wiederum seine Garantenstellung hinsichtlich des vom unmittelbaren Täter beeinträchtigten Rechtsgutes voraus. Wie bereits ausgeführt, hat die Beschwerdeführerin eine solche Garantenpflicht außerhalb der Zeiträume des Spitalsaufenthaltes ihres Ehegatten jedoch nicht getroffen.

Hinsichtlich der Zeiträume vom 20.Dezember 1993 bis 12.Jänner 1994 und vom 18.Jänner 1994 bis 25.Jänner 1994, in denen Maria S***** unter der Obhut der Beschwerdeführerin stand, liegen keine Feststellungen des Erstgerichtes vor, denenzufolge die Genannte ihre Obhutspflicht gröblich vernachlässigt hätte. Zwar war Maria S***** spätestens von November 1993 an - als sie ihr Haus nicht mehr verlassen konnte - auf fremde Hilfe angewiesen, doch war sie erst ab etwa Februar 1994 in einem völlig pflegebedürftigen Zustand. Die Feststellungen des Erstgerichtes betreffend die Unzulänglichkeit der Pflege beziehen sich erst auf den letztgenannten Zeitraum, für den die Beschwerdeführerin jedoch keine Verantwortung trifft.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichtes ist daher nicht einmal der Grundtatbestand des § 92 Abs 2 StGB erfüllt. Das Verhalten der Beschwerdeführerin kann auch nicht dem Tatbestand des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach § 95 Abs 1 StGB unterstellt werden, weil ein fortschreitendes Siechtum keinen Unglücksfall im Sinne der erwähnten Strafbestimmung darstellt. Die erstgerichtlichen Feststellungen ermöglichen auch keine Anwendung der Strafbestimmung der Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach § 286 Abs 1 StGB in bezug auf die allenfalls nach § 92 Abs 2 StGB zu beurteilende Tat des verstorbenen Leopold S*****, weil es insbesondere an der Feststellung eines Vorsatzes der Angeklagten mangelt, der auf die Nichtverhinderung der vorsätzlichen Tatbegehung durch ihren Ehegatten gerichtet gewesen wäre. Im übrigen würde ihr offenbar der Strafausschließungsgrund des § 286 Abs 2 Z 1 StGB zugute kommen, weil sich jede auf Verhinderung oder Benachrichtigung gerichtete Maßnahme gegen ihren eigenen krebskranken Ehegatten hätte richten müssen.

Das Urteil ist daher mit Nichtigkeit aus dem Grunde des § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO behaftet, weshalb sich ein Eingehen auf die weiteren Einwände der Beschwerdeführerin erübrigt.

Weil nach der Aktenlage die fehlenden Feststellungen auch in einem zweiten Rechtsgang nicht getroffen werden könnten, hat der Oberste Gerichtshof sogleich in der Sache selbst erkannt und die Angeklagte vom Anklagevorwurf freigesprochen (§ 288 Abs 2 Z 3 StPO).

Die Berufungen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft sind damit gegenstandslos.

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