JudikaturJustiz13Os103/99

13Os103/99 – OGH Entscheidung

Entscheidung
01. September 1999

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. September 1999 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Dr. E. Adamovic, Dr. Schmucker und Dr. Ratz als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jäger als Schriftführerin in der Strafvollzugssache gegen Richard T***** wegen bedingter Entlassung, AZ BE 313/98 des Landesgerichtes Ried im Innkreis, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz als Beschwerdegericht vom 8. Jänner 1999, AZ 9 Bs 601/99 (= ON 41) nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Staatsanwältin Mag. Schnell, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 8. Jänner 1999, AZ 9 Bs

601/99 (= ON 41), verletzt mit seiner in der Begründung enthaltenen Rechtsansicht der uneingeschränkten Bindung von Erstgerichten (hier: des Vollzugsgerichtes) an über den Entscheidungsgegenstand hinausgehend enthaltenen (Ermessens )Erwägungen der Rechtsmittelgerichte §§ 293 Abs 2 StPO, 16 Abs 2 Z 12, 17 Abs 5 letzter Satz, 152 Abs 1 StVG iVm Art 87 Abs 1 B-VG.

Text

Gründe:

Das Landesgericht Ried im Innkreis (als Vollzugsgericht) lehnte die bedingte Entlassung des Strafgefangenen Richard T***** nach § 46 Abs 1 StGB mit Beschluß vom 5. Jänner 1998, AZ BE 380/97 (ON 5), und nach § 46 Abs 2 StGB mit den Beschlüssen vom 4. Mai 1998, AZ BE 113/98 (ON 16), und vom 3. August 1998, AZ BE 201/98 (ON 26), jeweils aus generalpräventiven Erwägungen ab.

Den gegen diese Beschlüsse erhobenen Beschwerden des Strafgefangenen gab das Oberlandesgericht Linz mit den Beschlüssen vom 22. Jänner 1998, AZ 8 Bs 604/98 (= ON 8), vom 27. Mai 1998, AZ 7 Bs 651/98 (= ON

21) und vom 16. September 1998, AZ 8 Bs 687/98 (= ON 32), jeweils ebenfalls aus generalpräventiven Gründen nicht Folge. Die Begründungen der beiden letztgenannten Beschlüsse enthalten aber folgende (über die meritorische Rechtsmittelerledigung hinausgehende) Textpassagen:

(Beschluß vom 27. Mai 1998):

"... Allerdings werden angesichts der bloß versuchten Suchtgiftstraftat und der Sicherstellung des Suchtgiftes, das Fehlen spezialpräventiver Hindernisse vorausgesetzt, die Rücksichtnahmen auf die Belange der Allgemeinheit mit Ablauf des Jahres 1998 in den Hintergrund treten und der bedingten Entlassung nicht mehr entgegenstehen ..."

(Beschluß vom 16. September 1998):

"... Neuerlich ist der Vorbeschluß dieses Beschwerdegerichts in Erinnerung zu rufen: Danach werden einer bedingten Entlassung nach wie vor entgegenstehende generalpräventive Bedenken erst in den Hintergrund treten, wenn etwa nur mehr drei Monate an Strafhaft zu verbüßen sein werden, und zwar weiteres Wohlverhalten des Beschwerdeführers im Strafvollzug vorausgesetzt. Diesbe- züglich wird der Strafgefangene etwa Ende Oktober 1998 seinen Antrag an das Vollzugsgericht stellen können. Derzeit kann über eine allenfalls im Dezember 1998 zu beschließende bedingte Entlassung noch nicht entschieden werden (§ 152 Abs 1 StVG) ..."

Konträr zu diesen Erwägungen lehnte das Landesgericht Ried im Innkreis über neuerlichen Antrag des Strafgefangenen die bedingte Entlassung mit Beschluß vom 7. Dezember 1998, AZ BE 313/98 (ON 37), mit Darlegung der nach Ansicht des Vollzugsgerichtes weiterhin bestehenden generalpräventiven Bedenken ab.

Die gegen diesen Beschluß erhobene Beschwerde des Richard T***** wies das Oberlandesgericht Linz mit Beschluß vom 8. Jänner 1999, AZ 9 Bs 601/99 (= ON 41), wegen Wegfalles des speziellen Rechtschutzinteresses des Strafgefangenen im Hinblick auf seine zwischenzeitig am 17. Dezember 1998 im Wege der Begnadigung erfolgte Entlassung aus dem Strafvollzug als unzulässig zurück.

In der Begründung dieses Beschlusses führte das Oberlandesgericht Linz unter Bezugnahme auf seine genannten Beschlüsse vom 27. Mai 1998 und vom 16. September 1998 jedoch unter anderem folgendes aus (AS 113 ff):

"... Das Beschwerdegericht nennt in seinen Entscheidungen allenthalben, besonders in generalpräventiver Sicht, Zeitpunkte, zu denen, allenfalls nach Vorliegen bestimmter weiterer Umstände, die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung, besonders nach § 46 Abs 2 StGB, für gegeben erachtet werden (...). Dies hat das Beschwerdegericht auch im vorliegenden Fall, zuletzt unter Benennung eines weitgehend konkreten Termins (...) getan. (...) Diese Einschätzung bot nach neuerlicher Antragstellung des Strafgefangenen dem Strafvollzugsgericht nur mehr geringe Möglichkeiten, die bedingte Entlassung des Strafgefangenen zum vorgesehenen Termin zu verweigern. (...) Die Argumentation des Strafvollzugsgerichts (...) läuft auf eine Negierung der vom Beschwerdegericht dargelegten Rechtsansicht hinaus, die dem Strafvollzugsgericht nicht zukommt. Zu dieser Frage enthält das StVG keine konkreten Aussagen. Die mangels konkreter Anordnung analog heranzuziehende Strafprozeßordnung normiert im § 293 Abs 2 StPO den Grundsatz, daß das Schöffengericht nach einer kassatorischen Entscheidung des Obersten Gerichtshofes und einer nach den §§ 288 und 292 StPO erfolgten Rückverweisung zu neuer Verhandlung an die Rechtsansicht gebunden ist, von der der Oberste Gerichtshof bei seiner Entscheidung ausgegangen ist. (...) Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit Beschlüssen des Strafgerichts sind in der StPO nicht allgemein geregelt, umso mehr fehlt es an Vorschriften über die Bindungswirkung an Rechtsauf- fassungen eines Beschwerdegerichtes. Eine gegenteilige Regelung findet sich allerdings etwa in § 486 Abs 5 StPO (...). Gerade aus dem Umstand, daß die Strafprozeßordnung in Einzelfällen eine Bindungswirkung verneint, ist davon auszugehen, daß diese in anderen Fällen, der Systematik der Gerichtsorganisation entsprechend, sehr wohl gegeben ist und es dem Erstgericht wie vorliegend verwehrt, dieser - den Beschwerdeführer begünstigenden - Rechtsansicht argumen- tativ entgegenzutreten (...). Denn der Einheit der Rechtsordnung und dem einheitlichen Erscheinungsbild der Justiz widerspricht es, daß Erstgerichte auf diesem Weg bei unveränderten Prämissen Entscheidungen eines Rechtsmittelgerichtes mit dem Ziel der Rechtsverweigerung nicht anerkennen ..."

Dies steht, wie die Generalprokuratur zutreffend darlegt, mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Rechtliche Beurteilung

Unzutreffend ist schon die Argumentation, Gegenstand der in Rede stehenden vorweggenommenen Beurteilung des Oberlandesgerichtes Linz sei eine Rechtsfrage. Denn es wurde nicht ein für die bedingte Entlassung maßgebliches gesetzliches Entscheidungskriterium angesprochen, sondern (nur) der Auffassung Ausdruck verliehen, daß nach der konkreten Sachlage, somit fallbezogen im Sinne einer im Tatsachenbereich zu treffenden Prognose, zu einem bestimmten Zeitpunkt generalpräventive Bedenken der bedingten Entlassung nicht (mehr) entgegenstehen werden. Damit war Gegenstand der Erörterung aber nicht eine Frage der rechtlichen Beurteilung, sondern des (gebundenen) Ermessens (vgl RZ 1993/54; Pausa, ÖJZ 1962, 65).

Eine Bindung des Vollzugsgerichtes an Ermessenserwägungen des Beschwerdegerichtes könnte zufolge Rechtskraftwirkung wohl eine darüber absprechende Beschwerdeentscheidung sein. Dies würde aber voraussetzen, daß das Oberlandesgericht Linz über die bedingte Entlassung (zu dem seiner Einschätzung nach zutreffenden zukünftigen Zeitpunkt) bereits entschieden hätte. Mit den Beschwerdeentscheidungen vom 27. Mai und vom 16. September 1998 hat das Oberlandesgericht Linz (wie es im übrigen in der Begründung des letztgenannten Beschlusses, ON 32 AS 86 am Ende, zutreffend ausführt) spruchmäßig mit der Abweisung der Beschwerden des Strafgefangenen (lediglich) über das Nichtvorliegen der Voraussetzungen der bedingten Entlassung nach § 46 StGB im Entscheidungszeitpunkt erkannt, nicht aber (zugleich) die bedingte Entlassung zu einem zukünftigen Zeitpunkt bewilligt.

Daraus folgt, daß den Spekulationen über künftige Ermessenserwägungen des Oberlandesgerichtes bloß der Charakter einer informellen Empfehlung zukommt. Denn eine Bindung erstgerichtlicher Entscheidungsfindung an antizipative Beurteilungen von Ermessensfragen durch Instanzgerichte, worauf die Ansicht des Oberlandesgerichtes Linz der Sache nach hinausläuft, entbehrt der gesetzlichen Grundlage und verstößt (wie etwa auch die Festlegung bindender Richtlinien durch das Instanzgericht im Bereich der Beweiswürdigung) gegen den in Art 87 Abs 1 B-VG verankerten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit (vgl, jeweils in Beziehung auf Aufhebungserkenntnisse von Instanzgerichten eine derartige Bindung der Erstgerichte verneinend, Walter, Verfassung und Gerichtsbarkeit, S 70; Fasching, Kommentar zur ZPO, Band IV, S 224 ff; derselbe, Lehrbuch2, Rz 1821 f; Herz, ÖJZ 1952, 69; 13 Os 174/93).

Die vom Oberlandesgericht Linz aus der Systematik der Gerichtsorganisation sowie aus analoger Anwendung des § 293 Abs 2 StPO abgeleitete Bindung des Vollzugsgerichtes findet - selbst unter der (hier allerdings nicht vorliegenden) Annahme - eines als Rechtsansicht zu deutenden Standpunktes des Rechtsmittelgerichtes im Gesetz keine Deckung. Denn eine vom Entscheidungsgegenstand unabhängige und losgelöste Kompetenz von Instanzgerichten zur Überbindung von Rechtsansichten ist aus der genannten Bestimmung nicht ableitbar: Darin ist nämlich sowohl nach dem Wortlaut (arg.: "... bei seiner Entscheidung ausgegangen ist") als auch nach dem Regelungszweck eine Bindung des Erstgerichtes an die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofes nur insofern vorgesehen, als diese Ansicht für die kassatorische Entscheidung maßgeblich war (vgl Mayerhofer, StPO4, § 293 E 21 mwN; im übrigen bereits Mayer, Handbuch des Österreichischen Strafproceßrechtes, 1884, Band III, zweiter Teil, S 654, vgl auch Fasching zu §§ 499 Abs 2, 511 Abs 1 ZPO). Durch die in Rede stehende Bestimmung sollte somit nicht etwa eine nach der Gesamtkonzeption der Strafprozeßordnung exzeptionelle Bindung normiert, sondern lediglich für den Bereich kassatorischer Entscheidungen die (solcherart für reformatorische Entscheidungen selbstverständliche) höchstgerichtliche Entscheidungskompetenz verdeutlicht werden.

Die dargelegte grundsätzliche Bindungsbeschränkung ist auch auf das Verfahren über die bedingte Entlassung nach dem Strafvollzugsgesetz anzuwenden (für das Verfahren vor dem Vollzugsgericht gelten im allgemeinen die Vorschriften der Strafprozeßordnung, vgl Kunst, StVG, Anm 1 zu § 17 mwN) zu beziehen, zumal in den entsprechenden Verfahrensvorschriften (§§ 16, 17, 152 f) eine Regelung im Sinne einer Bindung an Rechtsansichten unabhängig von einer konkreten (auf Ablehnung oder Bewilligung der bedingten Entlassung gerichteten) gerichtlichen Entscheidung nicht getroffen ist. Somit ergibt sich, daß eine Bindung des Erstgerichts nur dann anzunehmen gewesen wäre, wenn das Oberlandesgericht über den damit im Zusammenhang stehenden Beurteilungsgegenstand bereits entschieden hätte.

Die Rechtsansicht des Oberlandesgerichtes Linz steht schließlich auch mit den Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes über die (funktionelle) Zuständigkeit zur Entscheidung über die bedingte Entlassung nicht im Einklang:

Denn mit dem Postulat der Bindung des Vollzugsgerichtes an antizipative, mit dem konkreten Entscheidungsgegenstand der Beschwerdeentscheidungen des Oberlandesgerichtes Linz nicht im Zusammenhang stehende Beurteilungen der künftigen Voraussetzungen der bedingten Entlassung negiert das Oberlandesgericht die darauf gerichtete selbständige Entscheidungskompetenz des Vollzugsgerichtes und nimmt damit zugleich eine eigene primäre (von der funktionellen Zuständigkeitsordnung losgelöste) Entscheidungskompetenz in Anspruch, welche ihm nach dem Gesetz nicht zukommt. Nach §§ 16 Abs 2 Z 12, 152 Abs 1 letzter Satz StVG ist zur Entscheidung über die bedingte Entlassung in jedem Fall das Vollzugsgericht berufen, dem Gerichtshof zweiter Instanz steht nach § 17 Abs 5 letzter Satz leg. cit. die Entscheidung über Beschwerden gegen Beschlüsse des Vollzugsgerichtes zu. Nach § 152 Abs 1 leg. cit. ist Voraussetzung jeder Entscheidung über die bedingte Entlassung (von dem hier nicht aktuellen Sonderfall einer amtswegigen Entscheidung nach dem zweiten Satz dieser Bestimmung abgesehen) ein darauf gerichteter Antrag eines dort näher genannten Antragsberechtigten. Nach der Systematik der genannten Bestimmungen setzt die Zuständigkeit des Gerichtshofes zweiter Instanz zur Entscheidung über die bedingte Entlassung in Beziehung auf einen späteren Zeitpunkt somit (wiederum) einen neuerlichen Antrag sowie eine neuerliche darüber absprechende Entscheidung des Vollzugsgerichtes voraus. Eine von einer weiteren Antragstellung unabhängige Entscheidungskompetenz des Beschwerdegerichts ist dem Strafvollzugsgesetz mithin fremd.

Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen waren daher festzustellen.