JudikaturJustiz12Os63/17g

12Os63/17g – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. Juli 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. Juli 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Limberger, LL.M., als Schriftführer in der Strafsache gegen Szabolcs M***** wegen des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 65 Hv 93/16w des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 15. Februar 2017, AZ 17 Bs 350/16v, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, sowie des Verteidigers des Angeklagten Rechtsanwalt Dr. Mag. Gurmann zu Recht erkannt:

Spruch

Das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 15. Februar 2017, AZ 17 Bs 350/16v, verletzt im Umfang der Zurückweisung der Berufung des Angeklagten wegen der in § 281 Abs 1 Z 5, Z 10 und Z 11 StPO aufgezählten Nichtigkeitsgründe § 489 Abs 1 StPO iVm § 467 Abs 1 und 2 erster Satz StPO.

Dieses Urteil wird aufgehoben und es wird dem Oberlandesgericht Wien die neue Verhandlung und Entscheidung über die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft aufgetragen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22. September 2016, GZ 65 Hv 93/16w-18, wurde Szabolcs Moldovanyi des Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB und des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 und Abs 4 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Nach Verkündung des Urteils meldete der (anwaltlich vertretene) Angeklagte Berufung „wegen Schuld und Strafe“ an (ON 17 S 18) und führte diese (nach am 25. Oktober 2016 erfolgter Zustellung der Urteilsausfertigung [zweites Blatt des unjournalisierten Anordnungs- und Bewilligungsbogens] mit am 17. November 2016 eingebrachtem Schriftsatz) wegen „Nichtigkeit“ (nach § 489 Abs 1 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 5, Z 10 und Z 11 StPO), Schuld und Strafe aus (ON 23).

Mit Urteil vom 15. Februar 2017, AZ 17 Bs 350/16v (ON 34 der Hv-Akten), wies das Oberlandesgericht Wien (unter Hinweis auf Ratz , WK-StPO § 284 Rz 7 und Fabrizy , StPO 12 § 284 Rz 4) die Berufung des Angeklagten „wegen Nichtigkeit“ zurück, „weil innerhalb der Anmeldungsfrist ausschließlich die Anmeldung der Berufung wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe“ erfolgt war (US 5). Der Berufung des Angeklagten wegen dieser Aussprüche gab es ebenso wie der gegen den Strafausspruch gerichteten Berufung der Staatsanwaltschaft nicht Folge.

Dieses Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht steht – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt – mit dem Gesetz nicht in Einklang:

Rechtliche Beurteilung

Nach § 489 Abs 1 StPO iVm § 467 Abs 2 erster Satz StPO hat der Beschwerdeführer entweder bei der Anmeldung der Berufung oder in der Berufungsschrift ausdrücklich zu erklären, durch welchen Ausspruch (§ 464 StPO) er sich beschwert finde und welche Nichtigkeitsgründe (§ 489 Abs 1 erster Satz StPO) er geltend machen wolle, widrigenfalls auf die Berufung oder auf Nichtigkeitsgründe vom Rechtsmittelgericht keine Rücksicht zu nehmen ist.

Das Gesetz lässt dem Angeklagten somit die Wahl, ob er die Beschwerdepunkte schon in der Anmeldung oder erst in der Ausführung der Berufung nennen will ( Schroll/Schillhammer , Rechtsmittel in Strafsachen², Rz 479; Fabrizy , StPO 12 , § 467 Rz 1a; RIS Justiz RS0115811). Demnach steht es ihm frei, sowohl die Anmeldung der Berufung fristgerecht (binnen drei Tagen; § 489 Abs 1 StPO iVm § 466 Abs 1 StPO) zu ergänzen als auch das Rechtsmittel in Richtung eines bei der Anmeldung nicht genannten Ausspruchs (§ 464 StPO) oder Nichtigkeitsgrundes auszuführen. Aus der Bezeichnung von (bloß) einem oder mehreren (zulässigen) Berufungspunkten allein darf ein stillschweigender Verzicht auf andere nicht abgeleitet werden. Eine Erweiterung der Beschwerdepunkte wäre nur dann unzulässig, wenn der Rechtsmittelwerber auf die Geltendmachung weiterer Berufungsgründe verzichtet hätte (RIS-Justiz RS0100304, RS0115811).

Ungeachtet der bereits bei der Anmeldung in der Hauptverhandlung vorgenommenen Konkretisierung der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe (§ 489 Abs 1 StPO iVm § 464 Z 2 StPO) stand es dem Angeklagten daher frei, in der Berufungsausführung auch Nichtigkeitsgründe geltend zu machen. Das Berufungsgericht hätte demnach über die Berufung des Angeklagten wegen der geltend gemachten Nichtigkeitsgründe (§ 489 Abs 1 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 5, Z 10 und Z 11 StPO) meritorisch zu entscheiden gehabt. Die vom Oberlandesgericht Wien angeführten Kommentarstellen ( Ratz , WK-StPO § 284 Rz 7 und Fabrizy , StPO 12 § 284 Rz 4) beziehen sich ausschließlich auf die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde im kollegialgerichtlichen Verfahren.

Da eine für den Angeklagten nachteilige Auswirkung des Unterbleibens einer inhaltlichen Erledigung seiner Berufung wegen der von ihm geltend gemachten Nichtigkeitsgründe (ungeachtet der vom Berufungsgericht [US 6 f] angestellten Erwägungen zu einer allfälligen amtswegigen Wahrnehmung materieller Nichtigkeit [§§ 489 Abs 1, 471 StPO iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO]) nicht auszuschließen ist, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, der Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 292 letzter Satz StPO konkrete Wirkung (durch Aufhebung des genannten Urteils) zuzuerkennen.