JudikaturJustiz12Os139/20p

12Os139/20p – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. März 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. März 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LLM in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Pateisky in der Maßnahmenvollzugssache des Florian F***** wegen bedingter Entlassung, AZ 19 BE 38/20i des Landesgerichts Krems an der Donau, über die von der Generalprokuratur gegen einen Vorgang in diesem Verfahren und den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 2. Oktober 2020, AZ 23 Bs 280/20z (ON 43 der BE Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes sowie über die Beschwerde des Verurteilten gegen diesen Beschluss nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler und des Verteidigers Mag. Loos zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren zu AZ 19 BE 38/20i des Landesgerichts Krems an der Donau verletzen

1./ die am 30. September 2020 erfolgte Verfügung der am 11. September 2020 beantragten Zustellung des Beschlusses dieses Gerichts vom 26. August 2020 (ON 23) § 110 Abs 1 Geo;

2./ die Fassung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 2. Oktober 2020, AZ 23 Bs 280/20z (ON 43), § 17 Abs 1 Z 3 letzter Satz StVG, § 7 Abs 1 StPO.

Dieser Beschluss des Oberlandesgerichts Wien sowie jener vom 2. November 2020, AZ 23 Bs 280/20z (ON 51), werden aufgehoben und diesem Gericht die neuerliche Entscheidung über die Beschwerde des Verurteilten einschließlich des Vorbringens seines Verteidigers gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 26. August 2020, GZ 19 BE 38/20i 23, aufgetragen.

Mit seiner Beschwerde wird der Verurteilte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 26. August 2020, GZ 19 BE 38/20i 23, wurde ua der Antrag des im Maßnahmenvollzug angehaltenen Florian F***** auf bedingte Entlassung aus einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abgewiesen und nach § 25 Abs 3 StGB festgestellt, dass dessen weitere Unterbringung notwendig ist. Dieser Beschluss wurde dem Untergebrachten persönlich am 2. September 2020 zugestellt (ON 35).

[2] Mit am 11. September 2020 in der Direktion der Justizanstalt Stein an der Donau eingebrachtem (ON 35; vgl RIS Justiz RS0106085 [T1, T5]) Schreiben vom selben Tag erhob Florian F***** Beschwerde gegen diesen Beschluss und beantragte dessen Zustellung an seinen Rechtsvertreter (ON 30 S 2), der am selben Tag ebenfalls die Beschlusszustellung beantragte (ON 29).

[3] Nach Übermittlung des Aktes an das Oberlandesgericht Wien mit Vorlagebericht vom 16. September 2020 (ON 36) betreffend die Beschwerde des Betroffenen (ON 30) stellte das Erstgericht mit Verfügung vom 30. September 2020 den angefochtenen Beschluss „neuerlich“ (vgl jedoch den Vorlagebericht ON 47 korrespondierend mit den Angaben in der Beschwerde ON 46) dem „VH Verteidiger“ (vgl aber die Vollmachtsbekanntgabe ON 29) zu und verständigte davon das Oberlandesgericht Wien (ON 40). Ob dieses vor seiner Beschwerdeentscheidung Kenntnis von der Zustellverfügung vom 30. September 2020 oder der (laut VJ Register) am 1. Oktober 2020 erfolgten Zustellung erlangte, ist (mangels Eingangsstempels des Oberlandesgerichts auf ON 40) den Akten nicht zu entnehmen.

[4] Das Oberlandesgericht Wien gab mit Beschluss vom 2. Oktober 2020, AZ 23 Bs 280/20z, der Beschwerde des Betroffenen nicht Folge und führte – soweit hier von Relevanz – unter Bezugnahme auf die Eingabe des Verteidigers ON 29 „der Vollständigkeit halber“ aus, dass eine Unterbrechung und ein Neubeginn des Fristenlaufs gemäß § 63 Abs 1 StPO nur erfolge, wenn dem unvertretenen Beschuldigten in offener Frist ein Verteidiger gemäß § 61 Abs 1 oder 3 StPO beigegeben wird, sodass die Vollmachtsbekanntgabe eines Wahlverteidigers auf den Fristenlauf keine Auswirkungen habe (ON 43 S 7).

[5] Der Verteidiger des Untergebrachten brachte am 13. Oktober 2020 eine Beschwerdeausführung gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 26. August 2020 (ON 23) ein, welche das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 2. November 2020, AZ 23 Bs 280/20z, wegen res iudicata als unzulässig zurückwies, wobei es unter Hinweis auf die Eingabe (ON 29) neuerlich ausführte, dass die Vollmachtsbekanntgabe des Wahlverteidigers auf den Fristenlauf keine Auswirkung habe (ON 51).

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen die erwähnte Zustellung am 30. September 2020 und der genannte Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. Oktober 2020, AZ 23 Bs 280/20z, mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[7] 1./ Gemäß § 110 Abs 1 Geo sind einlaufende Stücke, wenn sie dringende Angelegenheiten (zum Beispiel Haftsachen) betreffen, sogleich zu erledigen.

[8] Eine – überdies fristauslösende – Zustellung eines Beschlusses erst knapp drei Wochen nach dem diesbezüglichen Ersuchen vom 11. September 2020 (ON 29) verletzt dieses besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen.

[9] 2./ § 17 Abs 1 Z 3 letzter Satz StVG sieht vor, dass ein Beschluss des Vollzugsgerichts ungeachtet der subsidiären Anwendung der Bestimmungen der StPO dem Verurteilten stets selbst bekanntzumachen ist, eine Ausfertigung des Beschlusses jedoch auf sein Verlangen auch seinem Verteidiger zuzustellen ist, wodurch für diesen die Frist zur Erhebung einer Beschwerde (§ 88 Abs 1 StPO) ausgelöst wird. Desgleichen gilt dies auch, wenn der Verteidiger die Zustellung einer Beschlussausfertigung verlangt (RIS Justiz RS0133119).

[10] Trotz Kenntnis der mit „Zustellantrag“ titulierten Eingabe des Verteidigers, mit welcher dieser Vollmacht legte und um Zustellung einer Beschlussausfertigung ersuchte (ON 29; vgl ON 43 S 7 und ON 51 S 3), und ungeachtet der Frage, ob aus dem dem Beschwerdegericht vorliegenden Akt die Zustellverfügung vom 30. September 2020 bereits ersichtlich war, hat das Beschwerdegericht am 2. Oktober 2020 über die Beschwerde des im Maßnahmenvollzug befindlichen Verurteilten entschieden und ist solcherart vom Beginn und vom Ablauf aller möglichen Rechtsmittelfristen ausgegangen.

[11] Indem das Oberlandesgericht Wien bei dieser Beschlussfassung den Ablauf der dem Verteidiger zur Ausführung des Rechtsmittels (das in weiterer Folge wegen res iudicata mit Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 2. November 2020 zurückgewiesen wurde) zustehenden Frist nicht überprüft hat, wurden dem Untergebrachten die ihm durch § 17 Abs 1 Z 3 letzter Satz StVG und § 7 Abs 1 StPO eingeräumten Verteidigungsrechte genommen. Dies, zumal das Gesetz bei der Beschwerde keine „Einmaligkeit“ in dem Sinn kennt, dass Beschwerdevorbringen nur in einer einzigen Schrift erstattet werden dürfte (vgl RIS Justiz RS0118014; Pieber in WK² StVG § 17 Rz 10).

[12] Da diese Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

[13] Zur Klarstellung war auch der rechtslogisch abhängige Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. November 2020, AZ 23 Bs 280/20z (ON 51), zu beseitigen (vgl RIS Justiz RS0100444).

[14] Der Verurteilte war mit seiner Beschwerde auf diese Entscheidung zu verweisen.

Rechtssätze
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