JudikaturJustiz12Os108/22g

12Os108/22g – OGH Entscheidung

Entscheidung
07. Dezember 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Dezember 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Kastner in der Strafsache gegen * B* wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 18 U 174/19p des Bezirksgerichts Liesing, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des genannten Gerichts vom 13. Mai 2022, GZ 18 U 174/19p 21, einen Beschluss und Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Ulrich, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 18 U 174/19p des Bezirksgerichts Liesing verletzen

1./ der Beschluss vom 13. September 2021 (ON 16) § 205 Abs 2 Z 2 StPO iVm § 199 StPO;

2./ das Unterbleiben der Anführung der in § 260 Abs 1 Z 1 StPO bezeichneten Angaben im Hauptverhandlungsprotokoll vom 13. Mai 2022 (ON 20) § 271 Abs 1 Z 7 StPO;

3./ die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des zu diesem Zeitpunkt erst 20 Jahre alten Angeklagten und das in dieser gegen den Genannten ergangene Abwesenheitsurteil § 32 Abs 1 erster und zweiter Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG.

Der zu 1./ genannte Beschluss und das zu 3./ genannte Urteil werden aufgehoben und es wird dem Bezirksgericht Liesing aufgetragen, über den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 3. September 2021 neuerlich zu entscheiden.

Text

Gründe:

[1] Mit Strafantrag vom 17. Oktober 2019 legte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt dem am 6. Mai 2002 geborenen, zum Tatzeitpunkt jugendlichen * B* dem Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB subsumiertes Verhalten zur Last.

[2] Anlässlich der zu AZ 18 U 174/19p vor dem Bezirksgericht Liesing (§ 29 JGG) am 16. September 2020 durchgeführten Hauptverhandlung erklärte sich der Angeklagte mit einer Betreuung durch einen Bewährungshelfer einverstanden, wenn das Verfahren unter Bestimmung einer zweijährigen Probezeit vorläufig eingestellt wird (ON 8 S 2 f). Daraufhin wurde die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt.

[3] Mit Beschluss des genannten Gerichts vom 8. Oktober 2020 wurde das Strafverfahren „gemäß § 7 Abs 1 Z 3 JGG iVm §§ 199, 203 Abs 1 StPO für eine Probezeit von zwei Jahren vorläufig eingestellt“ (ON 9). In der Begründung des Beschlusses verwies das Gericht darauf, dass sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung „ausdrücklich bereit erklärt [hat], sich während der Probezeit durch einen Bewährungshelfer betreuen zu lassen“, und dass „das erkennende Gericht das Verfahren mit Beschluss vorläufig einzustellen [hat], wenn – wie in diesem Fall – die Voraussetzungen des § 7 JGG vorliegen und der Angeklagte sich ausdrücklich zur Betreuung durch einen Bewährungshelfer bereit erklärt […] hat“. Eine explizite Anordnung von Bewährungshilfe erfolgte nicht.

[4] Da sich der Angeklagte in weiterer Folge trotz förmlicher Mahnung (ON 13) dem Einfluss der Bewährungshelferin entzog (ON 11 und 14), wurde das Strafverfahren – dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgend (ON 1 unjournalisierte S 9) – mit Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 13. September 2021 „gemäß § 205 Abs 2 Z 2 StPO iVm § 199 StPO“ nachträglich fortgesetzt (ON 16).

[5] In der in Abwesenheit des zu diesem Zeitpunkt erst 20 Jahre alten Angeklagten am 13. Mai 2022 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 20) wurde dieser anklagekonform – nach dem Hauptverhandlungsprotokoll „im Sinne des wider ihn erhobenen Strafantrages“ – schuldig erkannt und unter Anwendung des § 5 Z 5 JGG zu einer Geldstrafe verurteilt.

[6] Das Abwesenheitsurteil erwuchs in Rechtskraft.

Rechtliche Beurteilung

[7] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, wurde im Verfahren AZ 18 U 174/19p des Bezirksgerichts Liesing das Gesetz verletzt:

[8] 1./ Ein Beschluss hat unter anderem einen Spruch und dieser wieder die Anordnung, Bewilligung oder Feststellung des Gerichts sowie die darauf bezogenen gesetzlichen Bestimmungen zu enthalten (§ 86 Abs 1 erster und zweiter Satz StPO). Der Spruch ist die Norm des Beschlusses ( Tipold , WK StPO § 86 Rz 7). In diesem soll die Entscheidung des Gerichts klar zum Ausdruck kommen (EBRV 25 BlgNR 22. GP 74), er hat die gerichtliche Anordnung deutlich und unmissverständlich zu enthalten ( Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 86 Rz 1). Die Gründe einer Entscheidung alleine können aus prozessualer Sicht den davon Betroffenen (abgesehen vom Fall der Verdeutlichung eines unklaren Spruches durch Heranziehung der Entscheidungsgründe) niemals beschweren ( Nimmervoll , Beschluss und Beschwerde, 30 f; vgl zum Schuldspruch in Urteilen [§ 260 Abs 1 Z 2 StPO]: Lendl , WK StPO § 260 Rz 27; RIS Justiz RS0116266 [T5]).

[9] Der Spruch des Beschlusses des Bezirksgerichts Liesing vom 8. Oktober 2020 (ON 9) enthält keine Anordnung von Bewährungshilfe iSd § 7 Abs 1 Z 3 JGG. Daher mangelt es dem Beschluss des genannten Gerichts vom 13. September 2021 (ON 16), mit dem das Strafverfahren „gemäß § 205 Abs 2 Z 2 StPO iVm § 199 StPO fortgesetzt“ wurde, weil sich der Angeklagte beharrlich dem Einfluss des Bewährungshelfers entzogen habe, an einer tragfähigen Grundlage im Sinn zuvor angeordneter Bewährungshilfe, womit dieser die letztgenannten Bestimmungen verletzt.

[10] 2./ Das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll hat gemäß § 271 Abs 1 Z 7 (hier iVm § 458 zweiter Satz) StPO auch den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten. Der im Hauptverhandlungsprotokoll vom 13. Mai 2022 erfolgte Verweis auf den schriftlich erhobenen Strafantrag genügt diesen Anforderungen nicht (RIS Justiz RS0098552 [T2]; 14 Os 86/18f; 11 Os 139/20f = RZ 2021, 142 mit krit Anm Danek ; 15 Os 85/21w; vgl RIS Justiz RS0099511; vgl jedoch RS0132282).

[11] 3./ Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren (§§ 427 f StPO) nicht anzuwenden, wenn die Tat vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen wurde oder der Beschuldigte im Zeitpunkt der Verfahrenshandlung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (RIS Justiz RS0121343 [T1]; Fabrizy/Michel Kwapinski/Oshidari , StGB 14 § 46a JGG Rz 2; Schroll in WK 2 JGG § 32 Rz 6, § 46a Rz 5 f). Ist der junge Erwachsene zur Hauptverhandlung nicht erschienen, so ist diese zu vertagen und gegebenenfalls die Vorführung des Angeklagten anzuordnen (§ 32 Abs 1 zweiter Satz JGG).

[12] Die Durchführung der Hauptverhandlung am 13. Mai 2022 in Abwesenheit des erst 20 Jahre alten Angeklagten und somit jungen Erwachsenen (§ 1 Abs 1 Z 5 JGG) und das in dieser ergangene Abwesenheitsurteil verletzen § 32 Abs 1 erster und zweiter Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG.

[13] Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen wirken sich zum Nachteil des Angeklagten aus (§ 292 letzter Satz StPO). Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, seiner Entscheidung – wie aus dem Spruch ersichtlich – konkrete Wirkung zuzuerkennen.

Rechtssätze
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