JudikaturJustiz11Os89/21d

11Os89/21d – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. September 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. September 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Vizthum als Schriftführerin in der Strafsache gegen Dragoljub An***** wegen des Verbrechens der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 3. Mai 2021, GZ 48 Hv 5/21d 30, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruchpunkt III./, demgemäß auch im Strafausspruch aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt verwiesen.

Mit der Schuldspruchpunkt III./ betreffenden Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen .

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde Dragoljub An***** des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB (I./1./), des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB (I./2./), des Verbrechens der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB (II./) sowie mehrerer Vergehen des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs 1 StGB (III./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er am 15. Juli 2020 in L*****

I./ Walter A*****

1./ mit zumindest einer Verletzung am Körper gefährlich bedroht, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er an der Anschlussstelle Leobersdorf zur Südautobahn A2 wiederholt mit seinem PKW Rammmanöver gegen den vom Genannten gelenkten PKW andeutete;

2./ auf der Südautobahn A2 mit Gewalt zu einer Handlung, nämlich zum Abbremsen seines PKW auf der dritten Fahrspur bis zum Stillstand, genötigt, indem er mit seinem PKW jeweils ohne zu blinken von der dritten auf die zweite Spur zu wechseln andeutete, dann, als A***** auf der dritten Spur vorbeizufahren trachtete, kurz vor diesem wieder auf die dritte Spur wechselte und ohne verkehrsbedingte Notwendigkeit bis zum Stillstand abbremste;

II./ anders als durch eine der in §§ 169, 171 und 173 StGB mit Strafe bedrohten Handlungen eine Gefahr für Leib oder Leben einer größeren Zahl von Menschen und für fremdes Eigentum in großem Ausmaß herbeigeführt, und zwar durch die zu I./2./ näher bezeichnete Handlung, wobei sechs im Urteil namentlich genannte Personen dort näher bezeichnete Verletzungen oder Gesundheitsschädigungen erlitten und ein Gesamtschaden an sieben an der Massenkarambolage beteiligten PKW in nicht näher feststellbarer Höhe entstand;

III./ es unterlassen, den zu Punkt II./ genannten Personen, deren Verletzungen am Körper er, durch die in I./2./ näher beschriebene Handlung verursacht hatte, die erforderliche Hilfe zu leisten, indem er nach Ansichtigwerden der von ihm verursachten Massenkarambolage wieder in seinen PKW stieg und davonfuhr.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5 und 9 [lit a] StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

[4] Inwiefern die tatrichterliche Konstatierung, die Gefährlichkeit der Handlung des Angeklagten (II./) habe sich durch eine Massenkarambolage manifestiert, an der „zehn PKW – teils auch mit Beifahrern besetzt – konkret beteiligt waren“ (US 5 f), zur Feststellung der Beschädigung von sieben dieser Fahrzeuge im Widerspruch stehen sollte (Z 5 dritter Fall), und durch jene eine gleichzeitige Gefährdung von mehr als zehn Personen nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht werde (inhaltlich Z 5 erster Fall), vermag die Mängelrüge mit ihrer eigenständigen Interpretation der Wortwahl der Tatrichter nicht überzeugend darzulegen. Prozessordnungswidrig (RIS-Justiz RS0119370) übergeht sie dabei nämlich die Urteilsannahme zum „hohen Verkehrsaufkommen auf der Südautobahn A2, auf der bereits die ersten beiden Fahrspuren von LKW befahren wurden und demnach auf der dritten Spur zahlreiche PKW mit zumindest 100 km/h in nicht allzu großem Abstand hintereinander fuhren“ (US 5).

[5] Solcherart geht auch der Vorwurf (der Sache nach Z 10) mangelnden Sachverhaltsbezugs der Konstatierungen zum Vorsatz des Angeklagten auf Herbeiführung der konkreten Gemeingefährdung (US 6) ins Leere.

[6] Die Beschwerde verkennt im Übrigen, dass zwar in der Regel eine „größere Zahl von Menschen“ bei etwa zehn Personen angenommen wird, aber mit Blick auf die Intensität der Gefahr (den Wahrscheinlichkeitsgrad sowie die Schwere der drohenden Verletzung) – wie hier – eine niedrigere Zahl für die Annahme einer Gemeingefahr ausreichen kann (RIS-Justiz RS0066542 [insb T1 und T7]; Murschetz in WK 2 StGB § 176 Rz 3; Flora , SbgK Vorbem §§ 169 ff Rz 22 ff; Leukauf/Steininger/Tipold , StGB 4 § 176 Rz 7).

[7] Soweit die Rechtsrüge (Z 9 lit a) die Subsumtion des Bremsmanövers des Angeklagten (auch) unter § 105 StGB (I./2./) und allgemein die „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kritisiert, leitet sie die gegenteilige Rechtsmeinung, wonach Gewalt eine „aktive, physische Einwirkung auf den Körper des Opfers“ voraussetze, nicht methodengerecht aus dem Gesetz ab. Denn sie gibt bloß eine Kommentarmeinung wieder ( Schwaighofer in WK² StGB § 105 Rz 41), ohne sich mit der gegenteiligen ständigen Rechtsprechung ( 15 Os 62/19k, 13 Os 23/17g ) oder mit den diese – nach der Intensität der Einwirkung auf die körperliche Sphäre des Opfers – differenzierende Judikatur teilenden weiteren Kommentarstellen ( Seiler , SbgK § 105 Rz 19 ff, 27 ff mit Bezug auf die konforme Judikatur des BGH in Rz 23; Fabrizy , StGB 13 § 105 Rz 3; Kienapfel/Schroll StudB BT I 4 § 105 Rz 19, 20; Fuchs/Reindl-Krauskopf BT I 6 89 f; aM Lewisch BT I 2 , 106) auseinanderzusetzen.

[8] Obiter nur soviel:

[9] Die zwar vom Opfer hervorgerufene Kraft (= Masse mal Beschleunigung) wird erst durch das in Rede stehende Täterverhalten (das sich dieser Kraft bedient) gegen die körperliche Sphäre des Opfers gelenkt – physikalisch nicht anders als durch ein Losfahren des Täters auf ein Opfer ( vgl RIS-Justiz RS0093608; 11 Os 112/20k, 11 Os 3/16z). Von einer „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs kann somit auf der Basis der Gesetze der Mechanik keine Rede sein.

[10] Hingegen überzeugte sich der Oberste Gerichtshof von Amts wegen (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO) von einem ungerügt gebliebenen, dem Schuldspruchpunkt III./ anhaftenden Rechtsfehler mangels Feststellungen (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO), aufgrund dessen sich ein Eingehen auf das zu diesem Vorwurf erstattete Vorbringen (der Sache nach Z 9 lit b) erübrigt:

[11] Aus der gesetzlichen Verpflichtung (nur) zur erforderlichen Hilfeleistung ergibt sich, dass nicht jeder Verletzte (oder an der Gesundheit Geschädigte) als Tatobjekt des § 94 StGB in Betracht kommt, sondern nur derjenige, der aufgrund dieser Verletzung objektiv hilfsbedürftig ist. Eine Verletzung am Körper indiziert zwar in der Regel die Hilfsbedürftigkeit des Opfers,

dies gilt jedoch nicht für Bagatellverletzungen (wie unbedeutende Hautabschürfungen, Schnittwunden, Prellungen etc – RIS-Justiz RS0093466, RS0093506), die wegen ihrer Unerheblichkeit vernachlässigbar sind ( Jerabek/Ropper in WK² StGB § 94 Rz 19 f [zur Frage des Versuchs:] Rz 45 f ) .

[12] Die hier vorliegende Anführung (bloß) der von den an der Massenkarambolage Beteiligten erlittenen „prellungs- bzw zerrungsbedingten Schmerzen“ (vgl US 6) trägt die vorgenommene Subsumtion unter § 94 Abs 1 StGB somit nicht.

[13] In Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hiezu erstatteten Äußerung der Verteidigung war daher – aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde – das Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, im Schuldspruchpunkt III./, demgemäß auch im Strafausspruch, aufzuheben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt zu verweisen.

[14] Mit der diesen Punkt betreffenden Nichtigkeitsbeschwerde und seiner Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

[15] Im Übrigen war die Nichtigkeitsbeschwerde, die trotz Antrags auf Totalaufhebung des bekämpften Urteils kein Sachvorbringen zu Schuldspruch I./1./ enthält (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO), sofort zurückzuweisen.

[16] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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