JudikaturJustiz10ObS6/14a

10ObS6/14a – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Februar 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Engelmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Strohmayer Heihs Strohmayer Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 25. November 2013, GZ 7 Rs 124/13a 24, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 16. 3. 2012 den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass der Kläger nicht die für einen Anspruch auf Invaliditätspension nach § 255 Abs 7 ASVG erforderliche Mindestanzahl von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung erworben habe.

Die Vorinstanzen wiesen das auf Zuerkennung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag gerichtete Klagebegehren im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass der Kläger zum Stichtag 1. 12. 2011 insgesamt 24 Beitragsmonate der Pflichtversicherung (Erwerbstätigkeit) und 69 Beitragsmonate der Teilversicherung (APG) und daher nicht die für einen Anspruch auf Invaliditätspension nach § 255 Abs 7 ASVG erforderliche Mindestanzahl von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung erworben habe. Das Berufungsgericht teilte auch nicht die vom Kläger gegen die geltende Rechtslage vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Die vom Kläger dagegen erhobene außerordentliche Revision ist mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Der Kläger wiederholt in seinem Rechtsmittel seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bestimmung des § 255 Abs 7 ASVG. Diese Bestimmung verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 7 Abs 1 Satz 3 B VG, weil der Gesetzgeber den Zugang behinderter Menschen zur Invaliditätspension ganz erheblich beschränke, indem Versicherte ohne Behinderung nach § 236 ASVG eine geringere Anzahl von (bloßen) Versicherungsmonaten benötigten, während § 255 Abs 7 ASVG willkürlich 120 Beitragsmonate voraussetze, was eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung und Diskriminierung behinderter Menschen bedeute. In Zusammenschau mit § 255 Abs 7 ASVG sei aber auch die Tatsache diskriminierend, dass überhaupt der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach § 255 Abs 1 4 ASVG nur dann vorliege, wenn die Arbeitsfähigkeit später herabsinke, wodurch Menschen mit Behinderung von vornherein diskriminiert würden. Weiters liege ein Verstoß gegen das Versicherungsprinzip vor, weil im Hinblick auf die hinsichtlich der benötigten Versicherungs bzw Beitragsmonate aufgezeigten Unterschiede zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen die notwendige Äquivalenz zwischen Beitrags und Versicherungsleistung nicht gegeben sei. Schließlich liege auch ein Verstoß gegen die von Österreich im Rahmen der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl III 2008/155) übernommene Verpflichtung zur Sicherstellung eines gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugangs behinderter Personen zum Pensionssystem sowie ein Verstoß gegen Art 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor.

Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:

Rechtliche Beurteilung

1. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Ausschlaggebend ist, ob der Pensionswerber ursprünglich arbeitsfähig gewesen ist, seine Arbeitsfähigkeit aber durch eine nach dem Eintritt in das Erwerbsleben eingetretene Verschlechterung „herabgesunken“ ist. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann somit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (vgl grundlegend 10 ObS 44/87, SSV NF 1/33; RIS Justiz RS0085107).

1.1 Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bezweckt also den Schutz des Versicherten vor den Auswirkungen einer körperlich oder geistig bedingten Herabsetzung seiner Arbeitsfähigkeit. Der Versicherungsfall kann nur dann eintreten, wenn während der versicherten Tätigkeit Arbeitsfähigkeit bestanden hat. Ausgehend davon verneinte die Rechtsprechung einen Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, wenn eine Person schon ursprünglich bei Eintritt in das Erwerbsleben in Wirklichkeit gar nicht in der Lage war, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben (10 ObS 141/01k ua). Gegen dieses Ergebnis bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (10 ObS 165/09a, SSV NF 23/87; 10 ObS 141/01k ua; idS auch Pfeil , Systemfragen der geminderten Arbeitsfähigkeit, DRdA 2013, 363 [369], der allerdings die Ansicht vertritt, dass von vornherein arbeitsunfähige Personen nicht den gleichen Beitragspflichten unterworfen werden dürfen wie andere Versicherte). Die Argumentation des Klägers, eine Diskriminierung behinderter Personen ergebe sich schon allein daraus, dass der Versicherungsfall der Invalidität nur beim späteren Herabsinken einer ursprünglichen Arbeitsfähigkeit des Versicherten vorliege, ist daher nicht berechtigt.

2. Es wurde von Behindertenverbänden und der Volksanwaltschaft Kritik geübt, dass bei von vornherein arbeitsunfähigen Menschen trotz der Entgegennahme von Pensionsbeiträgen durch die Pensionsversicherung niemals ein Anspruch auf eine Pensionsleistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit entstehen konnte, sondern nur bei Erfüllung der längeren Wartezeit ein Anspruch auf Alterspension. Es wurde daher mit dem 2. SVÄG 2003, BGBl I 2003/145, mit Geltungsbeginn 1. 1. 2004 § 255 Abs 7 in das ASVG eingefügt, wonach ein Versicherter auch dann als invalid iSd § 255 Abs 1 4 ASVG gilt, wenn er bereits vor der erstmaligen Aufnahme eine die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, dennoch aber mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben hat. Der Gesetzgeber wollte damit auch originär arbeitsunfähigen Menschen den Erwerb eines Anspruchs aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit unter der Voraussetzung, dass sie dennoch über lange Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, ermöglichen. Damit sollte für Behinderte ein Anreiz geschaffen werden, sich in den regulären Arbeitsmarkt aktiv zu integrieren und auf diese Weise einen Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit zu erwerben (vgl ErläutRV 310 BlgNR 22. GP 18).

3. Eine Einordnung der Bestimmung des § 255 Abs 7 ASVG in das System der Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit lässt sich jedoch nicht ganz schlüssig vornehmen, weil wesentliche Unterschiede zwischen diesen Pensionsleistungen bestehen. So setzt der Tatbestand des § 255 Abs 7 ASVG nach dem Gesetzestext und auch nach der ständigen Rechtsprechung im Unterschied zu den Tatbeständen des § 255 Abs 1 4 ASVG nicht voraus, dass der Versicherte durch eine weitere Verschlechterung seines Gesundheitszustands zum Ausscheiden aus seiner bisherigen Tätigkeit gezwungen wird. Es können auch andere Gründe (zB Unternehmensaufgabe des ihn entgegenkommenderweise beschäftigenden Arbeitgebers) zur Tätigkeitsaufgabe veranlassen. Ob der Versicherte in der Lage ist, die bisherige Tätigkeit weiter auszuüben, ist nicht von Bedeutung (vgl 10 ObS 108/05p; 10 ObS 114/05w, SSV NF 19/74 = DRdA 2007/18 und 19, 215 [zust M. Binder ] = ZAS 2007/4, 22 [abl Heckenast ] ua).

Weitere Unterschiede bestehen bei der für den Leistungsanspruch erforderlichen Wartezeit. Die Wartezeit als Leistungsvoraussetzung soll sicherstellen, dass nur solche Anspruchswerber in den Genuss von Leistungen kommen, die der Versichertengemeinschaft bereits eine bestimmte Zeit angehören und durch ihre Beiträge zur Finanzierung der Leistungsverpflichtungen beigetragen haben (vgl RIS Justiz RS0106536; RS0084485). Verfassungsmäßige Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber Pensionsansprüche von der Erfüllung der Wartezeit abhängig macht, bestehen nicht (RIS Justiz RS0056550). Für die Leistungen aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gilt die kürzere Wartezeit des § 236 Abs 1 Z 1 ASVG. Danach genügen 60 Monate, wenn der Stichtag vor Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres, liegt. Liegt der Stichtag nach Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres, so verlängert sich die Wartezeit von 60 Monaten für jeden weiteren Lebensmonat um einen weiteren Monat bis zu maximal 180 Monaten. Dem gegenüber müssen für einen Pensionsanspruch nach § 255 Abs 7 ASVG 120 Beitragsmonate einer Pflichtversicherung nach dem ASVG oder einem anderen Bundesgesetz vorliegen.

4. Wie bereits das Berufungsgericht dargelegt hat, verbietet der in Art 7 B VG normierte Gleichheitsgrundsatz willkürliche unsachliche Differenzierungen unter anderem wegen einer Behinderung. Der Grundsatz wird verletzt, wenn der Gesetzgeber Gleiches ungleich behandelt (RIS Justiz RS0053981). Das Gleichbehandlungsgebot ergibt sich ebenso aus Art 14 EMRK, wonach eine diskriminierende unterschiedliche Behandlung wenn also Rechtssubjekte in einer ähnlichen Situation ohne objektive vernünftige Rechtfertigung ungleich behandelt werden zu unterbleiben hat (RIS Justiz RS0124747).

4.1 Wie der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung hervorhebt (10 ObS 165/09a, SSV NF 23/87; 10 ObS 54/07z, SSV NF 21/35 mwN), ist es dem Gesetzgeber keineswegs verwehrt, Voraussetzungen für den Erwerb oder den Umfang der Leistungsansprüche zu normieren und dabei nach sachlichen Kriterien zu differenzieren. Eine unterschiedliche Behandlung ist nur dann unzulässig, wenn für sie keine objektive und vernünftige Rechtfertigung erkennbar ist, wenn also Rechtssubjekte, die sich in ähnlicher Situation befinden, ohne objektive vernünftige Rechtfertigung ungleich behandelt werden.

4.2 Wie schon aufgezeigt wurde, verfolgt der Gesetzgeber mit der Invaliditätspension nach § 255 Abs 1 4 ASVG einerseits und dem Pensionsanspruch nach § 255 Abs 7 ASVG andererseits unterschiedliche Ziele. Während im ersten Fall der Schutz des Versicherten vor den Auswirkungen einer körperlich oder geistig bedingten Herabsetzung seiner Arbeitsfähigkeit bezweckt wird, also das Risiko einer körperlich oder geistig bedingten Leistungsminderung ausgeglichen werden soll, geht es im zweiten Fall darum, eine trotz originärer Arbeitsunfähigkeit für eine lange Zeit erbrachte Arbeits und Beitragsleistung durch Zuerkennung eines Pensionsanspruchs zu honorieren und dadurch auch die langfristige Integration behinderter Menschen in den Arbeitsprozess zu fördern.

4.3 Im Hinblick auf diese unterschiedlichen Zielsetzungen können aber in den verschiedenen Regelungen keine willkürlichen unsachlichen Differenzierungen erblickt werden. Der Gesetzgeber hat nicht Gleiches ungleich, sondern Ungleiches verschieden behandelt, wobei es ihm unbenommen war, die jeweiligen Voraussetzungen für den Erwerb der Leistungsansprüche nach den aufgezeigten sachlichen Kriterien unterschiedlich zu gestalten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die sozialrechtliche Absicherung von Personen, die bereits zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit objektiv kaum oder gar nicht arbeitsfähig sind, grundsätzlich nicht über die Gewährung einer Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, sondern als Ausnahme nur dann erfolgt, wenn der Betreffende tatsächlich längere Zeit gearbeitet hat ( Födermayr in SV Komm § 255 Rz 234).

5. Gegen das Erfordernis der Erfüllung der in § 255 Abs 7 ASVG vorgesehenen besonderen Wartezeit bestehen daher nach Ansicht des erkennenden Senats auch im Hinblick auf das besondere Benachteiligungsverbot für Behinderte in Art 7 Abs 1 Satz 3 B VG, die Bestimmung des Art 21 Abs 1 EGRC, die ein vergleichbares ausdrückliches Diskriminierungsverbot enthält, sowie die von Österreich nur unter Erfüllungsvorbehalt (Art 50 Abs 2 Z 3 B VG) übernommene Verpflichtung in Art 28 Abs 2 lit b des UN Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl III 2008/155), wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, diesen Personen einen „gleichberechtigten Zugang zu Leistungen und Programmen der Altersversorgung zu sichern“, keine verfassungsrechtlichen Bedenken (aA Pfeil , Systemfragen der geminderten Arbeitsfähigkeit, DRdA 2013, 363 [369]). Der erkennende Senat sieht sich daher zu der vom Kläger angeregten Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof nicht veranlasst. Die vom Kläger weiters relevierte Frage einer angeblichen Verfassungswidrigkeit der (gleichen) Höhe der von ihm zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge bei verminderter Chance auf eine Pensionsleistung kann nicht im vorliegenden Fall geprüft werden.

Rechtssätze
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