JudikaturJustiz10ObS231/02x

10ObS231/02x – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. November 2002

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Kurt M*****, Submonteur, *****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen vorzeitiger Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. März 2002, GZ 7 Rs 81/02m-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. Dezember 2001, GZ 5 Cgs 122/00s-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es insgesamt zu lauten hat:

"1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger die vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. März 2000 zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.

2. Der beklagten Partei wird aufgetragen, dem Kläger vom 1. März 2000 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von EUR 700 monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils im Nachhinein am Ersten des Folgemonats.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit EUR 399,74 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten EUR 66,62 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 27. 2. 1943 geborene Kläger hat den Beruf eines Lithografen in der Offset-Branche erlernt und immer in dieser Branche gearbeitet, und zwar als Offset-Kopierer und zuletzt als Submonteur. Seit 30. 6. 1995 ist der Kläger nicht mehr berufstätig.

In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 3. 2000) hat der Kläger bei drei verschiedenen Firmen als Submonteur gearbeitet. Seine Tätigkeit bestand zu etwa 80 % darin, dass er über einen Leuchttisch gebeugt und durch eine Lupe blickend am Zusammenbau von Filmen gearbeitet hat, die in vollendetem Zustand als Druckvorlage im Offset-Druck dienten. Bei dieser Arbeit am Leuchttisch musste der Kläger Seiten mit Bildern und Texten zusammenmontieren, die mit der Lupe eingepasst und geklebt werden mussten. Diese Tätigkeit kann nur stehend verrichtet werden. Für die Tätigkeit werden beide Hände benötigt, sodass keine Hand zum Abstützen frei ist. Zur Tätigkeit eines Submonteurs gehört auch das Zusammenkopieren der verschiedenen Ebenen der Vorarbeiten auf einen Film. Dabei steht der Submonteur vornüber über den Kopierer gebeugt, befreit die zu kopierenden Seiten von Staub und schaut, dass alles genau in einen Rahmen eingepasst ist. Bei zwei der drei Firmen, bei denen der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag gearbeitet hat, hat er diese Tätigkeit nur zu einem geringen Teil verrichtet, bei der dritten Firma zu etwa 20 bis höchstens 25 %.

Das Vorhandensein von mindestens 100 hauptberuflichen Arbeitsplätzen in Österreich kann für die Beschäftigung des Submonteurs für den Zeitraum ab 2000 nicht objektiviert werden. Die Tätigkeit des Submonteurs wurde durch technologischen Änderungen im graphischen Gewerbe und im Druckwesen obsolet und wird nunmehr im Rahmen des Lehrberufs Reprograf (mit einer dreijährigen Lehrzeit) mittels Computer und Scanner erledigt. Die Tätigkeit des Submonteurs ist eine (technologisch überholte) Teiltätigkeit im Rahmen des Lehrberufs Reprograf. Die Berufsbezeichnung Reprograf gibt es mit Österreich seit Beginn der 90er-Jahre. In Österreich sind mehr als 100 Arbeitsplätze mit Reprografen besetzt. In diesem Beruf kommt es nicht zu Belastungen, die über das dem Kläger verbliebene Leistungskalkül hinausgehen. Die Leistungsfähigkeit des Klägers ist auf mittelschwere Arbeiten eingeschränkt, die nicht mehr als halbzeitig in gebückter Haltung bzw mit nach vorne gebeugter Körperhaltung ohne Abstützmöglichkeit durchzuführen ist. Bei der Tätigkeit des Reprografen kommen extrem vorgebeugte oder kalkülsüberschreitend gebückte Arbeitshaltungen nicht vor.

Eine konzentrierte vier- bis sechsmonatige Fachergänzungsschulung reicht üblicherweise für gelernte Lithografen (Reproduktionsfotografen) oder Drucker aus, um Facharbeit im Rahmen des Lehrberufs Reprograf, speziell verbunden mit dem Umgang mit diversen elektronischen Geräten, leisten zu können. Bei diesem Zeitraum von vier bis sechs Monaten ist schon mitberücksichtigt, dass für einen im Beruf stehenden Arbeitnehmer eine solche technologische Weiterentwicklungsschulung Voraussetzung dafür wäre, dass er den Beruf zielgerecht ausüben kann. Wäre der Kläger im Beruf geblieben, hätte er diese Schulung notwendigerweise für die zielgerechte Arbeitsausführung verrichten müssen, da in diesem Beruf eine rasante technische Entwicklung stattgefunden hat, die sich auch darin zeigt, dass alle paar Jahre die Berufsbezeichnungen wechseln. Mit Bescheid vom 28. 4. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 27. 2. 2000 auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit mit der Begründung ab, dass der Kläger noch imstande sei, die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend ausgeübte Tätigkeit als Reprotechniker auszuüben.

Das Erstgericht wies das auf Zuerkennung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ab dem Stichtag gerichtete Klagebegehren ab. Der Kläger könne die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend ausgeübte Tätigkeit als Submonteur halbtags nach wie vor ausüben; allerdings gebe es dafür keine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen am Arbeitsmarkt. Ausgehend von dem für den Kläger günstigeren Fall, dass ein Berufsschutz als Submonteur erhalten geblieben sei (er habe von 1960 bis 1995 als Submonteur gearbeitet), sei er verweisbar auf die gleichartige Tätigkeit des Reprografen, und zwar unabhängig davon, ob er den Beruf eines Lithografen oder eines Druckers erlernt habe, da ihm eine vierbis sechsmonatige Fachergänzungsschulung zumutbar sei. Würde man von der ungünstigeren Variante ausgehen, dass der Kläger, weil er diese notwendige Schulung nicht gemacht habe, den Berufsschutz verloren habe, wäre das Verweisungsfeld noch größer, da er dann auf diverse Hilfsarbeitertätigkeiten verweisbar wäre.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und führte in rechtlicher Hinsicht aus, dass der - mittlerweile aus dem Rechtsbestand beseitigten - vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähig nach § 253d ASVG nicht bloß ein Berufsschutz, sondern ein Tätigkeitsschutz zugrunde liege, wobei nur auf die während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG ausgeübte gleiche oder gleichartige Tätigkeit abgestellt werde, allerdings nicht mit dem auf einem bestimmten Arbeitsplatz, sondern mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt. Der Versicherte dürfe nur nicht auf andere als die bisher überwiegend geleisteten Tätigkeiten verwiesen werden. Zulässig sei es, den Versicherten auf Arbeiten zu verweisen, die zwar im Kernbereich völlig mit der bisher geleisteten Tätigkeit übereinstimmten, bei denen jedoch Nebentätigkeiten wegfallen, die am Arbeitsmarkt mit der Haupttätigkeit nicht typischerweise verbunden seien. Der Kernbereich der Tätigkeit des Klägers sei nach der modernen Entwicklung des Berufsbildes zu beurteilen, dies auch aus dem Sichtwinkel des Sozialversicherungsgedankens und der Versichertengemeinschaft, der keine zusätzlichen Belastungen aufzubürden seien, wenn durch zumutbare Ergänzungsschulungen sogar erleichternde, aber dennoch im Ergebnis berufsspezifische (nunmehr computerunterstützte) Tätigkeiten, die im Ergebnis der Vortätigkeit entsprächen, ohne Überschreitung des Leistungskalküls ausgeübt werden könnten, wenn auch in einem neu bezeichneten (Lehr )Beruf als Reprograf. Daraus folge, dass im Rahmen des § 253d ASVG die "Verweisung" des Klägers auf seine bisherige, wenn auch technologisch (erleichternd) modifizierte Tätigkeit nach zumutbarer kurzer Ein- und Umschulung als zulässig erkannt werden müsse.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Aufhebung (Abänderung) im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt. Der Kläger macht in seinen Revisionsausführungen im Wesentlichen geltend, die Auffassung des Berufungsgerichts stelle eine Überspannung des Verweisungsspekturms dar. Nur deshalb, weil es möglicherweise die Tätigkeit des Submonteurs nicht mehr gebe, sei die Verweisung auf einen anderen Beruf, der ähnliche Arbeitsergebnisse bringe wie der ursprüngliche Beruf, nicht zulässig. Überdies könne der Kläger die Tätigkeit eines Reprografen erst nach einer Fachergänzungsschulung von vier bis sechs Monaten Dauer ausüben, die unter Bedachtnahme auf den dem Kläger zukommenden Tätigkeitsschutz unzumutbar sei. Der Umfang und Inhalt der Schulung weise im Übrigen darauf hin, dass der Kläger seine bisher erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten im Beruf des Reprografen nicht oder nur in geringem Ausmaß verwenden könne. Vielmehr liege eine Zusatzausbildung vor, die sich vom ursprünglichen Beruf des Submonteurs sehr weit entferne. Beim Erfordernis einer derart umfangreichen Nachschulung könne nicht mehr von einer gleichartigen Tätigkeit bzw von einer Tätigkeit gesprochen werden, die den Tätigkeitsschutz iSd § 253d ASVG verwirkliche.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu.

Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nach § 253d ASVG (in der bis zum Inkrafttreten des Sozialversicherungs-Änderungsgesetzes 2000 - SVÄG 2000, BGBl I 2000/43 geltenden und auf den vorliegenden Fall gemäß § 587 Abs 3 ASVG noch anzuwendenden Fassung) hat der Versicherte unter anderem dann, wenn er in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat (Z 3) und infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (Z 4). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind gleichartige Tätigkeiten iSd § 253d Abs 1 Z 3 ASVG solche, die in ihrem Kernbereich im Wesentlichen ähnliche physische und psychische Anforderungen unter anderem an Intelligenz, Kenntnisse, Umsicht, Verantwortungsbewusstsein, Handfertigkeit, Körperkraft, Körperhaltung, Durchhaltevermögen und Konzentrationsfähigkeit stellen. Der Kernbereich einer Tätigkeit ergibt sich aus den Umständen, die ihr Wesen ausmachen und die sie von anderen Tätigkeiten unterscheiden. Unterschiedliche Anforderungen im Randbereich der Tätigkeit stehen der Annahme der Gleichartigkeit nicht entgegen; umgekehrt führen Übereinstimmungen im Randbereich nicht zur Bejahung der Gleichwertigkeit (SSV-NF 11/53 ua). Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber im Fall des § 253d Abs 1 Z 4 ASVG nicht nur von einem Berufsschutz, sondern von einem Tätigkeitsschutz ausging (SSV-NF 12/50 = ZAS 1999/9, Karl), wenn auch nicht von einem Arbeitsplatzschutz.

Nach den Feststellungen ist die vom Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausgeübte, mittlerweile technologisch überholte Tätigkeit eines Submonteurs in der Tätigkeit des Reprografen aufgegangen; die Tätigkeit wird nunmehr mittels Computer und Scanner erledigt. Maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob ein Versicherter imstande ist, durch die in den letzten 15 Jahren überwiegend ausgeübte Tätigkeit die so genannte Lohnhälfte zu verdienen, sind die Anforderungen, die an diese Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt in ihrer aktuellen Ausformung gestellt werden (vgl 10 ObS 236/00d = SSV 14/130 = ARD 5236/14/2001 [Zugführer bei einer Lokalbahn]).

Allein von seinem Leistungskalkül her betrachtet könnte der Kläger zwar die Tätigkeit eines Reprografen ausüben. Allerdings ist hier - um eine zielgerichtete Arbeitsausführung zu ermöglichen - eine konzentrierte vier- bis sechsmonatige Fachergänzungsschulung notwendig, die speziell auf den Umgang mit diversen elektronischen Geräten ausgerichtet ist. Eine Ergänzungsschulung in einem solchen Ausmaß ist jedoch mit einem Tätigkeitsschutz nicht vereinbar. Die zu § 255 ASVG entwickelte Judikatur, wonach sich eine halbjährige Zusatzausbildung im Rahmen dessen hält, was von einem versicherten Dienstnehmer als Nach- und nicht als Umschulung zugemutet werden könne (10 ObS 2341/96d = ARD 4898/4/97), vor allem wenn sie innerbetrieblich erfolge (SSV-NF 8/84), kann nicht auf den Tätigkeitsschutz übertragen werden, da dieser damit ausgehöhlt würde.

§ 253d ASVG stellt darauf ab, ob der Versicherte nicht mehr imstande ist, durch die bisherige Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Als Vergleichsmaßstab steht somit eindeutig die bisherige Tätigkeit im Vordergrund. Damit unvereinbar wäre die Forderung, dass sich der Versicherte einer Weiterentwicklung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten unterziehen muss, die ein Ausmaß von zumindest vier Monaten erfordert.

Ausgehend davon, dass der Kläger seine bisherige Tätigkeit in ihrer aktuellen Ausformung nicht mehr ausüben kann und auch keine möglichen Verweisungsberufe (im Rahmen des § 253d ASVG) festgestellt sind, erweist sich das Klagebegehren als berechtigt, weshalb der beklagten Partei unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO auch die Erbringung einer vorläufigen Zahlung aufzutragen war. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

Rechtssätze
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