JudikaturJustiz10ObS175/01k

10ObS175/01k – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Juli 2001

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Bukovec (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Winfried Kmenta (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Kadrija H*****, Arbeiter, *****, Bosnien-Herzegowina, vertreten durch Dr. Christian Riesemann, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, über Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. März 2001, GZ 7 Rs 252/00h-25, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. September 2000, GZ 41 Cgs 245/99f-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 2. Oktober 1946 geborene und in Bosnien-Herzegowina wohnhafte Kläger war von April 1972 bis Dezember 1978 in Österreich als Bauarbeiter und Maurer berufstätig, wobei er 86 Versicherungsmonate erwarb, davon 81 Beitragsmonate. In Bosnien-Herzegowina hat der Kläger zwischen 1962 und Mai 1997 250 Versicherungsmonate erworben.

Am 27. 9. 1996 langte der Antrag des Klägers vom 23. 9. 1996 auf Gewährung der Invaliditätspension beim Versicherungsträger ein.

Der Kläger leidet an einem Zustand nach Oberarmamputation rechts 1982, einem Zustand nach zweimaligem Schlaganfall mit Kraftabschwächung der linken Hand, einer Dupuytren'schen Kontraktur des dritten bis fünften Fingers der linken Hand mit deutlicher Gebrauchsverminderung, einem vermutlich insulinpflichtigen Diabetes mellitus, einem kompensierten Hochdruckherz sowie einem verminderten Allgemein-, Ernährungs- und Kraftzustand. Eine Besserung des Gesundheitszustandes ist ausgeschlossen. Der Kläger war bereits ab Antragstellung im September 1996 nicht mehr in der Lage, geregelten Arbeiten nachzugehen.

Mit Bescheid vom 29. 9. 1999 lehnte die beklagte Partei den Antrag auf Zuerkennung der Invaliditätspension mangels Vorliegens von Invalidität ab.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 23. 9. 1996 gerichtete Klagebegehren ab. Auch wenn der Kläger invalid im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG sei, sei doch die Wartezeit nicht erfüllt. Österreich habe das mit der Sozialistichen Föderativen Republik Jugoslawien im Jahre 1965 abgeschlossene Abkommen über Soziale Sicherheit, das eine gegenseitige Anrechnung von Versicherungszeiten vorgesehen habe und das nach dem Zerfall von Jugoslawien zwischen Österreich und den Nachfolgestaaten weiter angewendet worden sei, zum 30. September 1996 gekündigt. Das am 12. Februar 1999 unterzeichnete neue Abkommen zwischen Österreich und Bosnien-Herzegowina über Soziale Sicherheit, das auch eine gegenseitige Anrechnung von im Vertragsstaat erworbenen Versicherungszeiten und in bestimmten Fällen eine rückwirkende Anwendung ab 1. Oktober 1996 vorsehe, sei aber noch nicht in Kraft getreten. Da Stichtag für die Feststellung, ob und in welchem Ausmaß eine Leistung gebühre, nach § 223 Abs 2 ASVG nicht der Tag der Antragstellung, sondern der dem Eintritt des Versicherungsfalls folgende Monatserste (hier: 1. Oktober 1996) sei und die an diesem Tag bestehende Rechtslage maßgebend sei, könnten nur die vom Kläger in Österreich erworbenen Versicherungszeiten berücksichtigt werden, die aber zur Erfüllung der Wartezeit nicht ausreichen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Die sekundären Voraussetzungen der Wartezeit und ob und in welcher Fassung ein Sozialversicherungbkommen auf den konkreten Fall anzuwenden sei, sei immer zum Stichtag zu prüfen. Zu dem hier maßgeblichen Stichtag 1. Oktober 1996 sei das Abkommen Österreichs mit Jugoslawien aber nicht mehr in Geltung gestanden, weshalb sich der Kläger auch nicht auf dessen Artikel 20 berufen könne. Im übrigen würden die Bedenken des Klägers gegen die Verfassungsmäßigkeit der Kündigung des Abkommens nicht geteilt. Insbesondere sei die in Art 48 des Abkommens vorgesehene dreimonatige Kündigungsfrist eingehalten worden. Das Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand der geltenden Rechtslage genieße als solches keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Das mit der Kündigung des Abkommens mit Jugoslawien verfolgte Ziel (Einschränkung der Familienbeihilfenzahlungen an im Ausland wohnhafte Kinder) sei an sich geeignet, einen Eingriff in bestehende Rechtspositionen zu rechtfertigen, zumal das Abkommen eine Kündigungsmöglichkeit vorsehe und neue Abkommen mit einigen Nachfolgestaaten Jugoslawiens bereits geschlossen worden seien. Das mit Bosnien-Herzegowina geschlossene Abkommen über Soziale Sicherheit sei aber bis dato noch nicht ratifiziert. Bereits gewährte Pensionsleistungen seien von der Kündigung des Abkommens nicht betroffen. Schließlich sei eine unsachliche Diskriminierung des Klägers nicht gegeben, weil auch ein Österreicher, der zu wenig Versicherungsmonate für eine Pension aufweise, diese nicht erhalten könne.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, der Revision Folge zu geben und das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die in den Urteilen der Vorinstanzen enthaltene rechtliche Beurteilung der Sache ist zutreffend, weshalb es ausreicht, auf deren Richtigkeit hinzuweisen (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO).

Nach dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien wurde das Abkommen über soziale Sicherheit vom 19. November 1965 (BGBl 1966/289) in der Fassung des Zusatzabkommens vom 19. März 1979 (BGBl 980/81) und des zweiten Zusatzabkommens vom 11. Mai 1988 (BGBl 1989/269) zwischen der Republik Österreich und den jugoslawischen Nachfolgestaaten vorerst weiter angewendet. Im Verhältnis zur Republik Bosnien-Herzegowina hat die Republik Österreich das Abkommen gemäß seinem Art 48 zum 30. September 1996 gekündigt (BGBl 1996/347 vom 19. Juli 1996). Die vom Bundespräsidenten am 27. Juni 1996 unterzeichnete und vom Bundeskanzler gegengezeichnete Kündigungsurkunde wurde am 28. Juni 1996 einem Vertreter der Botschaft der Republik Bosnien-Herzegowina in Wien übergeben. Diese Kündigung wurde vom Nationalrat - aufgrund eines entsprechenden Antrags des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 11. 6. 1996 (AB 183 BlgNR XX.GP) - genehmigt. Hintergrund der Kündigung war, dass die zur Budgetkonsolidierung erforderlichen Maßnahmen unter anderem vorsahen, dass an Anspruchsberechtigte, deren Kinder ständig im Ausland wohnhaft sind, keine österreichische Familienbeihilfe zu gewähren ist; das auf die Beziehungen zu Bosnien-Herzegowina weiterangewendete bilaterale Sozialversicherungsabkommen mit der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien stand einer solchen Regelung entgegen.

Die Kündigung des Abkommens seitens der Republik Österreich hatte zur Folge, dass im Verhältnis zur Republik Bosnien-Herzegowina seit 1. Oktober 1996 im Bereich der sozialen Sicherheit keine bilateralen Beziehungen mehr bestehen. Ein neues Abkommen über soziale Sicherheit mit der Republik Bosnien-Herzegowina wurde zwar bereits unterzeichnet, bisher aber noch nicht ratifiziert.

Die Frage, ob und in welcher Fassung ein Sozialversicherungsabkommen auf einen konkreten Fall Anwendung zu finden hat, ist ausgehend von der Rechtslage am Stichtag zu prüfen (SSV-NF 7/46 ua; RIS-Justiz RS0076166). Da der für einen Leistungsanspruch des Klägers in Betracht kommende Stichtag 1. Oktober 1996 bereits nach dem Außerkrafttreten des AbkSozSi-Jugoslawien liegt, kann sich der Kläger zur Erfüllung der Wartezeit nicht mit Erfolg auf die Bestimmungen dieses Abkommes berufen (vgl 10 ObS 20/00i mwN).

Soweit der Kläger demgegenüber unter Berufung auf die Entscheidungen

10 ObS 251/97b (SVSlg 43.896 = ARD 4904/16/98) und 10 ObS 298/97i

(SSV-NF 11/105 = SVSlg 43.897 = ARD 4969/27/98) davon ausgeht, dass

"die primären Anspruchsvoraussetzungen für eine Pension nach der Rechtslage bei Eintritt des Versicherungsfalls und nicht nach der Rechtslage am Stichtag zu prüfen seien", wobei die Frage der Gültigkeit des Abkommens zu den primären Anspruchsvoraussetzungen zähle, ist ihm in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht Folgendes zu entgegnen: Abgesehen davon, dass die Erfüllung der Wartezeit als sekundäre Anspruchsvoraussetzung beurteilt wird (siehe etwa Tomandl, Grundriß des österreichischen Sozialrechts4, 128 ua), wurde § 223 Abs 2 ASVG mit der 55. Novelle zum ASVG (BGBl I 1998/138) mit Wirkung ab 1. 9. 1996 vom Gesetzgeber - unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 9. 9. 1997, 10 ObS 298/97i - authentisch dahin interpretiert, dass der Stichtag für die Beurteilung sowohl der primären als auch der sekundären Anspruchsvoraussetzungen maßgeblich ist. In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage (1234 BlgNR XX. GP) heißt es ausdrücklich: "Mit der vorgeschlagenen Änderung soll daher expressis verbis klargestellt werden, daß die zum Stichtag geltende Rechtslage der Prüfung aller Pensionsanspruchsvoraussetzungen inklusive des Eintrittes des Versicherungsfalles zugrunde zu legen ist." Wie erwähnt stand zum hier maßgeblichen Stichtag 1. Oktober 1996 das AbkSozSi-Jugoslawien im Verhältnis zur Republik Bosnien-Herzegowina aber nicht mehr in Kraft.

Das Revisionsgericht teilt auch nicht die vom Kläger dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Kündigung des AbkSozSi-Jugoslawien im Verhältnis zur Republik Bosnien-Herzegowina. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wurde die im Abkommen vorgesehene dreimonatige Kündigungsfrist eingehalten, weil die Kündigungsfrist entgegen der Ansicht des Klägers nicht erst durch die Kundmachung im österreichischen Bundesgesetzblatt ausgelöst wurde, sondern bereits durch die am 28. Juni 1996 erfolgte Übergabe der vom Bundespräsidenten am 27. Juni 1996 unterzeichneten und vom Bundeskanzler gegengezeichneten Kündigungsurkunde an einen Vertreter der Republik Bosnien-Herzegowina.

Auch das Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand einer bestimmten Rechtslage genießt als solches - im Hinblick auf das Demokratieprinzip - keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (Walzel v. Wiesentreu, Vertrauensschutz und generelle Norm, ÖJZ 2000, 1 ff). Namentlich sieht Art 49 Abs 1 B-VG sogar die Möglichkeit der Erlassung rückwirkender Normen vor (vgl Thienel, Art 49 B-VG und die Bestimmung des zeitlichen Geltungsbereichs von Bundesgesetzen, ÖJZ 1990, 161). Grundsätzlich muss sich auch jeder Normunterworfene auf Rechtsänderungen einstellen - im konkreten Fall nicht zuletzt deshalb, weil das AbkSozSi-Jugoslawien eine ausdrückliche Kündigungsmöglichkeit vorsah.

Das Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand einer einmal gegebenen Rechtslage ist nur unter besonderen Umständen zu berücksichtigen (Walzel v. Wiesentreu aaO 3, 10 mwN; Tomandl, Gedanken zum Vertrauensschutz im Sozialrecht, ZAS 2000, 129 [133]). Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des VfGH können gesetzliche Vorschriften mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Konflikt geraten, weil und insoweit sie die im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage handelnden Normunterworfenen nachträglich belasten. Dies kann bei schwerwiegenden und plötzlich eintretenden Eingriffen in erworbene Rechtspositionen, auf deren Bestand der Normunterworfene mit guten Gründen vertrauen konnte, zur Gleichheitswidrigkeit des belastenden Eingriffs führen.

Nach dem tragenden Gedanken des Vertrauensschutzes muss also verhindert werden, dass sich durch das positive Recht veranlasste langfristige Dispositionen letztlich als Fehldispositionen herausstellen (Tomandl aaO 134). Speziell bezogen auf das Sozialrecht ist jedoch dessen "dynamischer Charakter" zu bedenken. Außerdem wurde bereits auf die vorgesehene Möglichkeit der Kündigung des AbkSozSi-Jugoslawien hingewiesen, die als eine realistische Möglichkeit in Betracht gezogen werden musste, was die Berufung auf ein schutzwürdiges Vertrauen erheblich einschränkt, da niemand verlangen kann, einen Schutz für seine Dispositionen zu erhalten, wenn diese auf Hoffnungen und nicht auf begründeten Erwartungen beruhen. Das Wirksamwerden der Abkommenskündigung bewirkt zwingend, dass Antragsteller ab dem ersten nach dem Kündigungstermin liegenden Stichtag die Leistung nicht mehr erhalten. Dieser Effekt tritt irgendwann immer ein, auch wenn eine längere Kündigungsfrist bestanden hätte.

Eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen österreichischen Staatsangehörigen und Staatsbürgern der Republik Bosnien-Herzegowina ist nicht erkennbar. Für beide gilt in gleichem Maße das Erfordernis der Erfüllung der Wartezeit. Eine wechselseitige Berücksichtigung von Versicherungszeiten bedürfte einer ausdrücklichen Anordnung, die aber im vorliegenden Fall - unter Bedachtnahme auf das Außerkrafttreten des AbkSozSi-Jugoslawien - fehlt.

Die schließlich geäußerte Ansicht, Artikel 56 Abs 2 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge und Artikel 48 des AbkSozSi-Jugoslawien stünden in Österreich (allenfalls als "Völkergewohnheitsrecht") in Verfassungsrang, ist nicht begründet.

Es besteht somit auch kein Anlass, aus einem der in der Revision aufgeworfenen Gründe einen Antrag gemäß Art 140 Abs 1 B-VG an den Verfassungsgerichtshof zu stellen.

Da die Vorinstanzen zu Recht die Voraussetzungen für die Erlangung einer Invaliditätspension verneint haben, ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Rechtssätze
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