JudikaturJustiz10ObS152/14x

10ObS152/14x – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Februar 2015

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Mag. Alexander Heihs, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 27. August 2014, GZ 7 Rs 62/14k 37, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die am 12. 4. 1960 geborene Klägerin hat den Beruf einer Friseurin und Perückenmacherin erlernt. Ab September 1995 absolvierte sie eine halbjährige Ausbildung zur Buchhalterin und Lohnverrechnerin. Nach innerbetrieblicher Einschulung war sie in dieser Funktion in einem Bauunternehmen bis 2002 tätig. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (dem 1. 10. 2011) liegen somit nur 54 Monate einer Angestelltentätigkeit als Buchhalterin/Lohnverrechnerin. Die Klägerin ist auf Angestelltenberufe nicht mehr verweisbar, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, dem mit Angestelltenberufstätigkeiten verbundenen Zeitdruck standzuhalten. Mit ihrem Leistungskalkül noch im Einklang stehen aber die Berufstätigkeiten einer Reinigungskraft (Raumpflegerin) oder Museumsaufseherin.

Das Erstgericht wies das auf Zuspruch der Invaliditätspension gerichtete Klagebegehren ab. Rechtlich ging es davon aus, die Berufsunfähigkeit der Klägerin richte sich nach § 273 ASVG. Mangels Vorliegens von 90 Pflichtversicherungsmonaten als Angestellte oder nach § 255 Abs 1 ASVG sei die Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu prüfen (§§ 273 Abs 2 iVm 255 Abs 3 ASVG), sodass auch eine Verweisung auf die Tätigkeiten einer Reinigungskraft und Museumsaufseherin möglich sei. Die sogenannte „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a und 3b ASVG) komme nicht zur Anwendung, weil die der Klägerin noch möglichen Tätigkeiten über dem „geringsten Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a Z 4 ASVG liegen und die Klägerin auch keine 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung (Erwerbstätigkeit) aufweise.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Da in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nicht 90 Pflichtversicherungsmonate einer Angestelltentätigkeit oder einer Berufstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG vorlägen, genieße die Klägerin keinen Berufsschutz. Deshalb sei jene Rechtsprechung nicht anwendbar, nach der das Verweisungsfeld gemäß § 273 Abs 1 ASVG durch den zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübten Beruf bestimmt werde und ein Angestellter nur auf die zuletzt ausgeübte Angestelltentätigkeit oder eine gleichwertige Tätigkeit im Rahmen seiner Berufsgruppe verweisbar sei. Mangels Bestehens von Berufsschutz sei die Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt möglich (§ 255 Abs 3 ASVG). Berufsunfähigkeit läge nur dann vor, wenn die Klägerin keine (einzige) Tätigkeit mehr ausüben könnte, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeboten werde.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin. Nach ihrer Auffassung ist die Revision zulässig, weil bei Beurteilung der Verweisungsmöglichkeiten auf den Ausbildungsstatus und auf die Art und Qualifikation der Tätigkeiten im Sinn einer Billigkeitsabwägung und Zumutbarkeitsprüfung Rücksicht zu nehmen gewesen wäre. Im Fall der Anwendung des § 273 Abs 2 ASVG dürfe zwar auf jegliche Angestelltentätigkeiten ohne Bedachtnahme auf einen allfälligen sozialen Abstieg verwiesen werden, nicht aber auf Tätigkeiten außerhalb des „Angestelltensektors“. Widrigenfalls käme es zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten und systemwidrigen Vermengung der gesetzlichen Tatbestände der Invalidität und Berufsunfähigkeit. Da die Klägerin keine Angestelltentätigkeiten mehr verrichten könne, stehe ihr mangels Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt die Berufsunfähigkeitspension zu.

Rechtliche Beurteilung

Dazu ist auszuführen:

1.1. Die von der Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag erworbenen Beitragsmonate gehen ausschließlich auf Angestelltentätigkeiten iSd § 1 Abs 1 AngG zurück, sodass ihr Anspruch auf Invaliditätspension unter Zugrundelegung des Berufsunfähigkeitsbegriffs des § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist.

1.2. Nach § 273 Abs 1 ASVG idF des 2. SVÄG 2003 BGBl I 2003/145 galt der Versicherte als berufsunfähig, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.

1.3. Ab 1. 1. 2011 trat eine Änderung der Rechtslage durch das BudgetbegleitG 2011 BGBl I 2010/111 ein.

Nach § 273 Abs 1 ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 gilt die versicherte Person als berufsunfähig, deren Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte/r oder nach § 255 Abs 1 ASVG- also eine Tätigkeit in einem erlernten (angelernten) Beruf - ausgeübt wurde. Als Erfordernis für den Erwerb des Berufsschutzes muss für Stichtage ab 1. 1. 2011 nunmehr die Ausübung von mindestens 7,5 Jahren eines erlernten (angelernten) Berufs innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag erfüllt sein. Damit führt erstmals auch bei Angestellten nur eine qualifiziert lange Ausübung der Tätigkeit zum Berufsschutz (10 ObS 146/11k, SSV NF 26/2).

1.4. Durch das am 27. 12. 2011 kundgemachte SRÄG 2011, BGBl I 2011/122 erfuhr § 273 Abs 2 ASVG (neuerlich) eine Änderung. Diese Bestimmung lautet nun dahin, dass die versicherte Person im Falle des Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach Abs 1 auch dann als berufsunfähig gilt, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das eine körperlich und geistig gesunde versicherte Person regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Gemäß der Schlussbestimmung des § 663 Abs 1 Z 3 ASVG idF des SRÄG 2011 trat § 273 Abs 2 ASVG rückwirkend mit 1. 1. 2011 in Kraft.

2. Diese Änderungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

2.1. Zum Begriff der Berufsunfähigkeit:

Nach den Gesetzesmaterialien (RV 1512 BlgNR 24. GP 11) soll mit der Neuregelung des § 273 Abs 2 ASVG im Hinblick darauf, dass der Berufsschutz im Rahmen des BudgetbegleitG 2011 neu geregelt wurde und für ArbeiterInnen und Angestellte grundsätzlich nur noch dann Platz greift, wenn für eine bestimmte Zeit eine qualifizierte Berufstätigkeit ausgeübt wurde, auch für Angestellte im Wege der Verweisung auf den Invaliditätsbegriff nach § 255 Abs 3 ASVG Vorsorge für den Fall getroffen werden, dass die Kriterien für den Berufsschutz nicht erfüllt werden. Es wird somit klargestellt, dass diesfalls die Bestimmungen für Personen, die nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig waren, entsprechend zur Anwendung kommen. Berufsunfähigkeit liegt in diesen Fällen nur dann vor, wenn der Gesundheitszustand der betroffenen Person so beeinträchtigt ist, dass sie keine Tätigkeit mehr ausüben kann, die am Arbeitsmarkt angeboten wird und ihr auch zumutbar ist („weites Verweisungsfeld“).

2.1.1 Besteht also Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG, so bleiben die allgemeinen Verweisungsregeln unberührt, das heißt, dass bei Angestellten bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten wie bisher von der zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübten Tätigkeit auszugehen ist (RIS Justiz RS0083742) und eine Verweisung auf Tätigkeiten, die mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden wären, nicht zulässig ist. Ebenso ist die Verweisung auf ungelernte Arbeitertätigkeiten unzulässig, weil der Versicherte nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, durch deren Ausübung der Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG verloren ginge (RIS Justiz RS0084837).

2.1.2 Besteht hingegen kein Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG, weil der Versicherte nicht 90 Pflichtversicherungsmonate hindurch eine qualifizierte Berufstätigkeit ausgeübt hat, so ist nunmehr die Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122 zu beurteilen, der auf den Invaliditätsbegriff des § 255 Abs 3 ASVG verweist und somit eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und auch auf ungelernte Arbeitertätigkeiten möglich macht. Insofern wurde mit der Neuregelung für ArbeiterInnen und Angestellte ein einheitliches Rahmenrecht für den Berufsschutz geschaffen ( Panhölzl , Neuregelung des Bereichs Invalidität und Rehabilitation in DRdA 2011, 309 [313]). So gelangt auf Angestellte, die keinen Berufsschutz genießen bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch die sogenannte „Härtefallregelung“ des § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 3a und 3b ASVG zur Anwendung (10 ObS 173/11f = RIS Justiz RS0127383 T3]; 10 ObS 149/11a, SSV NF 26/13). Diese setzt voraus, dass der Pensionswerber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mehr in der Lage ist, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten („mit geringstem Anforderungsprofil“) und keine anderen Tätigkeiten mehr auszuüben.

3. Demnach steht die Rechtsansicht der Vorinstanzen, die Klägerin genieße mangels qualifiziert langer Ausübung ihrer Angestelltentätigkeit im Rahmenzeitraum keinen Berufsschutz als Angestellte und sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und dort auf Tätigkeiten einer Reinigungskraft und Museumsaufseherin verweisbar, mit der zum Stichtag (dem 1. 10. 2011) anzuwendenden (neuen) Rechtslage im Einklang.

Da keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt wird, war die Revision zurückzuweisen.

Rechtssätze
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