IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Daniela UNTERER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.08.2024, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.09.2025, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 20.08.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung am selben Tag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen vor, dass er Afghanistan verlassen habe, da es keine Arbeit gebe und dort große Armut herrsche. Sonst habe er keine weiteren Fluchtgründe. Bei einer Rückkehr habe der Beschwerdeführer Angst vor der Armut.
Das Verfahren wurde mit Aktenvermerk vom 04.09.2023 eingestellt, da der Beschwerdeführer nach seinem Antrag auf internationalen Schutz die Unterkunft der Betreuungseinrichtung ohne Angabe einer weiteren Anschrift verlassen und er dadurch seine Mitwirkungspflicht verletzt habe sowie sein Aufenthaltsort weder bekannt noch leicht feststellbar sei. Eine Entscheidung könne nicht ohne weitere Einvernahme erfolgen.
In der Folge stellte der Beschwerdeführer in der Schweiz einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge dessen wurde er dort durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) am 17.11.2023 erstbefragt. Zu seinen Fluchtgründen brachte er hiebei vor, dass es Kriege gegeben habe und sein Vater ihm und seinem Bruder gesagt habe, dass sie das Land verlassen und ausreisen sollten. In Afghanistan hätten sie nichts machen können. Dann sei er mit seinem Bruder ausgereist. Sein Bruder sei in der Folge im Iran geblieben und er selbst sei weitergereist. Sein Vater habe ihnen gesagt, sie sollten ihre Zukunft selber aufbauen. Ansonsten habe es keine Arbeit und kein Geld gegeben.
Aus der E-Mail vom 21.03.2024 geht hervor, dass eine Rücküberstellung des Beschwerdeführers gemäß der Dublin III VO aus der Schweiz erfolgt ist.
Der Beschwerdeführer wurde daraufhin am 08.08.2024 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge auch: Bundesamt, BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab während seiner Einvernahme, zu seinen Fluchtgründen befragt, im Wesentlichen an, dass sie Afghanistan verlassen hätten, als die Taliban die Macht übernommen hätten. Sein Bruder habe in der ehemaligen Regierung gearbeitet. Die Taliban hätten versucht, seinen Bruder zu töten und eine Bombe in seinem Fahrzeug platziert. Der Bruder habe überlebt, aber Verletzungen erlitten. Nach dem Machtwechsel sei der Bruder des Beschwerdeführers nach Hause gekommen und hätte gesagt, dass er und die restliche Familie das Land verlassen müssten, da nicht nur er als ehemaliger Regierungsmitarbeiter, sondern auch die Familie gefährdet wäre. Wäre der Beschwerdeführer in Afghanistan geblieben, wäre er zum Kämpfen gezwungen worden.
Bei der niederschriftlichen Einvernahme legte der Beschwerdeführer ein Foto einer Tazkira vor.
Mit dem im Spruch zitierten Bescheid vom 13.08.2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres (Spruchpunkt III.).
In der Begründung führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer von keiner potentiellen „vulnerability“ betroffen und dies auch in Zusammenschau mit seinem Alter und Gesundheitszustand zu verneinen sei. Der Beschwerdeführer habe sein Vorbringen zudem um die Komponente der Taliban gesteigert, auf Vorhalt diverser Widersprüche nur monoton angegeben, sich nicht erinnern zu können oder, dass er dies nie gesagt hätte und es falsch protokolliert worden sei. Es sei nicht am Bundesamt gelegen, die vagen und pauschalen Angaben des Beschwerdeführers durch Nachfragen zu konkretisieren. Er habe sich in zahlreiche Ungereimtheiten und Widersprüche verstrickt. Aufgrund der Machtübernahme sei zudem die Furcht, zu Kriegshandlungen eingezogen zu werden, unbegründet. Aus der Furcht vor Armut lasse sich keine Asylrelevanz ableiten. Das Bundesamt komme daher zu dem Schluss, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sei.
Gegen diesen Bescheid wurde durch die ausgewiesene Rechtsvertretung des Beschwerdeführers am 10.09.2024 fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften erhoben. Nach kurzer Darstellung des Verfahrensganges sowie Sachverhaltes verwies der Beschwerdeführer auf ein mangelhaft durchgeführtes Ermittlungsverfahren. So sei die von ihm vorgebrachte Bedrohung durch die Taliban und die politisch-religiöse Einstellung des Beschwerdeführers nicht weiter erforscht worden. Zudem gehe das Bundesamt im angefochtenen Bescheid davon aus, absichtlich falsche Angaben durch seinen Gesundheitszustand bzw. eine allfällige Traumatisierung zu erklären, obwohl der Beschwerdeführer angeführt hätte, dass er in der Erstbefragung ängstlich und erschöpft sowie auf der Suche nach seinem Bruder gewesen sei. Ferner habe die belangte Behörde einschlägige Länderinformationen außer Acht gelassen, die sein Vorbringen untermauern und eine fehlende innerstaatliche Fluchtalternative aufzeigen würden. Weiters würden im angefochtenen Bescheid jegliche Feststellungen zur Bedrohung durch die Taliban fehlen, zumal er einem Risikoprofil entspreche. Des Weiteren sei auch die Beweiswürdigung grob mangelhaft. Auch der psychische und physische Zustand des Beschwerdeführers sei bei der Erstbefragung nicht beachtet worden. Die im Vergleich zur Befragung in der Schweiz dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Umstände seien ebenso durch seinen Gemütszustand sowie sein Alter zu erklären. Er habe seinen Fluchtgrund detailliert und schlüssig geschildert und die Annahmen des Bundesamtes würden auf Feststellungsmängeln und pauschalen Annahmen beruhen. Ferner seien Ermittlungen zu wesentlichen Punkten ausgeblieben und das Verhalten der Behörde daher willkürlich. Das Alter des Beschwerdeführers, Fluchtbedingungen und die psychische Belastung seien im Verfahren nicht ausreichend berücksichtigt worden. Auch aus dem Vorwurf, dass der Beschwerdeführer ein falsches Geburtsdatum angegeben hätte bzw. dieses nicht kenne, könne nicht dessen Unglaubwürdigkeit abgeleitet werden. Außerdem habe er von einer Bedrohung durch die Taliban erzählt und eine Rückkehr nach Afghanistan stelle für ihn aufgrund der systematischen Verfolgung ehemaliger Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte und ihrer Angehörigen eine ernsthafte und unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben dar. Unverständlich sei daher, dass die belangte Behörde die Beweismittel als irrelevant und die Fluchtgründe als vage eingestuft habe. Aufgrund der mangelhaften Befragung sei unberücksichtigt geblieben, dass die Taliban den Beschwerdeführer nunmehr namentlich kennen würden. Mit der Machtübernahme der Taliban habe sich die Gefahr für Personen, die Risikoprofilen entsprechen würden, drastisch erhöht. Dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung aufgrund der damaligen Tätigkeit für Firmen, die für die afghanische Regierung tätig gewesen wären, sowie aufgrund der allgemeinen Situation und Sicherheitslage. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei nicht nachvollziehbar und zum Teil aktenwidrig und spekulativ. Sie habe zudem die Länderberichte nicht berücksichtigt.
Der Beschwerde legte der Beschwerdeführer Fotos des Bruders im Militärdienst sowie den angeblichen Dienstausweis des Bruders im Militärdienst bei.
Am 11.09.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung im Beisein der ausgewiesenen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seinem Leben in Afghanistan und zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Sodann wurde auf die aktuelle Situation in Afghanistan Bezug genommen, wobei die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers auf die Abgabe einer Stellungnahme verzichtete, da die Abänderungen der nunmehrigen Länderberichte (Version 12) nicht dermaßen gravierend seien.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführten Personalien; seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Paschtunen zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Seine Muttersprache ist Paschtu, zudem spricht er Dari, Urdu und ein bisschen Türkisch.
Der Beschwerdeführer stellte am 20.08.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Verfahren wurde mit Aktenvermerkt vom 04.09.2023 eingestellt. Nach seiner Ausreise in die Schweiz, einer dort durchgeführten Erstbefragung am 17.11.2023, seiner Rücküberstellung nach Österreich sowie einer am 08.08.2024 durchgeführten Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid des Bundesamtes vom 13.08.2024 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, ihm gemäß der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.
Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan keine Verfolgung bzw. Bedrohung durch seine wirtschaftliche Lage oder durch die Taliban.
Auch drohen ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit konkrete und individuelle physische und/oder psychische Eingriffe erheblicher Intensität in seine persönliche Sphäre aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit, und wurde eine solche Gefährdung von ihm auch nicht glaubhaft gemacht.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.3.1. Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Version 12, vom 31.01.2025, wiedergegeben:
2 Regionen Afghanistans
Letzte Änderung 2025-01-30 08:04
STDOK-OSIF 7.9.2023a
Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 25.11.2024) leben ca. 35 (NSIA 7.2024) bis 40,1 Millionen Menschen (CIA 25.11.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 25.11.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 12.7.2024; vgl. EUAA 1.11.2024).
Kabul-Stadt
Letzte Änderung 2025-01-30 08:05
STDOK-OSIF 7.9.2023b
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und verfügt über eine geschätzte Einwohnerzahl zwischen 4,589.000 (CIA 25.11.2024) und ca. 5,766.181 Personen (NSIA 7.2024). Die Stadt ist aufgeteilt in 22 Bezirke und verfügt über einen internationalen Flughafen, der sich im 15. Stadt-Bezirk befindet (AAN 2019). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus sowie Kutschi (PAN o.D.; vgl. NPS o.D.a).
3 Politische Lage
Letzte Änderung 2025-01-31 16:38
Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023b). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).
Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023b) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023b). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).
Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).
BBC 7.9.2021
Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).
Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).
Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).
Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).
In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2020; vgl. BAMF 30.6.2023).
Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).
Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).
Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).
Internationale Anerkennung der Taliban
Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023).
Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).
Drogenbekämpfung
Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).
Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).
Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).
Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).
4 Sicherheitslage
Letzte Änderung 2025-01-31 16:37
[Anm.: In diesem Kapitel werden aufbereitete Daten von verschiedenen Quellen dargestellt. Aufgrund der unterschiedlichen Methodologien bzw. Definitionen können die Daten voneinander abweichen. Für weitere Informationen sei auf das Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen.]
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und Amnesty International (AI) haben jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 27.6.2023) durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgendermaßen:
19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)
1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)
22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)
17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)
14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)
1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)
20.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)
1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)
1.11.2023 - 10.1.2023: 1.508 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 38 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.2.2024)
1.2.2024 - 13.5.2024: 2.505 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 55 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 13.6.2024)
14.5.2024 - 31.7.2024: 2.127 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 9.9.2024)
Nachfolgende Grafik zeigt den Verlauf der sicherheitsrelevanten Vorfälle zwischen Jänner 2023 und Dezember 2024 laut ACLED an. Unterteilt wurde diese vom OSIF-Projekt der Staatendokumentation erstellte Grafik in die Vorfallsarten battles, explosions/remote violence sowie violence against civilians. [für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von ACLED sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]:
erstellt vom Projekt OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025)
Wie den oben aufgeführten Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025) und den Vereinten Nationen zu entnehmen ist, sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2024 angestiegen. Dies hängt laut den Vereinten Nationen vor allem mit vermehrten Zwischenfällen im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024) und Grundstückstreitigkeiten zusammen (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024) und war zum Teil auf die Bemühungen der Taliban-Behörden zurückzuführen, das Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen (UNGA 13.6.2024).
erstellt vom Projekt OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) (UCDP 9.12.2024)
Auch die vom Uppsala Conflict Data Program (UCDP) erfassten Vorfälle zeigen dieses Bild. Mit Beginn des Jahres 2022 gehen die sicherheitsrelevanten Vorfälle deutlich zurück. In der ersten Jahreshälfte 2024 ist jedoch wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Bei jenen sicherheitsrelevanten Vorfällen, die den ISKP betreffen, erkennt man einen Rückgang im Laufe der letzten Jahre, wobei auch hier ein leichter Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2024 zu erkennen ist (UCDP 9.12.2024). [Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]:
Laut Angaben der Vereinten Nationen hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022). Im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 nahmen diese Aktivitäten jedoch wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Ein Trend, der sich auch 2024 fortsetzt (UNGA 28.2.2024). Ziele der Gruppierung sind die schiitischen Hazara (AI 24.4.2024; vgl. UNAMA 22.1.2024, UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024), ausländische Staatsbürger (UNGA 9.9.2024) sowie Mitglieder der Taliban (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024). Die Taliban führen weiterhin Operationen gegen den ISKP durch (UNGA 13.6.2024), unter anderem in Nangarhar (UNGA 9.9.2024).
Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023). Dieser Trend setzt sich auch im Jahre 2024 fort. Nach dem Dafürhalten der Vereinten Nationen stellt die bewaffnete Opposition mit 2024 weiterhin keine nennenswerte Herausforderung für die territoriale Kontrolle der Taliban dar (UNGA 9.9.2024; vgl. UNGA 13.6.2024, UNGA 28.2.2024). Die Nationale Widerstandsfront und die Afghanische Freiheitsfront gehen mit einer "Hit-and-Run"-Taktik gegen die Taliban-Sicherheitskräfte vor, greifen deren Posten und Fahrzeuge an und verübten Hinterhalte und gezielte Tötungen (UNGA 9.9.2024).
Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).
In einem Interview durchgeführt von EUAA in Kooperation mit dem schwedischen Migrationsamt (Migrationsverket), der Staatendokumentation und Landinfo gab ein afghanischer Forscher befragt zur Sicherheitslage an, dass die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan zurückgegangen ist. Es gibt, seiner Einschätzung nach, keine Region in Afghanistan, in welcher oppositionelle Gruppen offen die Kontrolle haben. In Provinzen wie Panjsher, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar, in denen es in der Vergangenheit zu Kämpfen zwischen den Taliban und verschiedenen Gruppierungen gekommen ist, verlief der Verkehr normal und Einheimische in der Region erzählten dem Forscher, dass es keine Zwischenfälle geben würde. Betreffend die Kapazitäten des NRF hatte er nur wenig Informationen, er schreibt dem ISKP jedoch zumindest die Möglichkeit operativer Aktivitäten zu, wobei er anfügt, dass die Taliban immer effizienter bei der Aushebung von ISKP-Zellen zu werden scheinen. Dies zeigt sich in einer entspannteren Sicherheitslage in beispielsweise Kabul und Herat. Der Forscher schließt daraus, dass weder der ISKP noch andere Gruppierungen aktuell wirklich ein Problem für die Taliban sind (VQ AFGH 3 1.10.2024).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).
Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).
Sicherheitsrelevante Vorfälle und zivile Opfer nach Provinzen (25.11.2023 - 25.11.2024)
Letzte Änderung 2025-01-31 16:37
erstellt vom Projekt-OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED (ACLED 13.1.2025) und UCDP (UCDP 9.12.2024)
Laut den von ACLED erfassten Daten fanden in allen drei angeführten Bereichen die meisten der Vorfälle in Ost-Afghanistan statt, wobei hier vor allem in Kabul ein Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle stattfand (ACLED 13.1.2025).
Im Zeitraum zwischen 25.11.2023 und 25.11.2024 gab es die meisten zivilen Opfer (mehr als 60 %), gemäß UCDP, in Nord-Afghanistan. Ca. ein Viertel (100) gab es in Ost-Afghanistan. 30 Todesopfer gab es in Zentralafghanistan, 17 in West-Afghanistan und 2 in Süd-Afghanistan. Auf Provinzebene gab es die meisten Todesopfer in Badakhshan (168), gefolgt von Kabul (56) und Baghlan (44) (UCDP 9.12.2024).
[Anm.: Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von ACLED und UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]
Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung 2025-01-14 16:00
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021b; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021b, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).
Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).
5 Zentrale Akteure
Taliban
Letzte Änderung 2025-01-31 16:38
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023a; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).
Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. PJIA/Rehman 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, PJIA/Rehman 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).
Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und "sunnitisch-islamische Deobandi"-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).
Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021).
Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).
7 Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2024-04-04 11:36
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch "of"] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als "National Directorate of Security" (NDS) bekannt war (CPJ 1.3.2022; vgl. AA 26.6.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten, müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.5.2023).
11 Wehrdienst und Zwangsrekrutierung
Letzte Änderung 2025-01-31 16:38
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023).
Ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt ist, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügen und dass viele bereit sind, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung (EUAA 12.2023).
Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung, durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen, gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara "in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung" stattgefunden hat (EUAA 12.2023; vgl. USDOS 20.3.2023a). Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan (EUAA 12.2023).
Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert (HRW 20.9.2021), und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (TBP 23.9.2022; vgl. USDOS 15.6.2023a). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert (USDOS 15.6.2023a).
Was die Rekrutierung durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) betrifft, so wurden Berichten zufolge die Salafi-Gemeinschaft und Taliban-Fußsoldaten zur Unterstützung der Gruppe aufgerufen (USIP 7.6.2023). Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi veröffentlichte einen Forschungsartikel, in dem er feststellte, dass zwei wichtige Quellen für die Rekrutierung in Afghanistan die Salafi-Gemeinschaft und Universitätsstudenten waren. In Interviews, die der Autor mit ISKP-Rekrutern in Afghanistan geführt hat, wird die Vorgehensweise des ISKP beschrieben. Hierbei werden "die religiösesten Studenten, die das größte Interesse an religiösen Fragen und insbesondere am Salafismus haben, ausgesucht und ins Visier genommen". Sobald ein Student als Ziel identifiziert ist, wird versucht, seine Handynummer zu bekommen. Dann übernimmt die Abteilung "Medien und Kultur" die Arbeit. Die Aufgabe des Medien- und Kulturteams, das seinen Sitz außerhalb der Universität und sogar in Europa hat, besteht darin, Videos mit Propagandamaterial an potenzielle Rekruten zu senden. Bei einer negativen Reaktion wird der "Eingeladene", den Interviews zufolge, sofort von der Nachrichtenübermittlung abgeschnitten. Ist die Reaktion positiv, werden WhatsApp und andere Social-Media-Apps genutzt. Das Medien- und Kulturteam fügt außerdem gezielte Studenten zu verschiedenen ISKP-Telegram-Konten hinzu, von denen einige für die Aktivitäten des ISKP werben, während andere negative Propaganda gegen die Taliban verbreiten (RUSI/Giustozzi 3.2023). Auch die Vereinten Nationen berichten, dass sich der ISKP auf die Rekrutierung von mehr gebildeten Personen konzentriert, aber Rekrutierungen auch außerhalb der Salafi-Gemeinschaft betreibt (UNSC 1.6.2023a).
17 Religionsfreiheit
Letzte Änderung 2024-04-05 14:09
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 1.2.2024; vgl. AA 26.6.2023). Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 1.2.2024; vgl. USDOS 15.5.2023). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte. Zuverlässige Schätzungen über die Gemeinschaften der Baha'i und der Christen sind nicht verfügbar. Es gibt eine geringe Anzahl von Anhängern anderer Religionen. Es gibt keine bekannten Juden im Land (USDOS 15.5.2023).
Anhänger des Baha'i-Glaubens leben vor allem in Kabul und in einer kleinen Gemeinde in Kandahar. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha'i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha'i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt. Internationalen Quellen zufolge leben Baha'is weiterhin in ständiger Angst vor Entdeckung und zögerten, ihre religiöse Identität preiszugeben (USDOS 15.5.2023).
Sikhs sehen sich seit Langem Diskriminierungen im mehrheitlich muslimischen Afghanistan ausgesetzt (EUAA 23.3.2022; vgl. DW 8.9.2021). Als die Taliban im August 2021 nach dem Abzug der US-Truppen die Macht in der Hauptstadt wiedererlangt hatten, floh eine weitere Welle von Sikhs aus Afghanistan (EUAA 23.3.2022; vgl. TrI 12.11.2021). Nach der Machtübernahme gaben die Taliban öffentliche Erklärungen ab, wonach deren Rechte geschützt werden würden (EUAA 23.3.2022; vgl. USCIRF 3.2023, USDOS 15.5.2023). Trotz dieser Zusicherungen äußerten sich Sikh-Führer in Medienerklärungen im Namen ihrer Gemeinschaft jedoch besorgt über deren Sicherheit (EUAA 23.3.2022; vgl. USDOS 15.5.2023). Berichten zufolge lebten mit Ende 2022 nur noch neun Sikhs und Hindu in Afghanistan (USDOS 15.5.2023).
Die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime waren und sind durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023). Mit der rigorosen Durchsetzung ihrer strengen Auslegung der Scharia gegenüber allen Afghanen verletzen die Taliban die Religions- und Glaubensfreiheit von religiösen Minderheiten (USCIRF 3.2023). Nominal haben die Taliban religiösen Minderheiten die Zusicherung gegeben, ihre Religion auch weiterhin ausüben zu können (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023); insbesondere der größten Minderheit, den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara. In der Praxis ist der Druck auf Nicht-Sunniten jedoch hoch und die Diskriminierung von Schiiten im Alltag verwurzelt (AA 26.6.2023).
Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).
In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vgl. RFE/RL 19.1.2022).
18 Ethnische Gruppen
Letzte Änderung 2025-01-14 15:59
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 1.2.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 1.2.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).
Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.6.2023).
Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.3.2023a).
Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.6.2023).
Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.6.2023).
Paschtunen
Letzte Änderung 2024-04-10 20:16
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 42 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans (MRG 5.2.2021a; vgl. AA 26.6.2023). Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime und leben hauptsächlich im Süden und Osten des Landes (MRG 5.2.2021a; vgl. Print 21.9.2021). Sie teilen sich in zwei große Gruppen auf - Durrani und Gheljai (auch Ghilzai or Ghilzay) - und in weitere Untergruppen von mehr als hundert kleineren Stämmen. Die Durrani sind vor allem in den südlichen Provinzen des Landes wie Kandahar, Zabul, Helmand, Uruzgan, sowie verstreut in anderen Provinzen verbreitet, während die Gheljai eher in Provinzen wie Paktia, Logar, Khost, Paktika, Maidan Wardak und anderen anzutreffen sind (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Traditionell waren die Paschtunen nomadisierende oder halbnomadische Viehzüchter, Ackerbauern und Händler. Seit langer Zeit sind sie in Städten ansässig geworden, wo sie verschiedensten Tätigkeiten nachgehen. Paschtunische Stämme waren stets die militärische Stütze des afghanischen Königshauses und wurden dafür mit einigen Privilegien (Steuervergünstigungen, weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten u. a.) versehen (STDOK 1.7.2016).
Bei den Paschtunen haben Familienstand, Stammeseinfluss, Besitz und Einfluss einen hohen Stellenwert. Ein hoher Anteil von Männern in paschtunischen Familien gilt als ein Zeichen der Stärke. Aufgrund der bedeutenden Rolle der Familie kann individuelles Fehlverhalten auch der Familie schaden und unschuldige Familienmitglieder zu Opfern machen. Die meisten Paschtunen bevorzugen Ehen mit anderen Paschtunen und sind ggf. mit der Heirat von nahen Verwandten einverstanden. Ehen zwischen Paschtunen und Mitgliedern anderer Ethnien wie Hazara, Usbeken oder Tadschiken sind selten (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Paschtunwali
Letzte Änderung 2024-04-10 20:16
Die Sozialstruktur der Paschtunen basiert auf dem Paschtunwali-Kodex (oder Pukhtunwali-Kodex) (MRG 5.2.2021a; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024, STDOK 7.2016), der als Verhaltens- und Moralsystem angesehen werden kann. Obwohl die paschtunischen Stämme unterschiedliche Sitten und Gebräuche haben, ist der gemeinsame Nenner all dieser Stämme der Paschtunwali-Kodex, und alle Paschtunen sind verpflichtet, ihn zu befolgen. Paschtunwali umfasst bestimmte Verhaltensgrundsätze, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben und die von Generation zu Generation durch Jirgas, Volksversammlungen (Marakas) und traditionelle Erziehung weitergegeben werden (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Obwohl es nicht schriftlich niedergelegt oder genau definiert ist, stellt es den Kern der sozialen Verhaltensregeln der Paschtunen dar (STDOK 1.7.2016).
Die Einhaltung der Grundsätze des Paschtunwali sind den Paschtunen sehr wichtig, und jede Missachtung wird mit harten Strafen geahndet. Das Paschtunwali umfasst Verhaltensregeln, in denen Macht, Stolz und Ehre einen besonderen Platz einnehmen, und im Prinzip wird Macht eingesetzt, um Ehre und Stolz zu bewahren. Während die paschtunische Sprache eine hohe Bedeutung hat, sind Dinge wie Alkohol, Glückspiel oder Ehebruch laut Paschtunwali verboten (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Das Paschtunwali umfasst Verhaltensregeln, durch deren Umsetzung die Rechte des Einzelnen in gewisser Weise gesichert werden, z. B. die Achtung des Eigentums anderer, das Verbot der Vergewaltigung, die Bestrafung von Mördern, der Schutz der Dorfbewohner, die finanzielle Hilfe für arme Menschen sowie der Schutz gefährdeter Menschen. Doch gleichzeitig hat ein Teil der bestehenden Gesetze im Rahmen des Paschtunwali negative Auswirkungen und kann die soziale Stabilität bedrohen, wie z. B. Rache, Verbot der Ausbildung von Mädchen, Zwangsehe, Fortbestehen von Feindschaft über lange Zeit und damit einhergehende bewaffnete Auseinandersetzungen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Obwohl die ehemalige afghanische Regierung in den zwanzig Jahren vor der Machtübernahme der Taliban 2021 zahlreiche Einrichtungen für den Zugang der Menschen zur Justiz und zu den Justizbehörden geschaffen hat, haben die Menschen aufgrund der unsicheren Lage in einigen Gebieten und der weitverbreiteten Korruption im Justizsystem kein Vertrauen in diese Behörden [Anmerkung: der ehemaligen Regierung] (STDOK/Nassery 4.2024). Vor allem in ländlichen Gebieten lösen Paschtunen Probleme und Streitigkeiten meist mit den Mechanismen des Paschtunwali (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Auch wenn die Umsetzung des Paschtunwali und seiner speziellen Gesetze in den Zentren der Großstädte nachgelassen haben, so bedeutet dies jedoch nicht das völlige Verschwinden des Paschtunwali in diesen Regionen. Zwar sind Paschtunen in ländlicheren Gebieten generell eher gegen die (höhere) Bildung von Mädchen, während die Bewohner von größeren Städten dem eher offen gegenüber stehen. Andere Bereiche des Paschtunwali haben aber nach wie vor große Bedeutung für alle Paschtunen, auch jene die in den städtischen Zentren des Landes leben (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Im Folgenden werden die wichtigsten Teile des Paschtunwali erörtert:
Jirga und Maraka
Jirgas und Marakas sind Versammlungen zwischen Ältesten der jeweiligen Gemeinschaften und den Konfliktparteien, um Streitigkeiten zu lösen, wobei Marakas eher bei kleineren Differenzen angewandt werden. Marakas werden auch abgehalten, um Freundschaften zu schließen und die Gemeinschaft zu fördern. Eine Jirga hat qualitativ und quantitativ einehöhere Wertigkeit als eine Maraka und wird angewandt, um größere Probleme und Konflikte (wie zum Beispiel Mord, Land- oder Ehestreitigkeiten) zu lösen. So ist die Loya Jirga beispielsweise die größte Jirga des Landes, die auch dafür genutzt wurde, die Verfassung der ehemaligen Regierung zu beschließen. Die Ältesten bzw. die Gelehrten der Gemeinschaft fungieren hierbei als Richter und entscheiden in den einzelnen Fällen, was Tage, aber auch Wochen oder Monate dauern kann (STDOK/VQ AFGH 4.2024: vgl. STDOK 1.7.2016).
Ein afghanischer Journalist gab an, dass die Taliban seit ihrer Machtübernahme versuchen, den Jirga-Mechanismus unter die Verwaltung ihrer Regierung zu bekommen, um ethnische Konflikte zu lösen. Die Taliban versuchen hierbei, einen Waffenstillstand zu verhandeln, notfalls mit Gewalt, um im Anschluss durch Gespräche und Vermittlung zwischen den Parteien im Rahmen einer Jirga Frieden zu schließen und den Konflikt beizulegen. So reisten Taliban-Regierungsbeamte beispielsweise mehrfach in die Provinzen Khost, Paktia und Paktika, um Streitigkeiten im Rahmen von Jirgas zu lösen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Bad o Por (Blutpreis)
Der Preis, um gewisse Feindschaften und Streitigkeiten zu lösen, nennt sich Bad o Por. Wenn eine Person, oder ein Mitglied einer Familie, die Rechte anderer verletzt oder gegen die Grundsätze des Paschtunwali verstößt, muss sie den Preis bzw. Bad o Por zahlen. Je nach Art und Bedeutung der Streitigkeit kommt es hierbei zur Zahlung eines Geldbetrages, der Ausrichtung eines Festes oder einer Entschuldigung. Bei größeren Streitigkeiten werden jedoch auch umstrittene Handlungen wie das "Verschenken" von Frauen an die Gegenseite angewandt, um den Konflikt beizulegen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Vor allem Streitigkeiten, die die Ehre (der Familie) betreffen, sind sehr heikel. Dazu gehören beispielsweise das unerlaubte Fortlaufen eines Mädchens von zu Hause oder vorehelicher Geschlechtsverkehr. So erklärt ein paschtunischer Stammesältester, dass, wenn ein Mann mit einer Frau unerlaubt flieht, er zwei Möglichkeiten hat: Entweder er kehrt nie wieder zurück oder er zahlt Bad o Por. Hier muss im Rahmen einer Jirga entschieden werden, dass die Frau zu ihm gehört, und er muss den Vater des Mädchens auszahlen. Dann kann er der Ehemann der Frau werden. Die Frau hingegen wird aus ihrer Familie ausgestoßen und ihr wird auch das Erbrecht entzogen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, wurde mittels speziellem Erlass die Zwangsverheiratung von Frauen (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. Independent 19.1.2024) und die Abgabe von Mädchen für Bad o Por verboten. Die Taliban fügten hinzu, dass Stämme, die sich nicht an diesen Erlass hielten, mit schweren Strafen belegt würden (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Die Zwangsverheiratung von Mädchen zur Beilegung von Feindseligkeiten ist unter den Paschtunen in den Provinzen jedoch immer noch weit verbreitet (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. AA 26.6.2023, AI 7.8.2023).
Badal (Vergeltung, Blutfehden) und Nanawatai (Abbitte leisten)
Badal, bedeutet in Paschto "Vergeltung" und soll die Gerechtigkeit wiederherstellen oder an den Übeltätern Rache nehmen (STDOK 1.7.2016). Die Feindschaft zwischen Familien und Stämmen beginnt manchmal mit sehr kleinen Vorfällen und entwickelt sich schließlich zu einer großen Feindschaft. Zu diesen Fällen gehören beispielsweise verbale Auseinandersetzungen um Land, Spannungen um die Stammesführung oder körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen zweier Stämme (STDOK/VQ AFGH 4.2024), die nach und nach größer und größer werden und Jahre oder auch Generationen andauern können (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. STDOK 1.7.2016). So führt ein paschtunischer Ältester aus, dass die Strafe für Mord der Tod ist, und dass sich daraus eine Feindschaft entwickeln kann, der Dutzende andere Menschen zum Opfer fallen können. Feindseligkeiten können durch Jirgas (oder im Falle "kleiner" Streitigkeiten durch Marakas) beendet werden und es kommt, wie bereits ausgeführt, weiterhin zur "Schenkung" von Frauen, um Feindseligkeiten zu beenden (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Eine längere Blutfehde kann jedoch auch durch Versöhnung, genannt Nanawatai (Abbitte leisten) vermieden werden. Hinter Nanawatai steht der Gedanke, dass sich jemand seinem Gegner vollständig unterwirft und ausliefert, ihn um Verzeihung bittet und um den Erlass des Badal, das von ihm eingefordert werden soll. Wer Abbitte leistet, muss dann um jeden Preis geschützt werden. Außerdem muss Flüchtigen vor der Justiz Zuflucht gewährt werden, bis die Lage nach dem Paschtunwali entschieden ist. Nanawatai wird jedoch in Fällen von Namoos (Bewahrung der Keuschheit der Frauen) abgelehnt oder wenn jemand anderer als der Ehemann einer Frau beischlief (STDOK 1.7.2016).
Gastfreundschaft (Mailmastia oder Melmastiya) und Schutz (Panah)
Die paschtunische Kultur betrachtet den Gast als eine ehrenwerte und wichtige Person und bezeichnet ihn sogar als einen Freund Gottes. Mailmastia bedeutet allen Besuchern Gastfreundschaft und tief empfundenen Respekt entgegenzubringen, unabhängig von Rasse, Religion, nationaler Zugehörigkeit und wirtschaftlichem Status und ohne Erwartung einer Belohnung oder von Vorteilen. Die Paschtunen haben großen Respekt vor ihren Gästen und bemühen sich sehr, sie glücklich und zufrieden zu machen. In der paschtunwalischen Kultur wird dem Gast ein gutes Essen zubereitet, eine Unterkunft geboten und er darf nicht belästigt werden. Gastfreundschaft spielt eine besondere Rolle, wenn es darum geht, Feindschaften zu überwinden, Freundschaften zu schließen und Stammesherausforderungen zu meistern. Mit einem Fest oder einer Bewirtung wollen die Familien ihre wirtschaftliche Stärke und ihr familiäres Können unter Beweis stellen. Wenn der Gast mit dem Essen, der Gastfreundschaft und der Unterstützung des Gastgebers zufrieden ist, ist der Gastgeber ebenso stolz und zufrieden (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. STDOK 1.7.2016).
Die Paschtunen legen besonderen Wert auf Schutz und Sicherheit. Bei den Paschtunen ist es verboten, jemandem zu schaden, der bei einer Familie oder einem Stamm Zuflucht gesucht hat. Nachdem sie jemandem Zuflucht gewährt haben, halten die Paschtunen kleine Marakas ab, um über das Schicksal der Person zu entscheiden. Es sollte jedoch klargestellt werden, dass die Aufnahme einer Person, die ein Verbrechen wie Mord begangen hat, von den paschtunischen Stämmen nicht akzeptiert wird und dazu führt, dass der Asylsuchende nach einer kurzen Jirga wieder aus dem Stamm verstoßen wird (STDOK/VQ AFGH 4.2024).
Anmerkung: Ausführliche Informationen zu Paschtunen und dem Paschtunwali können dem Themenbericht der Staatendokumentation: Pashtuns and the Pashtunwali und dem dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden.
19 Relevante Bevölkerungsgruppen
Mitglieder der ehemaligen Regierung / Streitkräfte / ausländischer Organisationen
Letzte Änderung 2024-03-29 09:57
Die Taliban haben offiziell eine "Generalamnestie" für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 22.8.2023). Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, Emir Haibatullah Akhundzada, haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. UNAMA 22.8.2023). Berichte über Verstöße gegen diese Amnestie wurden von den Taliban-Behörden zurückgewiesen und erklärt, dass diese Verstöße auf "persönlicher Feindschaft oder Rache" beruhten und nicht auf einer offiziellen Anweisung zu solchen Handlungen (UNAMA 22.8.2023). Außerhalb offizieller Kommunikation jedoch verbreiten Taliban-Offizielle bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren, u. a. in den sozialen Medien, das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitglieder bzw. -angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräter am Islam und an Afghanistan sind (AA 26.6.2023). Es wird berichtet, dass sich die Kampagnen der Taliban auch gegen die Familienmitglieder ehemaliger Militär- und Polizeikräfte richten (KaN 18.10.2023).
Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte, oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen, bislang nicht nachgewiesen werden konnten (AA 26.6.2023), berichten Menschenrechtsorganisationen allerdings über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023). Diese Fälle lassen sich zumindest teilweise eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet wurden, ist nicht zu verifizieren. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt (AA 26.6.2023).
Im März 2022 gründeten die Taliban die Kommission für die Verbindungsaufnahme und Rückführung afghanischer Persönlichkeiten (KaN 18.10.2023; vgl. SIGAR 2.2023), um mit hochrangigen ehemaligen Beamten und Spitzenmilitärs über ihre Rückkehr ins Land zu verhandeln und ihnen Sicherheit und Schutz zu versprechen. Die Rückkehrer erhalten "Immunitätskarten", um sicherzustellen, dass sie nicht aufgrund ihrer früheren Tätigkeit inhaftiert werden. Einige müssen sich die Karten nach ihrer Rückkehr besorgen, was sich als äußerst schwierig erweist, da die Taliban keine speziellen Registrierungszentren bekannt gegeben haben und der Zugang zur Kommission nach wie vor schwierig ist. Die Kommission wird von Shahabuddin Delawar, dem Taliban-Minister für Bergbau und Erdöl, geleitet und umfasst sechs weitere hochrangige Taliban-Mitglieder aus Militär und Geheimdienst (KaN 18.10.2023; vgl. TN 17.3.2022). Seit ihrer Gründung ist es der Kommission gelungen, eine Reihe ehemaliger Beamter, darunter hochrangige Militär- und Polizeibeamte, zur Rückkehr in das Land zu bewegen. Während einige von ihnen der Rückkehr zugestimmt haben, haben viele aus Angst vor den "falschen Versprechungen" der Taliban beschlossen, nicht zurückzukehren. Die Taliban haben sich jedoch jeden prominenten Rückkehrer zunutze gemacht, indem sie ihn auf dem Flughafen von Kabul gefilmt und die Videos dann in den sozialen Medien als Werbematerial verbreitet haben. Die meisten Rückkehrer werden später zu Taliban-Unterstützern, befürworten ihre Ideologie und fordern weltweite Anerkennung. Manche sehen diese Rückkehr als eine Treueerklärung an die Taliban. Einige Mitglieder der ehemaligen Streitkräfte, die nach Versprechungen der Taliban nach Afghanistan zurückgekehrt waren, gaben an, wie Feinde behandelt worden zu sein, und dass ihre persönlichen Daten über Social-Media verbreitet wurden. Während einer angab, dass er kurzfristig verhaftet und verhört und sein Haus im Anschluss mehrfach von den Taliban durchsucht wurde, gab ein anderer Rückkehrer an, dass er zusätzlich einen Taliban-Beamten mit 50.000 AFN bestechen musste, um eine "Immunitätskarte" zu erhalten. Zusätzlich mussten Rückkehrer einen Treueid auf die Taliban leisten (KaN 18.10.2023).
Die Vereinten Nationen (VN) (UNAMA 22.1.2023), Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (HRW 11.1.2024) sowie Medien (Afintl 3.2.2024; vgl. RFE/RL 13.11.2023, KaN 18.10.2023, 8am 23.7.2023) berichten von Entführungen und Ermordungen von ehemaligen Regierungs- und Sicherheitskräften seit August 2021 (AA 26.6.2023; vgl. ACLED 11.8.2023). Täter können davon ausgehen, dass auch persönlich motivierte Taten gegen diesen Personenkreis nicht geahndet werden (AA 26.6.2023).
Für den Zeitraum vom 16.8.2021 - 30.5.2023 verzeichnet ACLED über 400 Gewalttaten gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, von denen 290 von den Taliban verübt wurden (siehe nachstehende Grafik). Bei vielen Angriffen, die von nicht identifizierten Angreifern verübt wurden, haben lokale Quellen oder Familien der Opfer die Taliban beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein (ACLED 11.8.2023).
ACLED 11.8.2023
UNAMA dokumentiert für denselben Zeitraum (15.8.2021 - 30.6.2023) sogar mindestens 800 Menschrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, darunter außergerichtliche Tötungen, gewaltsames Verschwinden, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen sowie Drohungen (UNAMA 22.8.2023).
UNAMA 22.8.2023
Nach Angaben von UNAMA sind ehemalige Angehörige der afghanischen Nationalarmee am stärksten von Menschenrechtsverletzungen bedroht, gefolgt von der Polizei (sowohl der afghanischen Nationalpolizei (ANP) als auch der afghanischen Lokalpolizei (ALP)) und Beamten der National Directorate of Security (NDS). Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungsbeamte und Angehörige der ANDSF wurden in allen 34 Provinzen registriert, wobei die meisten Verletzungen in den Provinzen Kabul, Kandahar und Balkh verzeichnet wurden. Die oben genannten Gruppen sind zwar in allen Provinzen gefährdet, doch scheint es in einigen Gegenden zu einer verstärkten gezielten Gewalt zu kommen. So dokumentierte UNAMA mindestens 33 Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige ANP-Mitglieder in Kandahar (mehr als ein Viertel aller Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige ANP-Mitglieder im ganzen Land) und mindestens elf Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Khost gegen ehemalige Mitglieder der Khost Protection Force (KPF), darunter außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen sowie Folter und Misshandlungen (UNAMA 22.8.2023).
Für die meisten der von UNAMA berichteten Verstöße liegen nur begrenzte Informationen über die Maßnahmen vor, die von den Taliban-Behörden ergriffen wurden, um die Vorfälle zu untersuchen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. In einigen Fällen hat UNAMA Berichte erhalten, dass die mutmaßlichen Täter von Vorfällen, die sich gegen ehemalige Regierungsbeamte und ANDSF-Mitglieder richteten, festgenommen wurden. Die Taliban-Behörden haben auch öffentlich ihre Absicht angekündigt, bestimmte Vorfälle zu untersuchen (UNAMA 22.8.2023).
Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan
Afghanen in Iran
Letzte Änderung 2025-01-31 16:38
Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention mit Vorbehalten unterzeichnet. Die Regierung ist restriktiv in der Vergabe des Flüchtlingsstatus, jedoch bietet die Islamische Republik Iran seit Jahrzehnten Millionen von afghanischen (SEM 30.3.2022) sowie irakischen Flüchtlingen und Migranten Zuflucht und Unterstützung (AA 30.11.2022). Iran ist Gastland für eine der größten Flüchtlings- und Migrantenpopulationen weltweit, insbesondere für Afghanen (UNGA 6.10.2023). Iran duldet viele afghanische Staatsangehörige, die sich irregulär im Land aufhalten. Ein beträchtlicher Anteil befindet sich im Rahmen der Arbeitsmigration in Iran, die ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für das Land ist. Im Rahmen verschiedener Regularisierungsinitiativen haben die iranischen Behörden einigen von ihnen einen regulären Aufenthalt bzw. eine Duldung ermöglicht (SEM 30.3.2022).
Die traditionell hohe Migration von Afghanen nach Iran (SEM 29.8.2023; vgl. Stimson 24.10.2023) hat mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 weiter zugenommen (SEM 29.8.2023; vgl. UNHCR 14.1.2024), wobei keine genauen Zahlen zur Einreise von Afghanen seit August 2021 vorliegen. Die iranischen Behörden erheben bzw. kommunizieren hierzu keine verlässlichen Zahlen (SEM 29.8.2023). Von den 2,6 Mio. im Rahmen einer Zählung im Jahr 2022 erfassten, zuvor undokumentierten Personen waren rund eine Million nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nach Iran eingereist (UNGA 6.10.2023). IOM hat im ersten Jahr nach der Machtübernahme der Taliban (15.8.2021-14.8.2022) eine größere Anzahl an Bewegungen aus Afghanistan nach Iran verzeichnet als im zweiten Jahr (15.8.2022-15.8.2023), nämlich 1,7 Mio. vs. 605.000 Personen (IOM 5.2.2024).
Das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (Bureau for Aliens and Foreign Immigrant´s Affairs, BAFIA) ist für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig (UNHCR 26.9.2021). Gemäß einem Gesetzesentwurf wird künftig die "Nationale Migrationsorganisation" (Farsi: sazman-e melli-ye mohajerat [englisches Akronym: NOM]) diese Aufgabe übernehmen und das BAFIA ablösen. Laut Diaran, einer auf Migrationsfragen spezialisierten Webseite, hat diese neue Migrationsorganisation bereits inoffiziell ihre Arbeit im Innenministerium aufgenommen (SEM 29.8.2023). Bis zum März 2025 soll die neue Behörde offiziell eingerichtet sein (IRNA 19.6.2023). UNHCR nimmt in Iran keine Asylanträge an und entscheidet nicht über diese (UNHCR 26.9.2021).
Aufenthaltsmöglichkeiten
Schutzsuchende aus Afghanistan haben in Iran folgende faktische Aufenthaltsmöglichkeiten: regulärer Aufenthalt per Pass und Visum; regulärer Aufenthalt als "anerkannte Flüchtlinge" (für Afghanen: Besitzer der Amayesh-Karte, für Iraker: Besitzer der Hoviat-Karte (UNHCR o.D.a)); halbregulärer Aufenthalt als registrierte, irreguläre Flüchtlinge (mit Laissez-Passer); und irregulärer Aufenthalt als nicht-registrierte Flüchtlinge (SEM 29.8.2023; vgl. IOM 11.4.2024). Die gesetzliche Regulierung von afghanischer Migration geschieht v. a. über Dekrete. Dekrete können ad hoc erlassen werden. Für die betroffenen Migranten bedeutet dies ein Mangel an Sicherheit und Vorhersehbarkeit bezüglich ihres Aufenthaltsstatus. Die erwähnten Aufenthaltstitel sind für einen begrenzten Zeitraum gültig und müssen jeweils erneuert werden (Asghari/RLI 3.2024).
Laut UNHCR halten sich insgesamt rund 4,5 Mio. vertriebene Personen in Iran auf (UNHCR 31.12.2023). Hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus verteilen sie sich zahlenmäßig folgendermaßen:
UNHCR 31.12.2023
Neu geflüchtete Personen können nach iranischem Recht grundsätzlich beim BAFIA ein Asylgesuch stellen. Gemäß dem US-amerikanischen Außenministerium und UNHCR verfügt Iran weiterhin über ein System zum Schutz von Flüchtlingen. UNHCR weiß jedoch nicht, wie das BAFIA Asylentscheide konkret vornimmt (SEM 29.8.2023; vgl. AI 8.2022). Asylsuchende erhielten seit 2003 mit wenigen Ausnahmen kein Asyl (SEM 29.8.2023). Während manche Quellen Amayesh-Karteninhaber als afghanische "Flüchtlinge" bezeichnen [Anm.: und diese in der oben dargestellten Grafik von UNHCR als "Flüchtlingskartenbesitzer" geführt werden], haben weder die iranischen Behörden noch UNHCR bei der Erteilung des Status eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im eigentlichen Sinne vorgenommen (Asghari/RLI 3.2024). Die Bestimmungen zu den Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeiten für Amayesh-Karteninhaber sind ebenfalls nicht mit den Rechten eines Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention von 1951 ident (Eurac 3.7.2023). Nichtsdestotrotz erkennt UNHCR die Amayesh-Karteninhaber als "persons of concern" an, was sie zu der Gruppe macht, die Flüchtlingen in Iran am nächsten kommt. Sie sind die einzige Gruppe von Afghanen in Iran, die von UNHCR geschützt wird (Asghari/RLI 3.2024).
Bei den Afghanen mit "Familienpass" (UNHCR 31.12.2023), auch "Haushaltspass" (Asghari/RLI 3.2024), handelt es sich um zuvor undokumentierte Afghanen, die sich seit 2010 registrieren ließen und afghanische Reisepässe mit Visa erhielten, welche seit 2012 mehrmals verlängert wurden (MBZ 9.2023; vgl. Asghari/RLI 3.2024) - allerdings mit einer Lücke zwischen 2016 und 2020, in der die Passinhaber als undokumentiert galten (Asghari/RLI 3.2024). Im Jahr 2022 haben die iranischen Behörden im Rahmen einer Zählung ("headcount") von Ausländern ohne Aufenthaltsstatus zusätzlich rund 2,6 Mio. Afghanen registriert und sie mit headcount slips, d. h. mit Laissez-Passers für einen temporären Aufenthaltsstatus ausgestattet (UNGA 6.10.2023), der bis zum 20.4.2023 verlängert wurde. Danach wurden keine diesbezüglichen Ankündigungen mehr gemacht. Stattdessen soll ein neues, einheitliches Ausweismodell ("Unified IDs scheme") geschaffen werden [Anm.: s. dazu auch weiter unten] (UNHCR 14.1.2024).
Eine weitere Gruppe stellen Afghanen dar, die über einen Reisepass samt gültigem Visum verfügen, beispielsweise ein Studienvisum oder ein Visum für Langzeitaufenthalte. Beide Visumsarten müssen jährlich verlängert werden (Asghari/RLI 3.2024).
Im Juni 2023 hat die Regierung die Einführung eines "Smart Governance Scheme for Foreign Nationals" angekündigt. Im Rahmen dieses Programms sollen Inhaber von Amayesh-Karten, headcount slips und Aufenthaltsvisa künftig eine Smart ID-Karte erhalten. In der Pilotphase erhalten scheinbar Amayesh-Karteninhaber in der Provinz Qom Smart ID-Karten. Die Details zu diesem Programm sind noch nicht zur Gänze bekannt (Asghari/RLI 3.2024).
Während UNHCR schätzt, dass sich ca. 500.000 Afghanen ohne Aufenthaltsstatus im Land aufhalten (UNHCR 31.12.2023), gehen die iranische Regierung (SEM 29.8.2023) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) eher von einer Million Menschen aus (IOM 11.4.2024). Dies sind beispielsweise Personen, die nicht am headcount von 2022 teilgenommen haben, die nach Abschluss dieser Registrierungsrunde nach Iran migriert sind, oder die ihren legalen Aufenthaltsstatus verloren haben (SEM 29.8.2023).
Regulär nach Iran einreisen kann nur, wer im Besitz eines gültigen Passes und Visums für Iran ist. Iran hatte seine konsularischen Dienste nach Machtübernahme der Taliban teils vorübergehend eingestellt (z. B. in Herat), sodass keine neuen Visa mehr beantragt werden konnten. Seit Ende 2021 können in Afghanistan jedoch wieder regulär Visumsanträge gestellt werden, wenngleich teils mit Unterbrechungen (z. B. im April 2022 oder Ende 2022/Anfang 2023 in Herat). Dennoch findet die große Mehrheit der Einreisen nach Iran wohl immer noch irregulär statt (SEM 29.8.2023).
In mehreren Fällen sind Afghanen an der iranischen Grenze zu Afghanistan und an der türkischen Grenze zu Iran gewaltsam zurückgedrängt worden (MMC 3.2023). [Anm.: s. Abschnitt "Rückkehr" in diesem Kapitel für weitere Informationen]
Amayesh-Programm
Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die unter anderem das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen (Migrationsverket 10.4.2018; vgl. UNHCR o.D.a). Die Amayesh-Karten wurden für Haushalte (und nicht Einzelpersonen) ausgestellt, wobei die Registrierung der Haushalte v. a. auf den Eigenangaben der Antragsteller basierte (Asghari/RLI 3.2024). Ein Anrecht auf die Amayesh-Karte haben praktisch nur Flüchtlinge, die sich bereits vor 2001 in Iran aufhielten, sowie deren (auch später geborene) Kinder [Anm.: sie weiter unten bzgl. der Weitergabe des Status] (SEM 29.8.2023). Die Registrierung für den Amayesh-Status war in dieser Hinsicht eine einmalige Gelegenheit, die nicht in eine [permanente] Zugangsmöglichkeit zu einem Aufenthaltsstatus umgewandelt wurde, der auf der Grundlage von Anspruchsvoraussetzungen gewährt würde (Asghari/RLI 3.2024).
Offiziell handelt es sich bei der Amayesh-Karte um eine zeitlich beschränkte Aufenthaltserlaubnis. Die Karte muss entsprechend regelmäßig erneuert werden. Seit 2011 hat sie jeweils eine Gültigkeit von einem Jahr (SEM 29.8.2023). Kartenbesitzer, die eine Registrierungsrunde verpasst haben, oder die für manche Afghanen nicht unerheblichen Erneuerungskosten nicht aufbringen können, verlieren die Karte und damit ihren Aufenthaltsstatus (Eurac 3.7.2023, NRC 1.6.2023). In der Vergangenheit (Amayesh-Runden 14, 15 und 17) wurden jedoch teils Ausnahmen für ehemalige Amayesh-Karteninhaber gemacht, die vergessen hatten, sich zu registrieren (SEM 29.8.2023).
Im November 2023 hat die Regierung ein neues System eingeführt, das die abgelaufenen Amayesh-Karten durch sogenannte Smart ID-Karten ersetzen soll. Dieses neue System ermöglicht ebenfalls einen zeitlich begrenzten Aufenthalt in Iran. Die Smart ID-Karte ist mit einer SIM-Karte und einer Bankkarte verbunden und kostet etwa 22 EUR (IOM 11.4.2024). Mit Beginn der Pilotphase dieses Projekts wurde die Erneuerung der Amayesh-Karten eingestellt und die Gültigkeitsdauer der vorigen Amayesh-Karten um ein Jahr verlängert (Asghari/RLI 3.2024).
Registrierung von Personen ohne Aufenthaltsstatus (Ausgabe von headcount slips)
Bereits 2017 und 2018 hatte der Iran eine Zählung und Registrierung (headcount) von Ausländern ohne regulären Aufenthalt durchgeführt. Ende 2017 waren dabei rund 800.000 Personen registriert worden, in der überwiegenden Mehrheit Afghanen. Diese Personen erhielten einen Papierbeleg (headcount slip), der sie vor einer Rückführung nach Afghanistan schützte. Bei einer früheren Registrierungsrunde (Comprehensive Regularization Plan) von 2010 und 2012) war registrierten Afghanen später sogar ein Aufenthalt per Visum ermöglicht worden (SEM 29.8.2023).
Beim letzten Zählungszyklus für Afghanen, der im Juni 2022 endete, wurden drei Kategorien von Berechtigten registriert:
1. Besitzer von headcount slips der Zählung von 2017;
2. Afghanische Staatsangehörige ohne Papiere, die bereits ihre "Impfeinführungsbriefe" von Kefalat-Zentren* erhalten haben und nicht an der Zählung von 2017 teilgenommen haben;
3. Ausländer ohne Papiere, die an keiner der bisherigen Zählungen/Impfplänen teilgenommen haben (UNHCR o.D.b).
Die Kosten für die Registrierung und Teilnahme von Afghanen ohne Aufenthaltsstatus an der Zählung beliefen sich zwischen 270.000 IRR und 310.000 IRR pro Person (UNHCR o.D.b).
Die Gültigkeit der 2022 ausgestellten headcount slips wurde systematisch bis zum 20.4.2023 verlängert (UNHCR 14.1.2024), im November 2023 erfolgte eine Ankündigung, wonach sich Inhaber von headcount slips, die von einem Pishkan-Zentrum* ausgestellt wurden, bei einem Kefalat-Zentrum* melden sollen, da ihre headcount slips sonst die Gültigkeit verlieren würden (UNHCR 19.11.2023). Die iranische Regierung führt laut UNHCR ein einheitliches Ausweismodell ("Unified IDs scheme") ein, das einen stabileren Rechtsstatus für ausländische Staatsangehörige in Iran schaffen soll (UNHCR 14.1.2024). Dabei handelt es sich wahrscheinlich um das Projekt der neuen Smart ID-Karte für Flüchtlinge und Ausländer (SEM 29.8.2023). Inhaber von headcount slips sollen die Möglichkeit zum Erhalt einer Smart ID-Karte bekommen, wobei in der Einführungsphase die Amayesh-Karten getauscht werden und die headcount slips später folgen. Anders als Amayesh-Karteninhaber müssen die Inhaber von headcount slips dazu laut IOM allerdings an einem Investitionsprogramm für ausländische Staatsangehörige teilnehmen. Dabei wird die erforderliche Investitionssumme von einer Mrd. IRR (21.893 EUR) pro Haushaltsvorstand und allen erwachsenen männlichen Familienmitgliedern für ein Jahr eingefroren und kann in Infrastrukturprojekte investiert werden. Während das Programm laut Regierung freiwillig ist, riskieren Personen, welche nicht daran teilnehmen, laut IOM eine Ausweisung, vor allem, wenn ihre headcount slips ablaufen. Die headcount slips derjenigen, die Ablehnungen für Smart ID-Karten erhalten haben, werden derzeit noch als gültig betrachtet. Die Einzelheiten des Plans sind noch in der Ausarbeitung und ändern sich möglicherweise noch (IOM 11.4.2024). Die Teilnahme an dem "freiwilligen" Investitionsprogramm ermöglicht laut einer Ankündigung des iranischen Innenministeriums den Zugang zu privilegierten Diensten wie zum Beispiel verschiedenen Versicherungsarten und einer Aufenthaltsbewilligung. Nach Ankündigung der National Organization for Migration (NOM) ist die Nichtteilnahme an diesem Programm "lediglich ein Zeichen für mangelndes Interesse an den von diesem Programm gebotenen Diensten" (UNHCR 28.1.2024).
* Anm.: Pishkan- und Kefalat-Zentren sind lokale Servicezentren, die von den iranischen Behörden in Kooperation mit privaten Anbietern eingerichtet wurden.
Rechte und Zugang zu Leistungen
Während Afghanen unabhängig von ihrem Status freien Zugang zum Schulwesen haben und viele von ihnen die versteckten Subventionen nutzen können, die die Regierung zur Kontrolle der Preise für Lebensmittel, Medikamente und Benzin bereitstellt, sind Personen ohne Aufenthaltsstatus beispielsweise nicht in der Lage, Bankkonten zu eröffnen oder Wohnungen und SIM-Karten für Mobiltelefone zu kaufen (AJ 12.6.2022). Auch Afghanen mit einem Aufenthaltsstatus sind von bestimmten Einschränkungen betroffen. Laut einer neuen Direktive ist es Afghanen mit einer Aufenthaltsbewilligung z. B. nur mehr erlaubt, Bankkonten bei einer Bank (und nicht bei mehreren) zu eröffnen (8am 24.2.2024).
Amayesh-Karteninhaber sowie durch den headcount registrierte Afghanen sind in ihrer Bewegungsfreiheit im Land eingeschränkt (IOM 11.4.2024; vgl. UNHCR o.D.c, UNHCR 3.8.2022). Die Aufenthaltstitel sind an bestimmte Provinzen gebunden, die nicht ohne Genehmigung verlassen werden dürfen. Inhaber von Amayesh-Karten oder headcount slips können sich auch nicht in einer anderen Provinz als der, in der sie registriert sind, für staatliche Leistungen wie zum Beispiel den Schulbesuch anmelden. Darüber hinaus sind 16 Provinzen [Anm.: von insg. 31] Betretungsverbotszonen für Afghanen (IOM 11.4.2024). Letzteres hat nach einer Ankündigung des BAFIA-Büros in Kermanshah Medienaufmerksamkeit erhalten (IOM 11.4.2024; vgl. RFE/RL 4.12.2023, IRINTL 3.12.2023), allerdings ist diese Praxis laut Regierungsangaben nicht neu. Manche Provinzen, wie zum Beispiel Sistan und Belutschistan, sind seit langem Verbotszonen für afghanische Staatsbürger (IOM 11.4.2024). Besitzer gültiger Aufenthaltsvisa (Asghari/RLI 3.2024; vgl. IOM 4.5.2022), wie z. B. Studienvisa, können sich frei im Land bewegen (IOM 11.4.2024), so es sich dabei nicht um Verbotszonen für Ausländer handelt. Mit einem Aufenthaltsvisum ist außerdem eine Reise ins Ausland möglich. Inhaber von Amayesh-Karten können das Land nicht verlassen, da sie ihren Status sonst verlieren (Asghari/RLI 3.2024).
Die iranischen Behörden arbeiten mit UNHCR zusammen, um Flüchtlingen, aus Iran nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlingen, Asylwerbern und anderen Personen Hilfe bereitzustellen (USDOS 20.3.2023b), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 9.1.2024). Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IOM 11.4.2024). Von iranischer Seite gibt es einige NGOs, die sich um afghanische Flüchtlinge kümmern. Die iranischen Behörden haben den Spielraum dieser unabhängigen Organisationen in den letzten Jahren allerdings eingeschränkt (SEM 30.3.2022).
Bildungswesen
Seit 2015 haben afghanische Kinder Zugang zu kostenloser Bildung bis zum Ende der Oberstufe (IOM 11.4.2024; vgl. ÖB Teheran 11.2021). Afghanen mit Papieren können sich direkt bei den Schulen einschreiben. Der Zugang ist für Inhaber von Amayesh-Karten und headcount slips gewährleistet. Afghanen ohne Papiere haben formell Zugang zu Grund- und weiterführenden Schulen mit einigen Einschränkungen (zwei Jahre Wohnsitznachweis), in der Praxis ist der Zugang jedoch schwierig (IOM 11.4.2024). Sie können sich mit einer speziellen "Bildungsschutzkarte" oder blue card an Schulen anmelden, die vom BAFIA ausschließlich für die Einschreibung an Schulen in einer bestimmten Provinz ausgestellt wird. Diese ist jeweils für ein Jahr gültig (UNHCR o.D.a). Während es ursprünglich vergleichsweise einfach war, eine blue card zu erhalten, ist dies nach Angaben eines Aktivisten für Flüchtlingsrechte in Iran zunehmend schwieriger geworden und blue cards werden vor allem für Afghanen ausgestellt, die vor 2021 ins Land gekommen sind (MMC 3.2023). Auch finden nicht alle Kinder einen Schulplatz, etwa weil erschwingliche Transportmöglichkeiten fehlen, die Kinder illegal arbeiten geschickt werden, die allgemeine Einschreibegebühr von umgerechnet 60 USD zu hoch ist, oder Eltern iranischer Kinder gegen die Aufnahme von afghanischen Kindern sind (ÖB Teheran 11.2021).
Flüchtlingskinder lernen Seite an Seite mit ihren iranischen Klassenkameraden nach dem iranischen Lehrplan. Es gibt einige von der afghanischen Gemeinschaft betriebene Schulen, in denen in Dari oder anderen in Afghanistan gesprochenen Sprachen unterrichtet wird. Diese Schulen sind mittlerweile anerkannt, nachdem sie zuvor regelmäßig von den Behörden geschlossen wurden (ACCORD 4.5.2020).
Bildung auf höherem Niveau ist nur für Inhaber eines Visums zugänglich. Inhaber einer Amayesh-Karte und Migranten ohne Registrierung können sich nicht für ein Hochschulstudium oder eine Berufsausbildung einschreiben (IOM 4.5.2022; vgl. IOM 11.4.2024). Um an einer Universität zu studieren, müssen Inhaber einer Amayesh-Karte und Inhaber einer Aufenthaltsgenehmigung ihren Status aufheben, das Land verlassen und erneut ein Visum für die Ausbildung beantragen, um nach Iran einzureisen (IOM 4.5.2022; vgl. IOM 11.4.2024, TN 20.2.2023), bzw. ist eine Visumsbeantragung auch auf der Insel Kish in Südiran möglich (UNHCR 1.12.2023; vgl. UNHCR 26.10.2021). Nach Studienabschluss kann der Amayesh-Status nicht wiedererlangt werden. Ehemalige Amayesh-Kartenbesitzer können dann um eine jährlich zu verlängernde Aufenthaltsbewilligung ansuchen, die i.d.R. verlängert wird, solange die Antragsteller in Iran leben. Da es sich dabei um ein Dekret handelt, kann sich dies in der Zukunft allerdings auch ändern (Asghari/RLI 3.2024).
Gesundheitswesen
Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch (ÖB Teheran 11.2021; vgl. Eurac 3.7.2023). Der Zugang zur staatlichen Krankenversicherung ist hingegen abhängig vom konkreten Aufenthaltsstatus (SEM 30.3.2022). Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge [Anm.: Inhaber einer Amayesh-Karte] zur staatlichen Krankenversicherung anmelden, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). Inhaber der Amayesh-Karte sind über das von UNHCR unterstützte Versicherungssystem krankenversichert, Visuminhaber meist über eine Beschäftigung bei einer iranischen Organisation oder einem Unternehmen. Das mit der Smart ID-Karte verbundene Investitionsprogramm, an dem Inhaber von Amayesh-Karten und headcount slips teilnehmen können, soll eine Krankenversicherung beinhalten. Migranten ohne Papiere haben keinen Zugang zu einer Krankenversicherung, und wenn sie eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen wollen, müssen sie alle Kosten selbst tragen. Es gibt keine ausreichenden Kapazitäten von NGOs, um Migranten ohne Aufenthaltstitel bei der Deckung medizinischer Kosten zu unterstützen. Lediglich bei den Grundkosten kann UNHCR teilweise helfen. Inhaber von headcount slips können in Ausnahmefällen bei schweren Fällen wie Krebs, Nierenversagen/Dialyse Zugang zu medizinischen Leistungen erhalten. Die Universelle Öffentliche Krankenversicherung (Universal Public Health Insurance, UPHI), eine der nationalen Krankenversicherungen in Iran, ist die am besten zugängliche Versicherung für in Iran lebende Afghanen. Sie deckt jedoch nicht die gesamten Behandlungs- und Medikamentenkosten ab (IOM 11.4.2024).
Arbeitsmöglichkeiten
Amayesh-registrierte Afghanen [Anm.: Hier sind nur Männer gemeint] im Alter von 18 bis 60 Jahren müssen um eine Arbeitserlaubnis ansuchen, um legal in Iran arbeiten zu dürfen (IOM 11.4.2024). Die Arbeitsgenehmigung wird gemeinsam mit der Amayesh-Verlängerung beantragt (Diaran 25.7.2022). Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen, oft zu Hause (Migrationsverket 10.4.2018). Bei Erhalt einer Smart ID-Karte müssen Inhaber von Amayesh-Karten und headcount slips separat für eine Arbeitserlaubnis bezahlen. Die Kosten für ein Arbeitsvisum in Iran belaufen sich auf neun Mio. IRR (197,12 EUR) bei erstmaligem Erhalt, bei Verlängerung acht Mio. IRR (175,21 EUR). Das mit der Smart ID-Karte verbundene Investitionsprogramm soll eine Sozialversicherung beinhalten (IOM 11.4.2024). Der headcount slip alleine enthält keine Arbeitserlaubnis (Asghari/RLI 3.2024).
Die meisten Afghanen arbeiten im informellen Sektor (IOM 11.4.2024) und gehen eher schlecht bezahlten Tätigkeiten nach (am Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder in der Landwirtschaft), die offiziell versicherungspflichtig sind (AA 30.11.2022). Selbst mit einer Arbeitserlaubnis können Afghanen nur in bestimmten, vorher festgelegten Arbeitsbereichen wie Bauwesen, Reinigung usw. arbeiten. Es gibt keine offizielle Bekanntgabe dieser Arbeitsbereiche. Dies wird in der Regel durch interne Richtlinien des Arbeitsministeriums bekannt gegeben. Die afghanische Bevölkerung in Iran hat meist keinen Zugang zu qualifizierter Arbeit. Wenn qualifizierte Ausländer jedoch ein Arbeitsvisum beantragen und es erhalten, können sie in ihrem jeweiligen Bereich arbeiten (IOM 11.4.2024).
Zugang zu Wohnraum
Nach iranischem Recht ist es Ausländern nicht gestattet, unbewegliches Eigentum wie Grundstücke und Gebäude zu besitzen, es sei denn, es gelten ganz besondere Bedingungen und Vereinbarungen zwischen Iran und anderen Ländern. Legale Migranten und Inhaber einer Amayesh-Karte können Geschäftsräume und Wohnungen zu Wohnzwecken mieten. Es ist verboten, Immobilien an Migranten ohne Papiere zu vermieten (IOM 11.4.2024). Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt, und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Migrationsverket 10.4.2018). Nach Angaben des UNHCR wohnen trotzdem nur etwa sechs Prozent der Afghanen in Iran in Lagern, während die überwiegende Mehrheit unter der iranischen Bevölkerung lebt (AJ 12.6.2022). Es gibt offiziell ausgewiesene Siedlungen, meist in abgelegenen Gebieten, die in Iran "Gaststädte" heißen und in denen rund drei Prozent der Amayesh-Karteninhaber leben (Asghari/RLI 3.2024).
Zugang zu afghanischen Dokumenten, Heirat und Staatsbürgerschaft von Kindern
Nach Angaben des UNHCR Iran konnten sich afghanische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Iran früher an die afghanische Botschaft in Teheran oder das Konsulat in Mashhad wenden, um sich beraten zu lassen und Unterstützung bei der Beschaffung von Ausweispapieren zu erhalten, wenn die Person keine Tazkira und/oder keinen gültigen Reisepass besaß. Dies hat sich jedoch nach der Machtübernahme der Taliban in der Praxis geändert. Laut IOM Teheran kann die Botschaft der afghanischen De-facto-Behörden in Teheran keine Tazkira ausstellen, es ist nur möglich, eine Tazkira in Afghanistan zu erhalten. Verwandte väterlicherseits, die sich in Afghanistan aufhalten, können die Tazkira im Namen des Migranten entgegennehmen. Für die Ausstellung eines Reisepasses innerhalb Irans ist in Teheran, Mashhad und Zahedan eine Tazkira zusammen mit einer iranischen Aufenthaltsgenehmigung erforderlich. Die Pässe werden in Afghanistan gedruckt, und das gesamte Verfahren dauert etwa zwei Monate. Diejenigen, die keine Tazkira und keine Verwandten väterlicherseits haben, müssen nach Afghanistan zurückkehren, um eine Tazkira zu erhalten, oder sie müssen das Land mit einem Laissez-Passer verlassen (IOM 11.4.2024).
Afghanische Staatsangehörige können unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Iran heiraten, sofern sie ein gültiges Ausweisdokument besitzen. Ihre Ehe unterliegt den afghanischen Gesetzen und wird bei der afghanischen Botschaft registriert (IOM 4.5.2022). Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IOM 4.5.2022).
Eine Ehe führt nicht automatisch zu Papieren. Ein Amayesh-Karteninhaber gibt seinen Aufenthaltsstatus nicht mit der Heirat an den Ehepartner weiter (IOM 11.4.2024). Wenn die Inhaber einer Amayesh-Karte und eines Aufenthaltsvisums heiraten, können die Ehepartner jeweils ihren eigenen Aufenthaltsstatus behalten. Sollte das Paar Kinder haben, können die Kinder allerdings nur Papiere bekommen, wenn der Elternteil mit der Amayesh-Karte seinen Aufenthaltstitel auf ein Aufenthaltsvisum umändert (Asghari/RLI 3.2024).
Seit 2019 ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können, auch wenn dies nicht automatisch geschieht, sondern beantragt werden muss (USDOS 15.6.2023b; vgl. IOM 11.4.2024). Ein Kind eines iranischen Vaters und einer afghanischen Mutter, das im Rahmen einer offiziellen Ehe geboren wird, erhält automatisch die iranische Staatsangehörigkeit (IOM 4.5.2022).
Weitere Aspekte
Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen (ÖB Teheran 11.2021). Die iranischen Behörden sind sich jedoch uneins darüber, wie sie mit der wachsenden Zahl illegaler afghanischer Einwanderer umgehen sollen (IRINTL 28.9.2023). Iranische Behörden fürchten einerseits einen noch größeren Zustrom von Afghanen und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran und die schlechte Wirtschaftslage. Es werden Spannungen zwischen ansässiger Bevölkerung und Neuankömmlingen befürchtet (ÖB Teheran 11.2021). Afghanische Medien berichten, dass sich afghanische Migranten in Iran mit zahlreichen Herausforderungen durch iranische Behörden und Bürger gleichermaßen konfrontiert sehen. Zu diesen Herausforderungen gehören Schikanen, Inhaftierung, Missachtung ihrer Rechte und Zwangsabschiebung (KP 25.2.2024; vgl. 8am 24.2.2024). Es gibt wachsende Ressentiments gegen Afghanen in der iranischen Bevölkerung (IOM 11.4.2024), wobei Afghanen auch schon bisher teilweise diskriminiert wurden (ÖB Teheran 11.2021; vgl. Stimson 24.10.2023). Es kam zu anti-afghanischen Protesten (ÖB Teheran 11.2021; vgl. IRINTL 14.10.2023), z. B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder in Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Auch wurde von einzelnen Vorfällen gewalttätiger Angriffe auf Afghanen (8am 24.2.2024, IRINTL 14.10.2023) bzw. einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Afghanen und Iranern berichtet (IOM 11.4.2024). Andererseits werben manche Hardliner-Medien angesichts der gesunkenen Geburtenrate und gestiegenen Emigration von Iranern auch um eine Akzeptanz der Afghanen (IRINTL 28.9.2023). Die meisten Flüchtlinge gehen gering qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeiten nach (AA 30.11.2022) und sehen sich mit Vorurteilen und negativen Stereotypen konfrontiert (Stimson 24.10.2023). Sie sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 30.11.2022).
Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befanden (FH 2024; vgl. USDOS 15.6.2023b). Das US-amerikanische Außenministerium berichtete zudem, dass die iranischen Behörden ehemalige Mitglieder der afghanischen Spezialeinheiten gezwungen haben, für die von Iran unterstützten Houthis im Jemen zu kämpfen, um ihren legalen Aufenthaltsstatus in Iran zu behalten, nachdem sie eine Verlängerung ihres Visums für den Verbleib in Iran beantragt hatten (USDOS 15.6.2023b).
Freiwillige und zwangsweise Rückkehr
Es existieren keine verlässlichen Daten zur freiwilligen wie auch unfreiwilligen Rückkehr aus Iran nach Afghanistan. Verschiedene Quellen geben zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Schätzungen wieder (SEM 29.8.2023). Die freiwillige Rückkehr von registrierten afghanischen Flüchtlingen findet gemäß Daten von UNHCR seit August 2021 auf einem niedrigeren Niveau statt als zuvor (UNHCR 31.12.2023), wobei im Jahr 2023 mit insgesamt 521 Personen mehr registrierte afghanische Flüchtlinge mit UNHCR-Unterstützung freiwillig nach Afghanistan zurückkehrten als 2022 (379 Personen) (UNHCR 9.1.2024). IOM verzeichnete im ersten Jahr nach der Machtübernahme der Taliban (15.8.2021-14.8.2022) mit rund einer Million Rückkehrern dagegen eine höhere Anzahl als im zweiten Jahr (15.8.2022-15.8.2023), als ca. 838.000 Personen erfasst wurden, die von Iran nach Afghanistan zurückkehrten (IOM 5.2.2024).
Die Literatur unterscheidet bei der unfreiwilligen Rückkehr zwischen Pushbacks von neu einreisenden Flüchtlingen an der Grenze und Rückführungen von Flüchtlingen aus dem Landesinnern. Auch zu diesem Verhältnis existieren keine genauen Zahlen. Die iranischen Behörden schieben irregulär einreisende Afghanen nach Möglichkeit umgehend nach Afghanistan zurück. Auch für Afghanen ohne legalen Aufenthalt in Iran besteht das Risiko einer Rückführung nach Afghanistan (SEM 29.8.2023). Abschiebungen finden in großer Zahl statt (IOM 11.4.2024), wobei die Abschiebung illegaler Einwanderer in großem Umfang entgegen der Meinung vieler Iraner schon immer auf der Agenda der Islamischen Republik stand. In den letzten Jahren wurden Hunderttausende der Einwanderer aus Iran abgeschoben, wobei zu ihrer Anzahl keine konsistenten Statistiken veröffentlicht wurden (Diaran 1.1.2024). Mit einer Ankündigung, alle Migranten ohne Papiere auszuweisen, wurden Abschiebungen Ende 2023 intensiviert (RFE/RL 18.10.2023). Zwischen September und Dezember 2023 betraf dies laut Taliban-Angaben über 345.000 Afghanen (TN 11.12.2023). Anfang 2024 hat der iranische Innenminister erneut betont, dass Afghanen ohne Aufenthaltsdokumente des Landes verwiesen werden, auch zwangsweise (8am 24.2.2024).
Nach Schätzungen von UNHCR wurden 2023 rund 40 % der neu ankommenden Afghanen abgeschoben und Berichte von IOM legen nahe, dass jeden Monat rund 40.000 Afghanen an der Grenze abgewiesen wurden (USDOS 23.4.2024a). IOM führte die Zahl der Ausreisen von Afghanen aus Iran, die beispielsweise im März 2023 über jenen der Einreisen lag, vor allem auf "systematische Pushbacks" durch die iranischen Behörden zurück (IOM 26.5.2023). Die bislang ausführlichsten Informationen zu Pushbacks aus Iran stammen von Amnesty International (AI) und decken einen Zeitraum bis Mitte 2022 ab (SEM 29.8.2023). AI berichtet dabei über Fälle von zwangsweisen Rückschiebungen von Afghanen durch die iranischen Sicherheitsbehörden an der Grenze zu Afghanistan, ohne dass deren individueller Bedarf an internationalem Schutz bewertet worden wäre, und dokumentierte Fälle, bei denen die iranischen Sicherheitsbehörden das Feuer auf Afghanen eröffneten, die versuchten, die Grenze zu überqueren, und sie erschossen (AI 8.2022).
Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zeigte sich besorgt über Berichte zur gewaltsamen Abschiebung einer großen Zahl von Afghanen seit August 2021 ohne individuelle Prüfung des Schutzbedarfs, und über Pushback-Operationen, die durch übermäßige Gewaltanwendung gekennzeichnet sind, ebenso wie über Berichte zur Inhaftierung von Ausländern ohne Papiere im Rahmen von Razzien, die zu Abschiebungen, auch von Kindern, führen können, ohne dass ein Prüfverfahren durchgeführt wird (UNHRCOM 23.11.2023). Die iranischen Behörden haben keine Anstrengungen unternommen, um Opfer von Menschenhandel in dieser besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe zu ermitteln oder zu identifizieren. Nach Angaben einer internationalen Organisation nahmen die Behörden später sowohl dokumentierte als auch undokumentierte Afghanen fest, denen die Einreise nach Iran gelungen war. Während sie sich in staatlichem Gewahrsam befanden, wurden einige der inhaftierten Migranten - darunter auch Kinder - schwer misshandelt, erhielten über längere Zeit keine Nahrung und kein Wasser und hatten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, auch nicht zur Behandlung von Schusswunden, die sie an der Grenze von iranischen Behörden erlitten hatten (USDOS 15.6.2023b). UNHCR erwähnt mehrere "Transit- oder Deportationszentren" entlang der iranisch-afghanischen Grenze sowie "formale Haftzentren" in verschiedenen Städten. Diese Einrichtungen werden oft als überfüllt und schmutzig beschrieben, mit mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung (SEM 29.8.2023).
Andererseits arbeitet die Regierung an neuen Strategien und Maßnahmen, darunter auch einige Bestimmungen zum Thema Schutzbedürftigkeit. Ein Gesetzentwurf sieht u. a. vor, dass die iranischen Behörden schutzbedürftige Migrantengruppen wie Kinder, schwangere Frauen, ältere Menschen und kranke Migranten nicht abschieben werden (IOM 11.4.2024).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen hinsichtlich der Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellung zu der vom Beschwerdeführer angeführten Identität ergibt sich aus seinen Angaben im Verfahren (Seite 13 der Niederschrift der Erstbefragung). Mangels Vorlage von Identitätsdokumenten im Original war die Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei festzustellen.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers und zu seinen Sprachkenntnissen gründen auf den diesbezüglich plausiblen, widerspruchsfreien und sohin glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren (Seiten 13 f der Niederschrift der Erstbefragung, Seiten 31 und 39 der Niederschrift vom 17.11.2023 im Verfahren vor den Schweizer Behörden, Seiten 85 und 87 der Niederschrift vom 08.08.2024 im Verfahren vor der belangten Behörde); das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen Angaben zu zweifeln.
Die Feststellungen zu der Antragstellung auf internationalen Schutz in Österreich und der Schweiz, der Einstellung des Verfahrens, der Rücküberstellung nach Österreich und zur Gewährung von subsidiärem Schutz ergeben sich zweifelsfrei aus dem Akteninhalt und einer Einsichtnahme in das Zentrale Fremdenregister.
Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruht auf seinen Angaben vor den Schweizer Behörden (Seite 33 der Niederschrift vom 17.11.2023 im Verfahren vor den Schweizer Behörden) und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Seite 87 der Niederschrift vom 08.08.2024 im Verfahren vor der belangten Behörde) sowie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung (Seite 3 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung) und stützt sich zudem auf den Umstand, dass keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, aus welchen körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, regelmäßige medizinische Behandlungen oder eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit abzuleiten wären. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt dabei nicht, dass der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde wiederholt auf Traumatisierungen sowie seinen psychischen Zustand verwies (Seiten 237 f in der Beschwerde), um allfällige Ungereimtheiten zu erklären. Da der Beschwerdeführer diesbezüglich jedoch keine Nachweise erbrachte und auch sonst keine für das Verfahren maßgeblichen Beeinträchtigungen des psychischen Zustandes des Beschwerdeführers erkennbar waren, konnte Derartiges nicht festgestellt werden.
Seine strafgerichtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einer Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich.
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Das Bundesverwaltungsgericht geht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und aufgrund des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks der erkennenden Richterin davon aus, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan nicht individuell und konkret bedroht oder verfolgt worden ist oder wird.
Anlässlich seiner Erstbefragung am 20.08.2023 hatte der Beschwerdeführer als Fluchtmotiv lediglich darauf verwiesen, dass es keine Arbeit gebe und große Armut herrsche. Außerdem habe er bei einer Rückkehr Angst vor Armut.
In seiner Erstbefragung vor den Schweizer Behörden am 17.11.2023, demnach nur rund vier Monate später, verwies er erstmals darauf, dass es Kriege gegeben habe und sein Vater ihm und seinem Bruder geraten habe, das Land zu verlassen und auszureisen. In Afghanistan hätten sie nichts machen können und sei er mit seinem Bruder ausgereist. Dieser sei im Iran geblieben und der Beschwerdeführer weitergereist. Sein Vater habe gesagt, sie sollten ihre Zukunft selber aufbauen. Ansonsten habe es zudem keine Arbeit und kein Geld gegeben (AS 49 der Niederschrift vom 17.11.2023 im Verfahren vor den Schweizer Behörden). Der Beschwerdeführer steigerte diesbezüglich bereits sein Vorbringen gegenüber der Erstbefragung vor den österreichischen Behörden, indem er nicht nur auf die Armut, sondern zusätzlich auf den Krieg als Fluchtgrund verwies.
In der Einvernahme vor der belangten Behörde am 08.08.2024 steigerte der Beschwerdeführer sein Vorbringen erneut, indem er nunmehr nicht nur allgemein die Armut bzw. den Krieg als Fluchtgrund nannte, sondern auf einen konkreten Vorfall verwies und ausführte, dass sie Afghanistan verlassen hätten, als die Taliban die Macht übernommen hätten, da diese versucht hätten, seinen Bruder zu töten. Sie hätten auch eine Bombe in seinem Auto platziert, der Bruder habe aber mit Verletzungen am rechten Bein und am rechen Arm überlebt. Nachdem die Taliban an die Macht gekommen wären, sei der Bruder nachhause gekommen und habe zu ihnen gesagt, dass sie Afghanistan verlassen müssten, weil die Lage sehr gefährlich sei. Er habe gemeint, dass nicht nur Leute, die in der ehemaligen Regierung gearbeitet hätten, gefährdet wären, sondern auch die Familie. Deshalb hätten sie sich dazu entschieden, zu fliehen.
Zu diesem offensichtlich inhaltlich gesteigerten Fluchtvorbringen ist zunächst festzuhalten, dass nicht verkannt wird, dass sich die Erstbefragung nicht in erster Linie auf die näheren Fluchtgründe eines Asylwerbers zu beziehen hat, sondern vor allem die persönlichen Daten und die Reiseroute erfassen soll. Nach ständiger Judikatur stellen jedoch die anlässlich der Erstbefragung getätigten Angaben zum Fluchtgrund dennoch ein nicht unbeachtliches Indiz für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Asylwerbers dar.
Dass der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung nicht einmal ansatzweise von dem fluchtauslösenden Vorfall berichtete hatte, stellt demnach ein erstes Indiz für ein nicht glaubhaftes Fluchtvorbringen dar, welches weiter dadurch erhärtet wurde, dass er auch vor den Schweizer Behörden den Vorfall mit seinem Bruder nicht erwähnte. Auch die diesbezügliche Rechtfertigung des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, weshalb er im Laufe seiner Befragungen sein Fluchtvorbringen steigerte, überzeugte nicht, da er hiezu lediglich wiederholt erklärte, dass die Protokollierungen in der Schweiz falsch seien und das, was er bei den Sicherheitsbehörden angegeben hätte, nicht gestimmt habe, da er sehr müde sowie erschöpft gewesen und in der Schweiz gestresst gewesen sei. Er habe so schnell als möglich Asyl erhalten wollen und erst nach seiner Rückkehr nach Österreich vor der belangten Behörde die Wahrheit gesagt. Hiezu ist festzuhalten, dass selbst bei Berücksichtigung seiner damals angeblichen Erschöpfung nicht nachvollzogen werden kann, weshalb der Beschwerdeführer bei seinen jeweiligen Befragungen divergierende Aussagen tätigte, zumal Stress, Müdigkeit und Erschöpfung jedenfalls kein Hindernis darstellen, anzugeben, weshalb die Ausreise aus der Heimat tatsächlich erfolgt sei und dieses Vorbringen auch bei späteren Befragungen zumindest ansatzweise beizubehalten. Zwar ist die Absicht des Beschwerdeführers, so schnell als möglich Asyl erhalten zu wollen, grundsätzlich plausibel, doch auch diesbezüglich erschließt sich für das Bundesverwaltungsgericht nicht, weshalb er dann in der Erstbefragung lediglich die Armut als Fluchtgrund angeführt hatte, wo hingegen die später vorgebrachten Motive (Krieg und die Arbeit des Bruders für die Regierung vor dem Machtwechsel) bei Glaubhaftigkeit viel eher zur Asylbegründung geeignet gewesen wären. Es ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass sich der Beschwerdeführer durch seine Ausreise in die Schweiz dem Asylverfahren in Österreich für einen längeren Zeitraum entzog und dadurch ausreichend über die Möglichkeit verfügte, sein Fluchtvorbringen entsprechend vorzubereiten und möglichst erfolgsversprechend zu ergänzen. Im Übrigen wurde dem Beschwerdeführer das Erstbefragungsprotokoll, entgegen seiner Behauptung in der Einvernahme vor der belangten Behörde, rückübersetzt. Er hat zudem die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben auf jeder Seite des Protokolls mit seiner Unterschrift bestätigt und Ergänzungen und Korrekturen verneint. Selbes gilt im Übrigen auch für seine Befragung vor den Schweizer Behörden.
Neben der Steigerung des Fluchtvorbringens verstrickte sich der Beschwerdeführer aber noch in einen weiteren Widerspruch. Während er bei der Befragung in der Schweiz noch angab, dass sein Vater ihm und seinem Bruder geraten habe, das Land zu verlassen und nur darauf verwies, dass er und sein Bruder das Land verlassen hätten (Seite 49 der Niederschrift vom 17.11.2023 im Verfahren vor den Schweizer Behörden), so meinte er vor der belangten Behörde, dass sein Bruder, nachdem dieser von den Taliban verletzt worden wäre, ihm und der restlichen Familie gesagt habe, dass sie das Land verlassen müssten, da es gefährlich sei. Die gesamte Familie wäre sohin nach der Machtübernahme ausgereist. Demnach schilderte der Beschwerdeführer nicht nur unterschiedlich, wer ihm zu Ausreise geraten hätte, sondern auch welche Familienmitglieder konkret aus Afghanistan ausgereist wären.
Zur Ausreise des Beschwerdeführers bzw. seiner Angehörigen bzw. deren Aufenthaltsorten ergaben sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers während des gesamten Verfahrens noch zahlreiche weitere Widersprüche und Unstimmigkeiten:
So hatte der Beschwerdeführer in seiner Erstbefragung noch behauptet, vor ca. vier Jahren über Pakistan in den Iran gereist zu sein und zur selben Zeit den Ausreisentschluss gefasst zu haben. Seine Eltern, drei Brüder und zwei Schwestern würden noch in Afghanistan, ein Bruder im Iran leben und ein Bruder sei in Bosnien verschollen, vermutlich ertrunken. Zu seinen Aufenthalten nach seiner Ausreise aus Afghanistan merkte der Beschwerdeführer unter anderem zum Iran an, dort zwei Monate gelebt zu haben, sowie zur Türkei, dass er dort dreieinhalb Jahre verbracht habe.
Bei seiner Erstbefragung vor den Schweizer Behörden gab der Beschwerdeführer dagegen jedoch an, dass er zwei Jahre vor seiner Erstbefragung in Österreich aus Afghanistan ausgereist sei. Er habe gemeinsam mit seinem Bruder Afghanistan verlassen, dieser sei aber im Iran festgenommen und in ihr Herkunftsland zurückgeschickt worden. Er lebe jetzt in Afghanistan. An seinem Herkunftsort würden weiterhin seine Onkeln väterlicher- und mütterlicherseits, seine Cousins und auch die Großfamilie leben. Er habe keine Schwestern, aber die Brüder und Eltern des Beschwerdeführers würden ebenfalls noch dort leben. Zudem berichtete er von drei Brüdern ( XXXX ) sowie einem verschollenen Bruder. Weiter hiezu befragt, führte der Beschwerdeführer erneut an, dass er keine Schwestern habe, aber sein Bruder von ihm am Weg verloren gegangen sei und er nichts mehr von ihm wisse. Er sei vor ihm ausgereist, älter als der Beschwerdeführer und zuletzt in Bosnien gewesen. Er habe keine Informationen über ihn, ob er noch am Leben sei. Alle anderen Brüder würden noch in seinem Herkunftsdorf leben. Erneut zu seiner Ausreise befragt, brachte der Beschwerdeführer vor, dass er im Jahr 2021, zwei Monate nach dem Sturz der Regierung, ausgereist sei, aber kein genaues Datum wisse. Zu seinen Aufenthalten nach seiner Ausreise aus Afghanistan erklärte der Beschwerdeführer, dass er sich unter anderem im Iran zwei Monate und in der Türkei eineinhalb Jahre aufgehalten habe.
Auch in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt gab der Beschwerdeführer an, dass er erst im Jahr 2021 aus Afghanistan ausgereist sei. Er behauptete aber nunmehr, dass er nach der Machtübernahme der Taliban mit seiner gesamten Familie ausgereist sei und diese nunmehr im Iran leben würde. Einer seiner (fünf) Brüder sei auf der Flucht verschollen. Dieser sei bis Bulgarien bei ihm gewesen, dort aber von der Polizei aufgegriffen und in die Türkei geschickt worden. Seine Eltern und vier Brüder würden im Iran leben, ein Bruder sei verschollen und der Aufenthaltsort seiner beiden Schwestern sei unbekannt. Er selbst habe sich fünf oder sechs Monate im Iran aufgehalten. In der Türkei sei er zwischen elf und zwölf Monaten gewesen. Zu seinem verschollenen Bruder gab er an, dass sie bis Bulgarien zusammen gewesen wären, der Beschwerdeführer aber von der Polizei aufgegriffen und in die Türkei zurückgeschickt worden sei. Der Beschwerdeführer habe daraufhin nochmal versucht, nach Bulgarien zu gelangen und habe es schließlich nach Serbien geschafft. Dort habe er die Information bekommen, dass sein Bruder versucht hätte, nach Bosnien zu gelangen, er aber verschwunden sei. Es seien Gerüchte aufgekommen, dass er erstochen worden oder ertrunken wäre.
Insgesamt schilderte der Beschwerdeführer demnach zu seiner Ausreise bzw. jener seiner Angehörigen bzw. deren Aufenthaltsorten gänzlich voneinander abweichende Tatsachen. So konnte er bereits den Zeitpunkt seiner Ausreise nicht einheitlich angeben, indem er sich in seiner Erstbefragung vor dem Bundesamt hiezu auf das Jahr 2019 festgelegt hatte, demnach auf einen Zeitpunkt vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021, sich aber im Laufe des nachfolgenden Verfahrens diesbezüglich auf einen Zeitpunkt nach dem Machtwechsel bezog. Er erweckte ferner auch durch die Anpassung der Aufenthaltsdauer im Iran und der Türkei während des gesamten Verfahrens den Eindruck, sein Vorbringen an den Zeitpunkt des Machwechsels anpassen zu wollen. Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass es sich hiebei um maßgebliche Unterschiede bei den angegebenen Zeitspannen handelt, welche nicht durch allfällige kleinere Unstimmigkeiten, die sich durchaus ergeben können, je länger ein Sachverhalt zurückliegt, erklärt werden können. Erschwerend tritt aber noch hinzu, dass es dem Beschwerdeführer nicht einmal gelang, im Rahmen seiner Befragungen stringent anzugeben, mit wem er Afghanistan verlassen hätte, demnach nur mit seinem Bruder oder der gesamten Familie, oder aus welchen Personen konkret seine Familie bestehen würde, indem er zwischenzeitlich meinte, keine Schwestern zu haben bzw. auch die Anzahl seiner Brüder unterschiedlich anführte. Ferner nannte er als Aufenthaltsort seiner Familie Afghanistan, im Widerspruch hiezu aber auch den Iran. Unstimmig ist zudem ferner, dass der Beschwerdeführer zu seinem verschollenen Bruder einerseits vorbrachte, dass dieser vor ihm ausgereist wäre, andererseits in einer späteren Befragung aber auch erläuterte, dass dieser bis Bulgarien bei ihm gewesen und die gesamte Familie gemeinsam aus Afghanistan ausgereist sei.
Im Übrigen verstärkte der Beschwerdeführer den Widerspruch betreffend die Anzahl seiner Brüder in der Verhandlung weiter, denn während er im bisherigen Verfahren vier und fünf Brüder nannte, behauptete er nunmehr, sechs Brüder zu haben. Auch den Widerspruch, wonach er in der Schweiz mehrfach betont habe, über keine Schwestern zu verfügen, konnte der Beschwerdeführer in der Verhandlung nicht aufklären, zumal er lediglich behauptete, dass er von diesen sehr wohl erzählt hätte. Erst auf erneute Nachfrage führte er hiezu aus, dass er die Frage damals dahingehend verstanden hätte, ob seine Schwestern auch in ihrem Herkunftsdorf mit ihnen leben würden. Er habe die Frage verneint, weil seine Schwestern damals schon verheiratet gewesen seien und in ihren eigenen Haushalten gewohnt hätten. Auf Vorhalt, dass die Frage, ob man Schwestern habe, in dieser allgemeinen Form aber ganz eindeutig zu verstehen sei, wiederholte der Beschwerdeführer, dass er auch dort seine beiden Schwestern erwähnt habe, aber er vielleicht falsch verstanden worden sei. Die Erklärungen in der Verhandlung zu den unterschiedlichen Angaben des Beschwerdeführers, ob er Schwestern habe, ist jedoch bereits in sich widersprüchlich, indem er zwei Mal darauf verwies, dass er diese erwähnt hätte, ein Mal jedoch meinte, diese nicht genannt zu haben, da er die Frage anders verstanden hätte. Zum Aufenthaltsort seiner Familie und ihrem Ausreisezeitpunkt wiederholte der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht, dass diese im Iran leben würde und nach der Machtübernahme der Taliban Afghanistan verlassen hätte. Die sich aus den unterschiedlichen Befragungen ergebenden Widersprüche versuchte der Beschwerdeführer erneut und mehrfach damit zu erklären, dass er bei der Erstbefragung erschöpft gewesen wäre, er aber auch bereits in der Schweiz angegeben habe, dass er gemeinsam mit seiner Familie ausgereist sei und sich diese im Iran befände, sowie dass er aufgrund des Verschwindens seines Bruders dem Druck der Familie ausgesetzt gewesen sei. Eine nachvollziehbare Erklärung für sein grob widersprüchliches Aussageverhalten lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Weiters ist auch die Behauptung des Beschwerdeführers, dass er zwölf Jahre alt hätte sein müssen, wenn er tatsächlich vier Jahre vor seiner Erstbefragung ausgereist wäre, und seine Eltern ihm in diesem Alter wohl nicht erlaubt hätten, auszureisen, nicht dazu geeignet, darzulegen, dass diese Protokollierung in der Erstbefragung nicht seinen Angaben entsprechend erfolgt ist, zumal ein solches Verbot zwar denkbar ist, eine Ausreise zusammen mit dem älteren Bruder aber nicht unmöglich macht. Seine diesbezüglichen Erklärungen auf die Vorhalte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung waren daher nicht dazu geeignet, diese Widersprüche und Unstimmigkeiten aufzuklären, wodurch auch die Glaubhaftigkeit seines Fluchtgrundes weiter beeinträchtigt wurde.
Bereits die belangte Behörde hielt dem Beschwerdeführer weiters das bloß vage Vorbringen zu jenem Bruder vor, welcher den Militärdienst für die vormalige afghanische Regierung verrichtet hätte und daher von den Taliban angegriffen worden sei. Auch wenn grundsätzlich nachvollziehbar erscheint, dass der Beschwerdeführer über den Vorfall selbst keine Details schildern konnte, da er nicht dabei gewesen wäre, so ist dem Beschwerdeführer dennoch konkret vorzuwerfen, dass er vor der belangten Behörde nicht einmal den Zeitpunkt des Vorfalls anzugeben vermochte und auf die diesbezügliche Frage lediglich mit „Weiß ich nicht.“ antwortete. In der Beschwerdeverhandlung wurde dem Beschwerdeführer erneut die Möglichkeit geboten, hiezu Stellung zu beziehen und verwies er diesbezüglich aber erneut darauf, dass er sich nicht an das genau Datum erinnern könne. Weiter hiezu befragt, meinte er zudem lediglich, dass zwischen dem Vorfall und dessen Transport nach Kabul viel Zeit vergangen wäre und er seinen Bruder nie näher hierzu befragt hätte. Dass er den Vorfall zeitlich jedoch nicht einmal ungefähr einordnen konnte, erscheint aber trotz seiner Erklärung vollkommen unplausibel.
Aufgrund seines – wie in den Vorabsätzen ausführlich dargelegt - in mehreren Aspekten grob widersprüchlichen Vorbringens zu seinen Brüdern waren aber auch die von ihm in der Beschwerde vorgelegten Beweismittel, die Fotos des Bruders im Militärdienst bzw. dessen Dienstausweises, nicht dazu geeignet, die Glaubhaftigkeit seines Fluchtvorbringens zu begründen. Außerdem handelt es sich beim Dienstausweis lediglich um eine Fotokopie und keine Originalvorlage, wodurch dessen Echtheit nicht überprüft werden konnte.
Gegen die Glaubhaftigkeit des vom Beschwerdeführer in der Folge erstatteten Fluchtvorbringens spricht ferner, dass er seine Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde abermals steigerte, indem er erstmals vorbrachte, dass er von den Taliban gezwungen worden wäre, für sie zu kämpfen, wenn er in Afghanistan geblieben wäre. Eine diesbezügliche Gefährdung erwähnte er aber weder in der Beschwerde noch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und relativierte dahingehend sein diesbezügliches Vorbringen.
Auch aus den Länderinformationen kann eine solche Gefahr nicht abgeleitet werden. Denn ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt sei, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügten und dass viele bereit seien, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung. Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara "in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung" stattgefunden hat. Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan. Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert, und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam. Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen. Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert. Daraus ergibt sich, dass sich aus der bloßen Anwesenheit in Afghanistan die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht ohne Hinzutreten weiterer konkreter Anhaltspunkte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ableiten lässt.
Dem Beschwerdeführer ist es somit nicht gelungen, in Bezug auf seine Person eine asylrelevante Verfolgungsgefahr in seiner Heimat Afghanistan glaubhaft aufzuzeigen und haben sich auch aus den vorliegenden, herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen keine Hinweise ergeben, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wäre.
Der Vollständigkeit halber bleibt darauf hinzuweisen, dass allfälligen, dem Beschwerdeführer tatsächlich drohenden Risiken durch die von ihm behauptete fehlende Arbeitsmöglichkeit und daraus folgende Armut bereits durch die von der belangten Behörde erfolgte Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausreichend Rechnung getragen wurde. Bereits die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz, wie es gegenständlich der Fall ist, steht der Annahme einer innerstaatliche Fluchtalternative entgegen.
2.4. Zu den Feststellungen hinsichtlich der Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht (wesentlich) geändert haben.
Den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen wurde in der Beschwerde zudem nicht substantiiert entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Die Beschwerde ist rechtzeitig und zulässig.
Zum Spruchteil A)
3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.):
3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwN.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Herkunftsstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 06.09.2018, Ra 2017/18/0055; vgl. auch VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100, mwN).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Herkunftsstaates bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Herkunftsstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (vgl. etwa VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203; 26.06.2018, Ra 2018/20/0307, mwN).
Eine Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vgl. auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkrieges hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182, mwN).
3.2.2. Wie im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, vermochte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft zu machen, dass er in Afghanistan der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt ist. Der Schluss auf die mangelnde Asylrelevanz des Vorbringens des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer Gesamtschau seiner Angaben.
Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Afghanistan und der individuellen Situation des Beschwerdeführers ist insgesamt nicht zu erkennen, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat aktuell eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist somit als unbegründet abzuweisen.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen und liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (vgl. z.B. VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Rückverweise