Spruch
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dominik HABITZL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.04.2025, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Vorverfahren:
Der Beschwerdeführer stellte am 27.04.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag fand unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari die Erstbefragung des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er vor etwa acht Jahren mit seinen Eltern sowie seinem Großvater in den Iran gegangen sei. Sein Vater habe Probleme mit den Taliban gehabt, da er LKW-Fahrer gewesen sei. Im Iran hätten sie sich illegal aufgehalten und regelmäßig Probleme mit den Iranern gehabt. Sie hätten dort nicht leben können, aus diesem Grund habe er seine Heimat verlassen.
Anlässlich der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) am 03.05.2011 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst zu Protokoll, sein Vater und sein Großvater seien beide bei einer afghanischen Behörde beschäftigt gewesen. Sein Vater sei zwölf Jahre lange als LKW-Fahrer tätig gewesen. Er sei von den Taliban belästigt worden. Die Familie sei in den Iran gezogen und hätte dort acht Jahre lang gelebt. Die Familie habe nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren können, doch habe auch im Iran regelmäßig Probleme mit den Iranern gehabt. Bei einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesamt am 16.06.2011 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen zusammengefasst aus, sein Vater sowie sein Großvater seien für die Regierung tätig gewesen. Sein Vater sei Chauffeur gewesen und sei von den Taliban auf einer Fahrt in einem Auto der Regierung aufgehalten worden. Die Taliban hätten das Auto von seinem Vater gefordert, dieser habe es jedoch nicht hergeben wollen. Die Taliban hätten auf seinen Vater eingeschlagen und die Taliban hätten ihm das Auto schlussendlich weggenommen. Auch sein Großvater habe wegen dem Problem seines Vaters Befürchtungen gehabt, dass ihm Ähnliches widerfahren könnte und habe Afghanistan deshalb mit der Familie verlassen.
Mit Bescheid vom 11.11.2011 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Dieser erhielt gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 10.11.2012 (Spruchpunkte II. und III.); diese Bescheid erwuch in Rechtskraft. Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei vage, nicht plausibel und daher nicht nachvollziehbar und nicht glaubhaft. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei schwammig und oberflächlich. Es schien als hätte der Beschwerdeführer seine Angabe, Afghanistan im Kindesalter verlassen zu haben, dazu verwendet, um Widersprüchen aus dem Weg zu gehen beziehungsweise sich für nicht nachvollziehbare Angaben zu rechtfertigen. Insgesamt habe der Beschwerdeführer lediglich Behauptungen aufgestellt, diese jedoch nicht glaubhaft gemacht. Hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte die belangte Behörde die Auswanderung der Familie des Beschwerdeführers in den Iran als dieser noch im Kindesalter war, den mangelnden familiären Rückhalt in Afghanistan sowie die einer unmenschlichen Behandlung gleichzusetzenden Situation im Falle einer Rückkehr ins Treffen.
Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge wesentlicher Verfahrensmängel und unrichtiger rechtlicher Beurteilung.
Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes, Zl. XXXX , vom 18.02.2013 wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht hinreichend zu entnehmen sei, dass er selbst im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan maßgeblich wahrscheinlich Ziel einer gegen ihn gerichteten asylrelevanten Verfolgungshandlung seitens der Taliban werden würde. Ein derart unsubstantiiertes Vorbringen sei nicht geeignet, den wahrscheinlichen Eintritt eines in seiner Intensität asylrelevanten Eingriffes in die Sphäre des Beschwerdeführers wegen der Angehörigeneigenschaft bzw. wegen einer ihm unterstellten politischen bzw. religiösen Gesinnung darzutun. Aus dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhalt würden sich keinerlei konkrete, stichhaltige Hinweise darauf ergeben, dass eine Gefährdung des Beschwerdeführers in asylrechtlich relevanter Intensität von Seiten der Taliban wahrscheinlich wäre. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers lasse sich nicht ableiten, dass – über das behauptete Interesse der Taliban am Vater des Beschwerdeführers hinaus – ein Interesse an der gesamten Familie des Vaters, insbesondere am Beschwerdeführer, bestanden hätte bzw. aktuell – 10 Jahre nach dem fluchtauslösenden Ereignis – bestehen würde.
Der Beschwerdeführer beantragte regelmäßig eine Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, zuletzt wurde diese mit Bescheid vom 30.12.2024 für weitere zwei Jahre erteilt.
Gegenständliches Verfahren:
Am 06.02.2025 stellte der Beschwerdeführer den zweiten, hier gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und gab im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes an selben Tag zusammengefasst an, dass er die Taliban fürchte. Als Vater einer Tochter wolle er, dass sein Kind die Schule besuche und in weiterer Folge arbeiten gehe.
Darüber hinaus stellte der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung am 06.02.2025 als gesetzlicher Vertreter für seine minderjährige Tochter einen Antrag auf internationalen Schutz. Für sie würden die vom Beschwerdeführer angegebenen Fluchtgründe gelten.
Anlässlich seiner niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt am 04.04.2025 führte der Beschwerdeführer aus, seine Frau „im Jahr 2018 oder 2019“ in Schweden geheiratet zu haben. Einen gemeinsamen Haushalt gebe es erst, seit seine Ehefrau nach Österreich gekommen sei. Nachgefragt, weshalb der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, führte dieser aus, es gebe in Afghanistan keine Sicherheit. Er halte seine alten Fluchtgründe aufrecht. Darüber hinaus führte der Beschwerdeführer an, mit seinem aktuellen Aufenthaltstitel keine Gemeindewohnung zu bekommen, dies sei erst mit dem Status des Asylberechtigten möglich. Im Falle einer Rückkehr, habe er Angst um sein Leben. Er habe das Land im Alter von neun oder zehn Jahren verlassen, kenne Afghanistan nicht und könne wegen der Taliban dort nicht leben.
Mit dem im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 09.02.2025 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Rechtssache zurückgewiesen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht Beschwerde und führte zusammengefasst darin aus, dass ihm im Falle einer Rückkehr eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer unterstellten oppositionellen Gesinnung drohe, da er als verwestlicht wahrgenommener Rückkehrer gelten würde. Der Beschwerdeführer habe fast sein ganzes Leben außerhalb Afghanistans verbracht, kleide sich westlich und könne mit den Gesetzen der Taliban nicht leben. Er denke nicht wie die Taliban und wünsche sich Freiheit für Frauen und Mädchen. Er möchte, dass seine Tochter die Schule besuchen und ein freies Leben führen könne. Der Beschwerdeführer sei darüber hinaus zwar Muslim, jedoch nicht streng religiös, sondern liberal. Er bete nicht regelmäßig und habe zudem auch noch einen Farsi Akzent, durch welchen er in Afghanistan sofort als Fremder auffallen würde.
Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug haben Akten wurden vom Bundesamt mit Schreiben vom 03.07.2025 vorgelegt und sind am 11.07.2025 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Verfahrensgang wird wie unter Pkt. I. beschrieben festgestellt.
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist muslimisch-sunnitischen Glaubens. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer wurde in Mazar-e Sharif, Provinz Balkh, Afghanistan geboren. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan mit seiner Familie im Kindesalter verlassen und bis zu seiner Ausreise nach Europa im Iran gelebt.
Der Beschwerdeführer ist ledig.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer brachte in seinem Folgeantrag kein neues, substantiiertes Fluchtvorbringen vor. Sein Vorbringen, wegen der Tätigkeit des Vaters und des Großvaters für die vormalige Regierung verfolgt zu werden, wurde bereits mit rechtskräftiger Entscheidung des Bundesamtes vom 11.11.2011 für nicht glaubhaft erkannt.
Seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung des Asylgerichtshofes, Zl. XXXX , vom 18.02.2013, sind keine für das gegenständliche Verfahren maßgeblichen Änderungen des Sachverhaltes oder der im Fall anzuwendenden Rechtsvorschriften eingetreten.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 12, Stand: 31.01.2025:
[...] 4. Politische Lage
Letzte Änderung 2025-01-31 16:38
Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.06.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 01.06.2023b). Sie bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem „islamischen Recht und den afghanischen Werten“ regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.08.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.06.2023).
Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. REU 07.09.2021a, VOA 19.08.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 08.09.2021; vgl. DIP04.01.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 01.06.2023b) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.06.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansäßige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 01.06.2023b). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban „Interims“-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.08.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.08.2022; vgl. HRW 04.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.08.2021; vgl. USDOS 12.04.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.09.2021; vgl. Guardian 20.09.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.06.2023).
Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.06.2023). [...] (BBC 07.09.2021).
Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 08.09.2021; vgl. REU 07.09.2021b, Afghan Bios 18.07.2023).
Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 07.09.2021; vgl. REU 07.09.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.02.2021 unterzeichnete (AJ 07.09.2021; vgl. VOA 29.02.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 07.07.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 07.07.2022b; vgl. UNSC o. D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 05.10.2021, UNGA 28.01.2022).
Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o. D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).
Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.08.2022). Diese Dynamik wurde am 23.03.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.08.2022; vgl. RFE/RL 24.03.2022, UNGA 15.06.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von „duellierenden Machtzentren“ zwischen den in Kabul und Kandahar ansäßigen Taliban zu sprechen (USIP 17.08.2022), und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 03.06.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.08.2022).
In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und „die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung“ dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.04.2020; vgl. BAMF 30.06.2023).
Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).
Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 05.05.2023; vgl. VOA 06.05.2023).
Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).
Internationale Anerkennung der Taliban
Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 09.01.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.03.2023; vgl. OI 25.03.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.02.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.02.2023; vgl. KP 23.02.2023). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.02.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 07.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansäßig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 07.12.2023).
Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.01.2024; vgl. REU 13.09.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).
Drogenbekämpfung
Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 06.06.2023).
Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 01.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 06.06.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 06.06.2023).
Am 30.09.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 01.12.2023).
Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 03.01.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 06.06.2023). [...]
5. Sicherheitslage
Letzte Änderung 2025-01-31 16:37
[Anmerkung: In diesem Kapitel werden aufbereitete Daten von verschiedenen Quellen dargestellt. Aufgrund der unterschiedlichen Methodologien bzw. Definitionen können die Daten voneinander abweichen. Für weitere Informationen sei auf das Kapitel „Länderspezifische Anmerkungen“ verwiesen.]
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (AI 24.04.2024; vgl. UNAMA 27.06.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.01.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und Amnesty International (AI) haben jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern (AI 24.04.2024; vgl. UNAMA 27.06.2023) durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.06.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgendermaßen:
19.08.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.01.2022)
01.01.2022 - 21.05.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.06.2022)
22.05.2022 - 16.08.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.09.2022)
17.08.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 07.12.2022)
14.11.2022 - 31.01.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.02.2023)
01.02.2023 - 20.05.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.06.2023)
20.05.2023 - 31.07.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.09.2023)
01.08.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 01.12.2023)
01.11.2023 - 10.01.2023: 1.508 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 38 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.02.2024)
01.02.2024 - 13.05.2024: 2.505 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 55 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 13.06.2024)
14.05.2024 - 31.07.2024: 2.127 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 09.09.2024) [...]
Wie den oben aufgeführten Daten von ACLED (ACLED 13.01.2025) und den Vereinten Nationen zu entnehmen ist, sind die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2024 angestiegen. Dies hängt laut den Vereinten Nationen vor allem mit vermehrten Zwischenfällen im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024) und Grundstückstreitigkeiten zusammen (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024) und war zum Teil auf die Bemühungen der Taliban-Behörden zurückzuführen, das Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen (UNGA 13.06.2024). [...]
Auch die vom Uppsala Conflict Data Program (UCDP) erfassten Vorfälle zeigen dieses Bild. Mit Beginn des Jahres 2022 gehen die sicherheitsrelevanten Vorfälle deutlich zurück. In der ersten Jahreshälfte 2024 ist jedoch wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Bei jenen sicherheitsrelevanten Vorfällen, die den ISKP betreffen, erkennt man einen Rückgang im Laufe der letzten Jahre, wobei auch hier ein leichter Anstieg in der ersten Jahreshälfte 2024 zu erkennen ist (UCDP09.12.2024). [Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen verwiesen]:
Laut Angaben der Vereinten Nationen hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022). Im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 07.12.2022; vgl. UNGA 27.02.2023) und in 2023 nahmen diese Aktivitäten jedoch wieder ab (UNGA 20.06.2023; vgl. UNGA 18.09.2023, UNGA 01.12.2023). Ein Trend, der sich auch 2024 fortsetzt (UNGA 28.02.2024). Ziele der Gruppierung sind die schiitischen Hazara (AI 24.04.2024; vgl. UNAMA 22.01.2024,UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024), ausländische Staatsbürger (UNGA 09.09.2024) sowie Mitglieder der Taliban (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024). Die Taliban führen weiterhin Operationen gegen den ISKP durch (UNGA 13.06.2024), unter anderem in Nangarhar (UNGA 09.09.2024).
Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.02.2023; vgl. UNGA 20.06.2023, UNGA 18.09.2023). Dieser Trend setzt sich auch im Jahre 2024 fort. Nach dem Dafürhalten der Vereinten Nationen stellt die bewaffnete Opposition mit 2024 weiterhin keine nennenswerte Herausforderung für die territoriale Kontrolle der Taliban dar (UNGA 09.09.2024; vgl. UNGA 13.06.2024, UNGA 28.02.2024). Die Nationale Widerstandsfront und die Afghanische Freiheitsfront gehen mit einer „Hit-and-Run“-Taktik gegen die Taliban-Sicherheitskräfte vor, greifen deren Posten und Fahrzeuge an und verübten Hinterhalte und gezielte Tötungen (UNGA 09.09.2024).
Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.02.2024).
In einem Interview, durchgeführt von EUAA in Kooperation mit dem schwedischen Migrationsamt (Migrationsverket), der Staatendokumentation und Landinfo, gab ein afghanischer Forscher befragt zur Sicherheitslage an, dass die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Afghanistan zurückgegangen ist. Es gibt, seiner Einschätzung nach, keine Region in Afghanistan, in welcher oppositionelle Gruppen offen die Kontrolle haben. In Provinzen wie Panjsher, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar, in denen es in der Vergangenheit zu Kämpfen zwischen den Taliban und verschiedenen Gruppierungen gekommen ist, verlief der Verkehr normal, und Einheimische in der Region erzählten dem Forscher, dass es keine Zwischenfälle geben würde. Betreffend die Kapazitäten des NRF hatte er nur wenig Informationen, er schreibt dem ISKP jedoch zumindest die Möglichkeit operativer Aktivitäten zu, wobei er anfügt, dass die Taliban immer effizienter bei der Aushebung von ISKP-Zellen zu werden scheinen. Dies zeigt sich in einer entspannteren Sicherheitslage in beispielsweise Kabul und Herat. Der Forscher schließt daraus, dass weder der ISKP noch andere Gruppierungen aktuell wirklich ein Problem für die Taliban sind (VQ AFGH 03 01.10.2024).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind, und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).
Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt, diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023). [...]
5.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle und zivile Opfer nach Provinzen (25.11.2023 - 25.11.2024)
Letzte Änderung 2025-01-31 16:37
[...] erstellt vom Projekt-OSIF der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED (ACLED 13.01.2025) und UCDP (UCDP 09.12.2024). Laut den von ACLED erfassten Daten fanden in allen drei angeführten Bereichen die meisten der Vorfälle in Ost-Afghanistan statt, wobei hier vor allem in Kabul ein Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle stattfand (ACLED 13.01.2025).
Im Zeitraum zwischen 25.11.2023 und 25.11.2024 gab es die meisten zivilen Opfer (mehr als 60 %), gemäß UCDP, in Nord-Afghanistan. Ca. ein Viertel (100) gab es in Ost-Afghanistan. 30 Todesopfer gab es in Zentralafghanistan, 17 in West-Afghanistan und 2 in Süd-Afghanistan. Auf Provinzebene gab es die meisten Todesopfer in Badakhshan (168), gefolgt von Kabul (56) und Baghlan (44) (UCDP 09.12.2024).
[Anmerkung: Für weitere Informationen zu Datenerfassung und Methodologie von ACLED und UCDP sei auf die entsprechende Passage im Kapitel „Länderspezifische Anmerkungen“ verwiesen] [...]
Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung 2025-01-14 16:00
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.06.2023; vgl. USDOS 20.03.2023a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021b; vgl. DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vgl. NYT 29.08.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (kann 18.10.2023).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vgl. BBC 20.08.2021b, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anmerkung: jetzt X] verbreitet wurden, und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (kann 18.10.2023).
Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 05.09.2023; vgl. VOA 25.09.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.09.2023; vgl. RFE/RL 01.09.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 01.09.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 01.09.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 01.09.2023). [...]
6. Zentrale Akteure
6.1. Taliban
Letzte Änderung 2025-01-31 16:38
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.08.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 20.03.2023a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USDOS 20.03.2023a; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).
Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vgl. PJIA/Rehman 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. CFR 17.08.2022, PJIA/Rehman 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).
Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o. D.c; vgl. FR24 21.08.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o. D.c; vgl. ASP 01.09.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o. D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und „sunnitisch-islamische Deobandi“-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).
Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o. D.c, vgl. VOA 04.08.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vgl. UNSC o. D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.08.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.08.2021).
Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.05.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.08.2022; vgl. DT 07.05.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.05.2022). [...]
6.2. Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / politische Opposition
Letzte Änderung 2024-04-05 15:37
Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 26.06.2023; vgl. TN 16.08.2023, FH 09.03.2023). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland (AA 26.06.2023). Der Kampf gegen die Taliban ist unter ehemaligen afghanischen Amtsträgern zu einem umstrittenen Thema geworden, auch wenn die politische Opposition gegen das Machtmonopol der Taliban und ihre extremistische Politik stärker geworden ist (VOA 06.12.2023). Auch wenn die politische Opposition im Ausland als zersplittert gilt, wurde diese jedoch aktiver und fordert die Taliban in innen- und außenpolitischen Fragen heraus (UNGA 01.12.2023). Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 26.06.2023). Karzai und auch der andere ehemalige Präsident, Ashraf Ghani, haben sich beide gegen einen Sturz der Taliban durch Krieg ausgesprochen und plädieren stattdessen für eine friedliche Lösung (VOA 06.12.2023). Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 26.06.2023). Abdul Hakim Sharai, amtierender Justizminister der Taliban, untersagte am 16.08.2023 auf einer Pressekonferenz jegliche politische Betätigung von Parteien im Land. Er sagte, dass die Existenz politischer Parteien im Land weder auf der Scharia basiere, noch für die Nation von Vorteil sei (BAMF 31.12.2023; vgl. TN 16.08.2023).
In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen (EUAA 12.2023). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (EUAA 12.2023; vgl. FP 14.12.2023, VOA 28.04.2022). Obwohl das Taliban-Regime international geächtet und für seine frauenfeindliche Politik verurteilt wird, hat bisher kein Land die Unterstützung für einen Krieg gegen die Taliban angeboten, und auch die Vereinigten Staaten, die die Taliban 20 Jahre lang bekämpft haben, haben davon abgesehen, die Anti-Taliban-Aufständischen zu unterstützen. Die Taliban haben den bewaffneten Aufstand heruntergespielt (VOA 06.12.2023), und auch internationale Experten gehen nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (EUAA 12.2023; vgl. AA 26.06.2023, UNGA 01.12.2023). Ein Experte gab an, dass die Aufständischen zumindest in naher Zukunft nicht über genügend Kräfte verfügen, um die Taliban zu stürzen, aber sie scheinen das islamistische Regime vor politische und ordnungspolitische Herausforderungen zu stellen. Auch haben viele Länder, obwohl sie keine der Kriegsparteien in Afghanistan unterstützen, die Anführer der aufständischen Anti-Taliban-Gruppen und andere afghanische Politiker, die gegen die Taliban sind, eingeladen. Die Taliban haben öffentlich ihre Frustration gegenüber Ländern geäußert, die ihre Gegner empfangen, während die meisten Taliban-Führer aufgrund von Sanktionen der Vereinten Nationen nicht reisen können (VOA 06.12.2023).
Im Jahr 2023 ging die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition und der bewaffneten Zusammenstöße mit den Taliban-Behörden im Vergleich zum Vorjahr zurück (UNGA 01.12.2023; vgl. UNGA 20.06.2023). UNAMA verzeichnete Angriffe, zu denen sich die drei wichtigsten in Afghanistan tätigen bewaffneten Widerstandsgruppen bekannten. Die National Resistance Front (NRF), die Afghanistan Freedom Front (AFF) und das Afghanistan Liberation Movement (ALM) übernahmen die Verantwortung für Angriffe in acht Provinzen. Die Sicherheitskräfte, die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehen, führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch (UNGA 20.06.2023). [...]
In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 operierten die vorgenannten Gruppen in den Provinzen Badakhshan, Balkh, Helmand, Jawzjan, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan, Parwan, Samangan und Takhar. Bis September führten sie Operationen in fünf weiteren Provinzen durch (Baghlan, Ghazni, Kunduz, Laghman und Paktika). Die Zahl der Angriffe stieg von 23 (Jänner-März) auf 57 (Juni-August). Obwohl die militärischen Fähigkeiten dieser Gruppen insgesamt unklar sind, haben die Taliban immer wieder signalisiert, dass sie die von ihnen ausgehende Bedrohung ernst nehmen, indem sie eine große Zahl von Truppen und Militärführern in den nördlichen Provinzen stationiert haben (ACAPS 01.10.2023).
Die AFF war im dritten Quartal 2023 die aktivste Gruppe, auch wenn ihre Angriffe weiterhin von geringem Umfang waren, während die NRF deutlich weniger aktiv war als 2022 und in ihrer traditionellen Hochburg Panjsher keine Angriffe verübte (UNGA 01.12.2023). [...]
19. Ethnische Gruppen
Letzte Änderung 2025-01-14 15:59
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vgl. CIA 01.02.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 01.02.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).
Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.06.2023).
Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.03.2023a).
Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.06.2023).
Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.06.2023). [...]
19.2. Tadschiken
Letzte Änderung 2024-03-28 12:44
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus (MRG 05.02.2021b; vgl. AA 26.06.2023). Sie üben einen bedeutenden politischen Einfluss in Afghanistan aus und stellen den Großteil der afghanischen Elite, die über ein beträchtliches Vermögen innerhalb der Gemeinschaft verfügt. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badakhshan im Nordosten siedelten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG 05.02.2021b).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG 05.02.2021b). Heute werden unter dem Terminus tājik - „Tadschike“ - fast alle Dari/Persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016). [...]
20 Relevante Bevölkerungsgruppen [...]
20.3 Mitglieder der ehemaligen Regierung / Streitkräfte / ausländischer Organisationen
Letzte Änderung 2024-03-29 09:57
Die Taliban haben offiziell eine „Generalamnestie“ für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt (AA 26.06.2023; vgl. UNAMA 22.08.2023). Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, Emir Haibatullah Akhundzada, haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen (AA 26.06.2023; vgl. UNAMA 22.08.2023). Berichte über Verstöße gegen diese Amnestie wurden von den Taliban-Behörden zurückgewiesen und erklärt, dass diese Verstöße auf „persönlicher Feindschaft oder Rache“ beruhten und nicht auf einer offiziellen Anweisung zu solchen Handlungen (UNAMA 22.08.2023). Außerhalb offizieller Kommunikation jedoch verbreiten Taliban-Offizielle bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren, u. a. in den sozialen Medien, das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitglieder bzw. -angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräter am Islam und an Afghanistan sind (AA 26.06.2023). Es wird berichtet, dass sich die Kampagnen der Taliban auch gegen die Familienmitglieder ehemaliger Militär- und Polizeikräfte richten (kann 18.10.2023).
Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte, oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen, bislang nicht nachgewiesen werden konnten (AA 26.06.2023), berichten Menschenrechtsorganisationen allerdings über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.01.2023). Diese Fälle lassen sich zumindest teilweise eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet wurden, ist nicht zu verifizieren. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt (AA 26.06.2023).
Im März 2022 gründeten die Taliban die Kommission für die Verbindungsaufnahme und Rückführung afghanischer Persönlichkeiten (kann 18.10.2023; vgl. SIGAR 2.2023), um mit hochrangigen ehemaligen Beamten und Spitzenmilitärs über ihre Rückkehr ins Land zu verhandeln und ihnen Sicherheit und Schutz zu versprechen. Die Rückkehrer erhalten „Immunitätskarten“, um sicherzustellen, dass sie nicht aufgrund ihrer früheren Tätigkeit inhaftiert werden. Einige müssen sich die Karten nach ihrer Rückkehr besorgen, was sich als äußerst schwierig erweist, da die Taliban keine speziellen Registrierungszentren bekannt gegeben haben und der Zugang zur Kommission nach wie vor schwierig ist. Die Kommission wird von Shahabuddin Delawar, dem Taliban-Minister für Bergbau und Erdöl, geleitet und umfasst sechs weitere hochrangige Taliban-Mitglieder aus Militär und Geheimdienst (kann 18.10.2023; vgl. TN 17.03.2022). Seit ihrer Gründung ist es der Kommission gelungen, eine Reihe ehemaliger Beamter, darunter hochrangige Militär- und Polizeibeamte, zur Rückkehr in das Land zu bewegen. Während einige von ihnen der Rückkehr zugestimmt haben, haben viele aus Angst vor den „falschen Versprechungen“ der Taliban beschlossen, nicht zurückzukehren. Die Taliban haben sich jedoch jeden prominenten Rückkehrer zunutze gemacht, indem sie ihn auf dem Flughafen von Kabul gefilmt und die Videos dann in den sozialen Medien als Werbematerial verbreitet haben. Die meisten Rückkehrer werden später zu Taliban-Unterstützern, befürworten ihre Ideologie und fordern weltweite Anerkennung. Manche sehen diese Rückkehr als eine Treueerklärung an die Taliban. Einige Mitglieder der ehemaligen Streitkräfte, die nach Versprechungen der Taliban nach Afghanistan zurückgekehrt waren, gaben an, wie Feinde behandelt worden zu sein, und dass ihre persönlichen Daten über Social-Media verbreitet wurden. Während einer angab, dass er kurzfristig verhaftet und verhört und sein Haus im Anschluss mehrfach von den Taliban durchsucht wurde, gab ein anderer Rückkehrer an, dass er zusätzlich einen Taliban-Beamten mit 50.000 AFN bestechen musste, um eine „Immunitätskarte“ zu erhalten. Zusätzlich mussten Rückkehrer einen Treueid auf die Taliban leisten (kann 18.10.2023).
Die Vereinten Nationen (VN) (UNAMA 22.01.2023), Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (HRW 11.01.2024) sowie Medien (Afintl 03.02.2024; vgl. RFE/RL 13.11.2023, KaN 18.10.2023, 8am 23.07.2023) berichten von Entführungen und Ermordungen von ehemaligen Regierungs- und Sicherheitskräften seit August 2021 (AA 26.06.2023; vgl. ACLE 11.08.2023). Täter können davon ausgehen, dass auch persönlich motivierte Taten gegen diesen Personenkreis nicht geahndet werden (AA 26.06.2023).
Für den Zeitraum vom 16.08.2021 - 30.05.2023 verzeichnet ACLED über 400 Gewalttaten gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, von denen 290 von den Taliban verübt wurden […] Bei vielen Angriffen, die von nicht identifizierten Angreifern verübt wurden, haben lokale Quellen oder Familien der Opfer die Taliban beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein (ACLED 11.08.2023). [...]
UNAMA dokumentiert für denselben Zeitraum (15.08.2021 - 30.06.2023) sogar mindestens 800 Menschrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, darunter außergerichtliche Tötungen, gewaltsames Verschwinden, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen sowie Drohungen (UNAMA 22.08.2023). [...]
Nach Angaben von UNAMA sind ehemalige Angehörige der afghanischen Nationalarmee am stärksten von Menschenrechtsverletzungen bedroht, gefolgt von der Polizei (sowohl der afghanischen Nationalpolizei (ANP) als auch der afghanischen Lokalpolizei (ALP)) und Beamten der National Directorate of Security (NDS). Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungsbeamte und Angehörige der ANDSF wurden in allen 34 Provinzen registriert, wobei die meisten Verletzungen in den Provinzen Kabul, Kandahar und Balkh verzeichnet wurden. Die oben genannten Gruppen sind zwar in allen Provinzen gefährdet, doch scheint es in einigen Gegenden zu einer verstärkten gezielten Gewalt zu kommen. So dokumentierte UNAMA mindestens 33 Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige ANP-Mitglieder in Kandahar (mehr als ein Viertel aller Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige ANP-Mitglieder im ganzen Land) und mindestens elf Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Khost gegen ehemalige Mitglieder der Khost Protection Force (KPF), darunter außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen sowie Folter und Misshandlungen (UNAMA 22.08.2023).
Für die meisten der von UNAMA berichteten Verstöße liegen nur begrenzte Informationen über die Maßnahmen vor, die von den Taliban-Behörden ergriffen wurden, um die Vorfälle zu untersuchen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. In einigen Fällen hat UNAMA Berichte erhalten, dass die mutmaßlichen Täter von Vorfällen, die sich gegen ehemalige Regierungsbeamte und ANDSF-Mitglieder richteten, festgenommen wurden. Die Taliban-Behörden haben auch öffentlich ihre Absicht angekündigt, bestimmte Vorfälle zu untersuchen (UNAMA 22.08.2023). [...]
20.4. Personen denen vorgeworfen wird, von westlichen Werten beeinflusst zu sein
Letzte Änderung 2024-04-09 06:30
Berichten zufolge haben die Taliban das Ziel, die afghanische Gesellschaft zu „reinigen“ (vgl. WP 18.02.2023) und „ausländischen“ Einfluss aus Afghanistan zu vertreiben (CTC Sentinel 09.08.2022). Die afghanische Gesellschaft soll von allem „gesäubert“ werden, was die Taliban als „westliche“ Werte ansehen, einschließlich Bildung für Mädchen, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit für Frauen sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit (JS 20.04.2023).
Während einer vom Dänischen Flüchtlingsrat (DRC) am 28.11.2022 organisierten Konferenz gab Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, an, dass diejenigen, die nach 2021 ausgereist sind, von den Taliban oft als „Verräter“ angesehen werden. Einzelne Taliban-Mitglieder erklären in weitverbreiteten Videoaufnahmen, dass es eine Sünde sei, Afghanistan zu verlassen, und diejenigen, die gehen, werden als Sünder bezeichnen. Darüber hinaus erklärte Dr. Schuster, dass die Taliban Profile in den sozialen Medien kontrollieren und Personen deshalb der moralischen Korruption bezichtigt wurden. Familienangehörige von Ausgereisten wurden laut Dr. Schuster auch von Taliban-Beamten und Nachbarn schikaniert, unter anderem durch Vertreibungen und aggressive Verhöre (DRC 28.11.2022; vgl. EUAA 12.2023).
So haben sie in einigen Gegenden Anweisungen gegen das Kürzen von Bärten erlassen und Männern geraten, keine westliche Kleidung zu tragen (RFE/RL 17.06.2022). Obwohl keine allgemeine Kleiderordnung für Männer erlassen wurde (India Today 28.07.2023; vgl. EUAA 12.2023), finden sich auf Social Media Angaben von jungen afghanischen Männern, die von Taliban-Kämpfern geschlagen wurden, weil sie „westliche“ Kleidung wie Jeans trugen (WION 27.07.2023). Auch wurde Regierungsangestellten angeordnet, sich einen Bart wachsen zu lassen und eine Kopfbedeckung zu tragen. Es wurde berichtet, dass in bestimmten Fällen gegen jene vorgegangen wurde, die sich nicht an diese Anordnungen gehalten haben (Afintl 01.03.2024; vgl. REU 28.03.2022). Ein Taliban-Beamter rief dazu auf, die Krawatte nicht mehr zu tragen, da sie ein Symbol für das christliche Kreuz sei (BAMF 31.12.2023; vgl. AT 26.07.2023), wobei die Taliban bereits im Jahr 2022 Studenten und Lehrende dazu aufriefen, keine Krawatten zu tragen (TN 15.04.2022).
Im Februar 2024 hielt ein hochrangiger Taliban Medienschaffende in Afghanistan dazu an, auf das Rasieren von Bärten und das Fotografieren zu verzichten. Er sagte weiter, dass der Bartwuchs im Islam obligatorisch sei und dass es eine große Sünde sei, ihn zu rasieren (kann 21.02.2024; vgl. KP 21.02.2024). Zuvor hatte der Gouverneur der Taliban in Kandahar kürzlich eine schriftliche Anweisung an alle Institutionen und Behörden der Taliban in dieser Provinz herausgegeben, die das Fotografieren von formellen und informellen Treffen und Zeremonien verbietet (KP 21.02.2024; vgl. WION 19.02.2024). Im März 2024 gab ein Sprecher des Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern an, dass „dünne Kleidung“ im Widerspruch zur Scharia und der afghanischen Kultur stehen würde, und forderte Händler auf, auf die Einfuhr solcher Kleidung zu verzichten (Afintl 01.03.2024).
Es gibt jedoch auch Berichte über Menschen, die in Kabul in bestimmten Teilen der Stadt T-Shirts und westliche Kleidung mit US-Motiven trugen (NYT 29.06.2023; vgl. SIGA 25.07.2023). Es wird auch darauf hingewiesen, dass man sich in Afghanistan praktisch alles kaufen kann, wenn man das Geld dazu hat (SIGA 25.07.2023). Außerdem berichtete die New York Times über Fast-Food-Restaurants und Bodybuilding-Fitnessstudios, die es in Kabul-Stadt gibt. Die Autoren erklären sich diese Dissonanz damit, dass in Kabul gemäßigtere Beamte tätig sind als in der Kernzone der Taliban in Kandahar (NYT 29.06.2023).
Während einigen Quellen zufolge Musik in Afghanistan verboten ist (KP 06.02.2024; vgl. UNGA 09.09.2022), berichten andere, dass das Spielen von Musik in der Öffentlichkeit verboten sei (BBC 31.07.2023) und dass Taliban Veranstaltungen, bei denen Musik gespielt wird, unterbrechen und Menschen wegen des Spielens von Musik verhaften (RukhshAnA 22.07.2022; vgl. KP 06.02.2024), während in einigen Lokalen in Kabul weiterhin Musik gespielt wird (SIGA 25.07.2023; vgl. NYT 29.06.2023). In Kandahar wurde durch das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern das Spielen und Hören von Musik in der ganzen Stadt verboten (8am 27.06.2023), und in Kabul forderten die Taliban Besitzer von Hochzeitssälen auf, keine Musik zu spielen (RFE/RL 12.06.2023). Berichten zufolge konfiszieren Taliban Musikinstrumente und verbrennen sie öffentlich (DW 31.07.2023; vgl. RFE/RL 18.08.2023) und gehen auch gegen Personen vor, die Musik in Privatfahrzeugen oder auf Telefonen abspielen (Afintl 31.07.2023). [...]
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zum unter Pkt. I dargestellten Verfahrensgang sowie dem aufrechten subsidiären Schutzstatus basieren auf den verwaltungsbehördlichen Akten des Bundesamtes sowie des Asylgerichtshofes zum vorigen und gegenständlichen Asylverfahren, sowie dem Bescheid des Bundesamtes Zl. XXXX und dem gegenständlichen Gerichtsakt. Zudem wurde Einsicht in das zentrale Melderegister, das Strafregister, das zentrale Fremdenregister sowie die Grundversorgungsdatenbank genommen.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität (Name und Geburtsdatum), Staatsangehörigkeit sowie zur Volksgruppen.- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers wie auch seinen Sprachkenntnissen und seiner Ausreise aus Afghanistan im Kindesalter sowie dem Aufenthalt der Familie im Iran beruhen auf seinen diesbezüglich gleichbleibenden Angaben, diese wurden bereits der vorangegangenen Entscheidung des Bundesamtes sowie des Asylgerichtshofes zugrunde gelegt.
Hinsichtlich der Feststellung zum Familienstand des Beschwerdeführers ist festzuhalten, dass dieser zwar im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesamt vom 04.04.2025 angab verheiratet zu sein, er jedoch diesbezüglich keinerlei Belege vorgelegt hat. Weder im Verfahren vor der belangten Behörde, noch mit der Beschwerde wurden Unterlagen, weder von schwedischen noch von österreichischen Behörden, betreffend die Eheschließung vorgelegt.
Darüber hinaus ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt befragt nach Änderungen seiner persönlichen Daten ausführte, dass sein Vater verstorben sei und er selbst geheiratet habe. Nachgefragt, wann er geheiratet habe, gab der Beschwerdeführer an: „Ich habe meine Frau in Schweden geheiratet. Es war eine traditionelle Eheschließung in einer Moschee, das war 2018 oder 2019.“ und weiter, dass er seine Frau über Facebook kennengelernt habe (S. 3 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2025). An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es dem Beschwerdeführer wohl zumutbar wäre, zumindest das Jahr seiner Eheschließung wiedergeben zu können. Über die von der Behörde konkret nachgefragten Angaben hinaus, führte der Beschwerdeführer keinerlei Details betreffend eine vermeintliche traditionelle Eheschließung aus. Auch im Beschwerdeschriftsatz blieb die vermeintliche Ehefrau des Beschwerdeführers sowie deren vermeintliche Eheschließung in Schweden gänzlich unerwähnt.
Schließlich ist festzuhalten, dass nach Einsicht in das zentrale Melderegister der Beschwerdeführer sowie seine vermeintliche Ehefrau dort nach wie vor als „ledig“ geführt werden. Mangels Vorlage von entsprechenden Unterlagen beziehungsweise einer Registrierung der Ehe in Österreich, war der Bestand einer aufrechten Ehe daher nicht feststellbar und gilt der Beschwerdeführer sohin nach wie vor als ledig.
Abschließend ist festzuhalten, dass der vermeintlichen Ehefrau des Beschwerdeführers mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.04.2025, Zl. XXXX , der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde. Darüber hinaus wurde auch der Tochter der vorgeblichen Ehefrau des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 09.04.2025, Zl XXXX , der Status der Asylberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens zuerkannt.
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer begründete seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 27.04.2011 in der Erstbefragung damit, dass er vor ungefähr acht Jahren mit seinen Eltern sowie seinem Großvater in den Iran gegangen wäre, zumal sein Vater als LKW-Fahrer Probleme mit den Taliban gehabt habe. In der Einvernahme vor dem Bundesamt führte der Beschwerdeführer hingegen aus, sein Vater sowie sein Großvater hätten bei „der Behörde“ gearbeitet, bei welcher, wisse er jedoch nicht. Sein Vater sei LKW-Fahrer gewesen und von den Taliban belästigt worden. Die Familie sei daraufhin in den Iran gegangen, doch habe auch dort Probleme gehabt. Bei einer weiteren Einvernahme gab er an, sein Vater sei Chauffeur der Regierungsleute gewesen. Die Taliban hätten ihn aufgehalten, die Herausgabe des Regierungsautos gefordert und den Vater des Beschwerdeführers, nachdem dieser eine Herausgabe des Autos verweigert habe, da dies der Regierung gehört habe, geschlagen. Schließlich hätten die Taliban ihm das Auto weggenommen und die Familie habe Afghanistan verlassen müssen. Sein Großvater habe aufgrund der Befürchtung, ihm könne Ähnliches passieren, ebenso Afghanistan verlassen müssen. Dieser Antrag des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.11.2011 in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. In der gegen Spruchpunkt I. des Bescheides fristgerecht erhobenen Beschwerde brachte der Beschwerdeführer die Verletzung von Verfahrensvorschriften und mangelhafte Beweiswürdigung vor. Diese wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes, Zl. XXXX , vom 18.02.2013 und zusammengefasst begründend ausgeführt, dass sich aus dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhalt keinerlei konkrete, stichhaltige Hinweise darauf ergeben würden, dass eine Gefährdung des Beschwerdeführers selbst in asylrechtlich relevanter Intensität von Seiten der Taliban wahrscheinlich wäre. Auch eine Verfolgung beziehungsweise ein Interesse der Taliban an der Familie des Beschwerdeführers ließe sich aus seinem unsubstantiierten Vorbringen nicht ableiten.
Dass der Beschwerdeführer Afghanistan mit seiner Familie bereits im Kindesalter (ungefähr im Jahr 2003) verlassen hat, beruht auf der rechtskräftigen Vorentscheidung.
Wie schon das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zutreffend ausführt, brachte der Beschwerdeführer im nunmehrigen Verfahren vor, seine bisherigen Fluchtgründe wie im Verfahren über seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz vorgebracht, aufrecht zu halten. Er gab darüber hinaus an, es gäbe in Afghanistan keine Sicherheit sowie, dass er mit seinem derzeitigen Aufenthaltsstatus keine Wohnung von der Gemeinde bekommen würde (vgl. S. 4 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2025). Das Fluchtvorbringen einer Verfolgung aufgrund der Beschäftigung seines Vaters sowie seines Großvaters wurde jedoch bereits im ersten Verfahren rechtskräftig als nicht geeignet befunden, eine maßgeblich wahrscheinliche Verfolgung asylrechtlich relevanter Intensität darzutun.
Im Zuge der Beschwerde wurde ergänzend vorgebracht, dass sich einerseits die Lage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban und dem Sturz der ehemaligen Regierung wesentlich geändert habe sowie andererseits, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung als verwestlich wahrgenommener Rückkehrer aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung drohen würde (S. 2 Beschwerdeschriftsatz).
Dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan allein aufgrund seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines Lebens in Europa bzw. in Österreich Gefahr im Zusammenhang mit einer ihm unterstellten „Verwestlichung“ drohen würde, ist überdies unter Beachtung der Situation im Herkunftsstaat und seiner individuellen Umstände nicht ersichtlich.
Zusammengefasst lässt sich aus den vorliegenden Länderberichten nicht ableiten, dass alleine eine „westliche“ Geisteshaltung bei männlichen Afghanen bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Bedrohung auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht.
Dem Beschwerdeführer ist es zudem nicht gelungen, konkret und nachvollziehbar glaubhaft zu machen, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan seinen westlichen Lebensstil so ausleben würde, dass er aufgrund dessen in den Fokus anderer Afghanen oder der Taliban geraten würde. Der Beschwerdeführer konnte keine konkreten Umstände vorlegen, die ein besonderes Bedrohungsrisiko auf Grund einer „Verwestlichung“ begründen könnten. In der Beschwerde wurde lediglich oberflächlich ausgeführt, dass der Beschwerdeführer „die Freiheit in Österreich liebe“, sowie es gewohnt sei, Frauen die Hand zu geben. Darüber hinaus höre er gerne Musik, ohne diesbezüglich weitere Details auszuführen. Mit diesen schemenhaften und vagen Ausführungen wurde dem Vorbringen einer Verwestlichung nicht genüge getan. Für das Bundesverwaltungsgericht ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sich der Beschwerdeführer vielmehr an die in Afghanistan herrschenden Gegebenheiten und Vorschriften anpassen und seinen westlichen Lebensstil nicht in einer derart nach außen in Erscheinung tretenden Art ausleben würde. Angesichts des Vorbringens im Zusammenhang mit der vermeintlichen Verwestlichung, der Beschwerdeführer trage keinen Bart, ist der Vollständigkeit halber anzumerken, dass dieser noch auf dem Foto vom 06.02.2025, ersichtlich im zentralen Fremdenregister, somit erst vier Monate vor Einbringen der Beschwerde, die mit 04.06.2025 eingebracht wurde, noch mit Bart fotografiert wurde.
Eine auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu prognostizierende, individuelle und konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Bedrohung aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa oder im Zusammenhang mit einer „westlichen Wertehaltung“ kann daraus nicht abgleitet werden.
Zusammenfassend ist daher auszuführen, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vorbringen bezüglich einer nunmehr vorliegenden „westlichen Gesinnung“ keine Umstände dargetan hat, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des gegenständlichen Antrages eine Änderung aufzeigen könnten.
Abschließend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren keine Situation schilderte, die eine gegen ihn persönlich gerichtete drohende Verfolgung bezeichnen würde. Hinsichtlich seiner persönlichen Bedrohungslage machte er durchwegs oberflächliche und vage Angaben und vermochte keinerlei nachvollziehbare Begründung darzulegen, die eine Verfolgung beziehungsweise Bedrohung des Beschwerdeführers selbst durch die Taliban für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen würde.
Zusammengefasst kann dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl daher nicht entgegengetreten werden, wenn es davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren kein neues asylrelevantes Vorbringen erstattet hat, dem ein glaubhafter Kern innewohnt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn die Behörde nicht Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet. Diesem ausdrücklichen Begehren auf Abänderung steht ein Ansuchen gleich, das bezweckt, eine Sache erneut inhaltlich zu behandeln, die bereits rechtskräftig entschieden ist (VwGH 30.09.1994, 94/08/0183; 30.05.1995, 93/08/0207; 09.09.1999, 97/21/0913; 07.06.2000, 99/01/0321).
Der tragende Grundsatz der Beachtung rechtskräftiger Entscheidungen soll in erster Linie die wiederholte Aufrollung einer bereits entschiedenen Sache (ohne nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage) verhindern; die objektive (sachliche) Grenze dieser Wirkung der Rechtskraft wird durch die entschiedene Sache, also durch die Identität der Rechtssache, über die bereits mit einer formell rechtskräftigen Entscheidung abgesprochen wurde, mit der nunmehr vorliegenden (etwa der in einem neuen Antrag intendierten) bestimmt. „Sache“ einer rechtskräftigen Entscheidung ist dabei stets der im Bescheid enthaltene Ausspruch über die verwaltungsrechtliche Angelegenheit, die durch den Bescheid ihre Erledigung gefunden hat, und zwar aufgrund der Sachlage, wie sie in dem von der Behörde angenommenen maßgebenden Sachverhalt zum Ausdruck kommt, und der Rechtslage, auf die sich die Behörde in ihrem Bescheid gestützt hat (VwGH 24.10.2017, Ra 2014/06/0041). Bei der Prüfung der Identität der Sache ist von dem rechtskräftigen Vorbescheid auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit desselben – nochmals – zu überprüfen (VwGH 26.04.1995, 92/07/0197); die Rechtskraftwirkung besteht gerade darin, dass die von der Behörde einmal untersuchte und entschiedene Sache nicht neuerlich untersucht und entschieden werden darf. „Entschiedene Sache“ im Sinne des § 68 Abs. 1 AVG liegt vor, wenn sich gegenüber dem Vorbescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; 27.09.2000, 98/12/0057; 25.04.2002, 2000/07/0235).
Bei einer Überprüfung einer gemäß § 68 Abs. 1 AVG bescheidmäßig abgesprochenen Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz hat es lediglich darauf anzukommen, ob sich die Zurückweisung auf ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage stützen durfte. Dabei hat die Prüfung der Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft auf Grund geänderten Sachverhalts nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ausschließlich anhand jener Gründe zu erfolgen, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens auf neuerliche Entscheidung geltend gemacht worden sind. Derartige Gründe können im Rechtsmittelverfahren nicht neu geltend gemacht werden (siehe etwa VwSlg. 5642A; VwGH 23.05.1995, 94/04/0081; zur Frage der Änderung der Rechtslage während des anhängigen Berufungsverfahrens siehe VwSlg. 12799 A). Allgemein bekannte Tatsachen sind dagegen jedenfalls auch von Amts wegen zu berücksichtigen (VwGH 29.06.2000, 99/01/0400; 07.06.2000, 99/01/0321).
Dem geänderten Sachverhalt muss Entscheidungsrelevanz zukommen (vgl. VwGH 15.12.1992, 91/08/0166; ebenso VwGH 16.12.1992, 92/12/0127; 23.11.1993, 91/04/0205; 26.04.1994, 93/08/0212; 30.01.1995, 94/10/0162). Die Verpflichtung der Behörde zu einer neuen Sachentscheidung wird nur durch eine solche Änderung des Sachverhalts bewirkt, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die Abweisung des Parteienbegehrens gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann (VwSlg. 7762 A; VwGH 29.11.1983, 83/07/0274; 21.02.1991, 90/09/0162; 10.06.1991, 89/10/0078; 04.08.1992, 88/12/0169; 18.03.1994, 94/12/0034; siehe auch VwSlg. 12.511 A, VwGH 05.05.1960, 1202/58; 03.12.1990, 90/19/0072). Dabei muss die neue Sachentscheidung – obgleich auch diese Möglichkeit besteht – nicht zu einem anderen von der seinerzeitigen Entscheidung abweichenden Ergebnis führen. Die behauptete Sachverhaltsänderung hat zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufzuweisen, dem Asylrelevanz zukommt (VwGH 21.03.2006, 2006/01/0028, sowie VwGH 18.06.2014, Ra 2014/01/0029, mwN). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid nach § 68 AVG ist von der "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG nicht umfasst und daher unbeachtlich (VwGH vom 24.6.2014, Ra 2014/19/0018, mwN).
Als Vergleichsbescheid (Vergleichserkenntnis) ist der Bescheid (das Erkenntnis) heranzuziehen, mit dem zuletzt in der Sache entschieden wurde (vgl. in Bezug auf mehrere Folgeanträge VwGH 26.07.2005, 2005/20/0226, mwN). Dem neuen Tatsachenvorbringen muss eine Sachverhaltsänderung zu entnehmen sein, die - falls feststellbar - zu einem anderen Ergebnis als im ersten Verfahren führen kann, wobei die behauptete Sachverhaltsänderung zumindest einen glaubhaften Kern aufweisen muss, dem Asylrelevanz zukommt und an den die oben erwähnte positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann (vgl. VwGH 04.11.2004, 2002/20/0391, mwN). Die Behörde hat sich insoweit bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit des (neuerlichen) Asylantrages mit der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF (und gegebenenfalls mit der Beweiskraft von Urkunden) auseinander zu setzen. Ergeben die Ermittlungen der Behörde, dass eine Sachverhaltsänderung, die eine andere Beurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen ließe, entgegen den Behauptungen der Partei in Wahrheit nicht eingetreten ist, so ist der Asylantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen. (VwGH 21.10.1999, 98/20/0467; vgl. auch VwGH 17.09.2008, 2008/23/0684; 19.02.2009, 2008/01/0344).
Wird die seinerzeitige Verfolgungsbehauptung aufrechterhalten und bezieht sich der Asylwerber auf sie, so liegt nicht ein wesentlich geänderter Sachverhalt vor, sondern es wird der Sachverhalt bekräftigt (bzw. sein "Fortbestehen und Weiterwirken" behauptet; vgl. VwGH 20.03.2003, 99/20/0480), über den bereits rechtskräftig abgesprochen worden ist. Mit einem solchen Asylantrag wird daher im Ergebnis die erneute sachliche Behandlung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache bezweckt (vgl. VwGH 07.06.2000, 99/01/0321).
Auf die rezente Judikatur des VwGH vom 05.03.2025, Ra 2025/20/0050-7 Rz. 11 wird verwiesen, in der festgehalten wird, dass bei Folgeanträgen die Einschränkung des § 19 Abs. 1 zweiter Satz AsylG 2005, demgemäß die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, nicht gilt, wenn es sich - wie vorliegend - um einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 leg. cit.) handelt (§ 19 Abs. 1 dritter Satz AsylG 2005).
Eine Zurückweisung wegen entschiedener Sache ist auch statthaft, wenn zwar neue Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, die Änderungen aber lediglich Umstände betreffen, die von vornherein zu keiner anderen Entscheidung in Bezug auf die Frage der Zuerkennung eines Schutzstatus führen können. Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt hat nämlich in diesen Konstellationen keine Änderung erfahren (vgl. VwGH 29.11.2021, Ra 2020/19/0412).
Wie im Ermittlungsergebnis und in der Beweiswürdigung dargelegt, brachte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Asylverfahren keine neuen Fluchtgründe mit glaubhaftem Kern, denen Asylrelevanz zukommen könnte, vor und ist sohin keine Sachverhaltsänderung eingetreten, die zu einer anderen Entscheidung in Bezug auf die Frage der Zuerkennung eines Schutzstatus führen würde.
Die Prüfung der Fluchtgründe war Gegenstand des vorangegangenen abgeschlossenen Rechtsganges. Im Rahmen des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.11.2011 und des Erkenntnisses des Asylgerichtshofes vom 18.02.2013 wurde das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen im Hinblick auf dessen Wahrheits- bzw. Glaubhaftigkeitsgehalt sowie dessen Asylrelevanz untersucht und letztlich abschließend beurteilt.
Wenn der Beschwerdeführer nunmehr eine Verwestlichung vorbringt, so weisen, wie in der Beweiswürdigung dargelegt, diese Angaben keinen glaubhaften Kern auf, der Asylrelevanz entfalten könnte bzw. sind diese nicht geeignet, erheblich zur Wahrscheinlichkeit beizutragen, dass dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden könnte. Es ist somit keine Sachverhaltsänderung eingetreten, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Sachverhaltselementen rechtlich Asylrelevanz entfalten könnte und zu einer anderen Entscheidung führen könnte.
Da sich somit insoweit weder die Sach- noch die Rechtslage seit dem Bescheid des BFA vom 09.04.2025 geändert hat, wies das BFA den Folgeantrag hinsichtlich des Status des Asylberechtigten zu Recht wegen entschiedener Sache zurück.
3.2. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht, sind im gegenständlichen Fall erfüllt. Der entscheidungswesentliche Sachverhalt wurde von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben und ist weiterhin aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht teilt die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung. Auch wird in der Beschwerde kein dem Ermittlungsverfahren entgegenstehender oder darüberhinausgehender Sachverhalt behauptet und ist die Anberaumung einer Verhandlung auch nicht zur Klärung einer Rechtsfrage notwendig. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht konnte daher trotz des Antrages des Beschwerdeführers unterbleiben.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.