Spruch
W186 2240488-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Judith PUTZER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörige von Somalia, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge: BF) reiste schlepperunterstützt nach Österreich und stellte am 03.11.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag wurde sie vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.
Zu ihren Fluchtgründen gab die BF an, im Jahr 2013 habe sie Herrn Khadar HASAN kennengelernt. Sie hätten heimlich geheiratet und sie sei schwanger geworden. Ihr Bruder sei mit der Ehe nicht einverstanden gewesen und habe sie und ihren Ehemann geschlagen. Daraufhin sei ihr Ehemann aus Somalia geflüchtet. Ihr Schwiegervater habe von einem alten Mann Geld für eine Zwangsheirat bekommen. Dies habe die BF aber nicht gewollt. Daraufhin sei sie vom Schwiegervater geschlagen und eingesperrt worden. Die Mutter der BF habe ihr geholfen, nach Äthiopien zu flüchten, um frei zu sein. Nach drei Jahren in Äthiopien habe die BF dann zu ihrem Ehemann gewollt. Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Schwiegervater sie umbringen würde.
2. Am 02.12.2021 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Befragt zu ihrem Fluchtgrund brachte sie vor, dass sie sich in ihren jetzigen Mann verliebt habe und sie haben heiraten gewollt. Ihre Familien hätten dies abgelehnt, da ihr Mann einem niedrigeren Clan angehöre und eine Heirat nicht möglich wäre. Trotzdem hätten die BF und ihr Mann die Entscheidung getroffen zu heiraten. Das sei alles heimlich gewesen. Sie sei dann schwanger geworden, weswegen ihre Familie sie gefragt habe, von wem das Kind sei. Sie habe dann zugegeben, dass es von Herrn Hassan Khader sei. Ihr Onkel habe sie dann in ein Haus gesperrt. Er habe sie geschlagen und dies habe dazu geführt, dass sie ihr Kind verloren habe. In dieser Zeit sei ihr Vater verstorben und ihr Mann sei ausgereist. Ihr Onkel habe dann eine Ehe mit einem alten Mann arrangiert. Er habe ihr gesagt, dass sie den Mann heiraten soll. Sie habe sich aber geweigert und ihr Onkel habe ihr gesagt, dass sie eingesperrt bleibe. Er habe ihr manchmal kein Essen gegeben und ihr manchmal mit dem Messer in den Rücken gestochen. In dieser Zeit habe sie daran gedacht sich umzubringen. Er habe sie lange gefoltert und sie habe noch Narben am Körper. Sie sei gedrängt worden, diesen alten Mann zu heiraten. Sie habe dann zugestimmt. Als der alte Mann und ihr Onkel nicht im Haus gewesen seien, habe die Mutter sie nach Äthiopien gebracht und sie sei geflüchtet. So sei sie nach Äthiopien gekommen und habe ein neues Leben begonnen. Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Onkel und ihr Bruder sie umbringen würden.
3. Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes vom 05.02.2021 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz vom 03.11.2020 zwar hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr jedoch gem. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr die befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für die Dauer von einem Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde ausgeführt, die BF habe keine drohende asylrelevante Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat glaubhaft machen können. Sie sei in Somaliland keiner häuslichen Gewalt ausgesetzt und verfüge dort nach wie vor über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte, welche für sie Unterkunfts- und Unterstützungsmöglichkeiten darstellen würden. Allerdings sei der BF derzeit eine Rückkehr in ihre Heimat nicht zumutbar, da in ihrem Fall eine Gefährdung für ihre Person aufgrund der derzeitigen angespannten Nahrungsversorgungssituation und dem Nicht-Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative anzunehmen sei.
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die BF am 10.03.2021 fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurde.
5. Am 15.03.2021 wurde die Beschwerde inklusive des mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsaktes dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
6. Am 23.01.2023 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Somali statt, in welcher die BF ausführlich zu ihren Fluchtgründen befragt wurde. Das Bundesamt blieb der Verhandlung entschuldigt
7. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 30.04.2024 wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die Ehe der BF formell ungültig sei und darüber hinaus von ihrem Bruder und Onkel sowie weiten Teilen der Gesellschaft aus islamisch/religiösen Gründen als ungültig erachtet werde. Im Falle einer Rückkehr ohne ihren Ehemann sei sie ein „female head of household“ bzw eine alleinerziehende Mutter und von Zwangsverheiratung, sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt betroffen; weiters müsse sie soziale Ächtung und Bestrafung für ihr unislamisches Verhalten befürchten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die BF führt den Namen XXXX , wurde am XXXX geboren und ist Staatsangehörige von Somalia. Sie gehört dem Clan der Dir und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Ihre Muttersprache ist Somali.
Die BF stammt aus der Stadt Boorama (aus dem Stadtviertel Halane), in der Region Awdal, im Somaliland. Ihre Geschwister leben nach wie vor dort, außer einem Bruder und der Mutter. Letztere leben in Mogadischu.
Die BF ist Mutter von zwei Kindern, die in Österreich geboren wurden.
Die BF ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen
Die BF war vor ihrer Ausreise nicht Formen innerfamiliärer Gewalt (von Seiten ihres Onkels bzw. Bruders) oder der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt. Im Falle ihrer Rückkehr verfügt sie in ihrem Heimatdorf über männliche familiäre Anknüpfungspunkte, weshalb es nicht hinreichend wahrscheinlich ist, dass sie Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und gegen ihren Willen zwangsverheiratet wird.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia
1.3.1. Auszug aus dem COI-CMS Somalia, Stand: 08.01.2024 (Version 6):
Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 1.12.2023).
Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 1.12.2023). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).
Eine Quelle gibt die Lage mit Stand 23.1.2023 folgendermaßen wieder:
Quelle: PGN 23.1.2023
Somaliland
Somaliland hat im Vergleich zu anderen Teilen Somalias das größte Maß an Sicherheit, Stabilität und Entwicklung erreicht (AA 15.5.2023; vgl. ÖBN 11.2022). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt dazu, dass Somaliland viele Fortschritte gemacht hat, dass Peacebuilding, Versöhnung und Staatsaufbau zu den großen Erfolgen gehören, die Somaliland erzielt hat (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Die Regierung übt über das ihr unterstehende Gebiet Kontrolle und Souveränität aus (USDOS 20.3.2023; vgl. BS 2022a) und kann dort regieren und Vorhaben umsetzen. Nur das Randgebiet zu Puntland und einige sehr entlegene ländliche Gebiete sind davon ausgenommen (BS 2022a). Wahlen wurden bisher aber auch in diesen "umstrittenen" Gebieten umgesetzt, die somaliländische Währung findet dort weitgehend Verwendung (Meservey/THF 9.5.2022). Nach wieder anderen Angaben kontrolliert die Regierung den Westen des Landes zu 100 %; im Osten wird ihr Anspruch aber herausgefordert (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Die Sicherheitskräfte können außerhalb der Regionen Sool und Sanaag in einem vergleichsweise befriedeten Umfeld ein höheres Maß an Sicherheit im Hinblick auf terroristische Aktivitäten und allgemeine Kriminalität herstellen als in anderen Landesteilen. Dies gilt insbesondere für die Regionen Awdal und Woqooyi Galbeed mit den Städten Hargeysa und Berbera (AA 20.10.2023). Laut Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 muss niemand aufgrund einer vorgeblich schlechten Sicherheitslage den Westen Somalilands verlassen, während im Osten des Landes Blutfehden einen Grund darstellen könnten. Die meisten Migranten verlassen das Land demnach auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Bei Frauen kann auch FGM oder eine bevorstehende Zwangs- oder Frühehe ein Grund sein (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023). Der Staat verfügt abseits der östlichen Gebiete über ein Gewaltmonopol (BS 2022a).
Hinsichtlich Hargeysa gibt es keine Sicherheitsprobleme. Die Kriminalitätsrate ist relativ niedrig. Wenn es zu einem Mord kommt, dann handelt es sich üblicherweise um einen gezielten Rachemord auf der Basis eines Clankonflikts (BMLV 1.12.2023). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass manche Menschen Hargeysa als deutlich sicherer erachten als Nairobi. Die Mitarbeiter der Quelle können sich in Hargeysa jedenfalls frei bewegen. Auch in Berbera ist die Sicherheitslage demnach gut, die Stadt unproblematisch (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle erklärt, dass Hargeysa und Berbera sichere Städte sind (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Auch Burco ist abseits begrenzter Auswirkungen der Rebellion von Ga'an Libah (siehe unten) relativ ruhig (BMLV 1.12.2023). Gemäß Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2013 ist diese Stadt sicher (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle ist die Sicherheit dort hingegen nicht gleich gut, wie in Hargeysa (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass hinsichtlich der Städte Borama, Hargeysa, Berbera und Burco das größte Sicherheitsrisiko ein Verkehrsunfall ist (Omer/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle gibt an, dass in diesen vier Städten - und in den größeren Städten generell - Rechtsstaatlichkeit herrscht. Die Behörden gewährleisten dort demnach die Sicherheit der Bevölkerung, es gibt keine großen Probleme mit Raub oder Mord. Generell ist Kriminalität kein großes Problem im täglichen Leben (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Gemäß einer anderen Quelle stellen Jugendbanden in Hargeysa immer noch ein Problem dar, genauso wie Kleinkriminalität. Es gibt Arbeitslosigkeit und auch Drogenkonsum (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). In der Kriminalstatistik der somaliländischen Polizei für das Jahr 2022 finden sich 27.801 registrierte Delikte. In 5.565 dieser Fälle wurden die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen eingestellt, 11.320 wurden in gegenseitigem Einverständnis gelöst, 10.916 vor Gericht abgehandelt und entschieden und 540 befinden sich noch in Untersuchung. Im Jahr 2022 wurden 266 Vergewaltigungen angezeigt, diesbezüglich gab es 280 Beschuldigte. Davon wurden 240 gefasst. Außerdem wurden 60 Personen ermordet, 49 Mörder wurden verhaftet, auf elf Verdächtige laufen Haftbefehle (SD 4.11.2022). Im Jahr 2021 hatte es 89 Morde gegeben, 84 Verdächtige wurden in Haft genommen (SD 4.11.2021).
Anfang August 2022 wurden bei Demonstrationen in Hargeysa, Burco und Ceerigaabo mindestens drei Personen getötet und 89 verletzt (SG 11.8.2022). Nach anderen Angaben kamen mindestens fünf Menschen ums Leben (BAMF 22.8.2022). Unter den Verletzten befanden sich auch über 60 Polizisten. Hundert Personen wurden verhaftet (SG 11.8.2022). Die politische Lage von Präsident Bihi fördert das Aufkommen von Opposition. Es gibt nun wegen der anstehenden Parteiwahlen [siehe unten] mehr Gerangel - selbst innerhalb der regierenden Kulmiye. Auch Rohstofffunde im Land können zu den Turbulenzen beigetragen haben. Trotz allem gibt es keine existenzielle Bedrohung für Somaliland (BMLV 14.9.2023).
In Somaliland sind im Jahr 2023 aufgrund von Konflikt und Unsicherheit 232.000 Menschen vertrieben worden: 198.000 in der Region Sool, je 13.000 in Sanaag und Togdheer sowie je 4.000 in Awdal und Woqooyi Galbeed (UNHCR 2023). [Nahezu alle Vertriebenen stehen in Zusammenhang mit dem Konflikt um Laascaanood - siehe Konflikt um Laascaanood / Khatumo-SSC.]
Al Shabaab konnte in Somaliland nicht Fuß fassen (ÖBN 11.2022; vgl. JF 18.6.2021). Die Gruppe kontrolliert keine Gebiete in Somaliland (AA 15.5.2023), und es gibt dort auch keine signifikanten Aktivitäten von al Shabaab. Al Shabaab kann dort auch keine Steuern einheben (BMLV 1.12.2023). Mehrere Quellen der FFM Somalia 2023 geben an, dass es seit 2008 keine relevanten terroristischen Angriffe gegeben hat (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAIO-G/STDOK/SEM 4.2023, INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Somaliland hat bemerkenswerte Kapazitäten aufgebaut. Durch die Glaubwürdigkeit der bestehenden Institutionen entstand Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung. Dies wiederum erschwert al Shabaab ihre Operationen (Schwartz/HO 12.9.2021; vgl. MBZ 1.12.2021). Neben formellen nachrichtendienstlichen Netzen gibt es ein informelles Netz an Nachbarschaftswachen (BMLV 9.2.2023). Die Regierung setzt auf Älteste, lokale Behördenvertreter und besorgte Bürger; und darauf, dass diese verdächtige Aktivitäten und Neuankömmlinge bei der Polizei oder beim Geheimdienst melden (JF 18.6.2021). Dementsprechend werden terroristische Pläne immer wieder durch Sicherheitskräfte vereitelt und Operateure der al Shabaab verhaftet (Weiss/FDD 11.8.2021). Und als etwa im November 2019 Kämpfer der al Shabaab aus Puntland in die Garof-Berge im Osten der Region Sanaag vordrangen, wurde dies rasch gemeldet. In der Folge gelang es einer lokalen Miliz und ausgewählten Armee- und Polizeieinheiten al Shabaab zu vertreiben. Ähnliche Vorgänge haben sich Mitte 2021 wiederholt, auch damals wurde der Vorstoß eingedämmt (BMLV 9.2.2023).
Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass man in Somaliland vor al Shabaab einigermaßen sicher ist. Auch wenn es ggf. zu Drohungen kommen kann, mangelt es der Gruppe dort an Kapazitäten und Personal, al Shabaab kann nicht agieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Eine andere Quelle bestätigt dies (BMLV 1.12.2023). Eine andere Quelle der FFM gibt an, dass Hargeysa von al Shabaab möglicherweise als sicherer Hafen genutzt wird (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab verfügt über eine Präsenz, wird aber nicht aktiv (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAEZA/STDOK/SEM 4.2023), stellt keine Regeln auf und errichtet keine Checkpoints (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Sporadisch kommt es zu Verhaftungen von Personen, die der Tätigkeit für al Shabaab verdächtigt werden (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. MAIO-G/STDOK/SEM 4.2023). Es konnten in den konsultierten Quellen keine Informationen gefunden werden, wonach Deserteure von al Shabaab in Somaliland gefährdet wären.
Der Nachrichtendienst von al Shabaab (Amniyat) verfügt in Somaliland über ein Netzwerk an Informanten bzw. unterhält die Gruppe in größeren Städten Schläferzellen. Die Grenzgebiete zu Puntland sind für eine Infiltration durch al Shabaab anfällig. Dort versucht die Gruppe, lokale Clans, die sich von der Regierung diskriminiert fühlen, für sich zu gewinnen (BMLV 1.12.2023; vgl. Weiss/FDD 11.8.2021). Dies gilt etwa für die in Sanaag vorherrschenden Warsangeli. Im nordwestlichen Puntland ist dies der Gruppe teilweise gelungen. In Sanaag hingegen stellen sich lokale Milizen gegen al Shabaab (Weiss/FDD 12.9.2022). Trotzdem konnte al Shabaab in den letzten Jahren fast unmerklich in Somaliland vordringen - insbesondere in der Region Sanaag (ICG 10.11.2022). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 durchqueren Angehörige der Gruppe manchmal den Bezirk Ceerigaabo "in peaceful transit" – in Konvois, mit weißen Fahnen. Die lokalen Gemeinden akzeptieren al Shabaab, es kommt auch zu Eheschließungen (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Gegenwärtig hat die Gruppe mehr Bewegungsspielraum, weil Kräfte der Regierung und der Dhulbahante im Konflikt um Laascaanood gebunden sind (BMLV 14.9.2023). Nach anderen Angaben expandiert al Shabaab aggressiv in die Region Sool. In der Vergangenheit hat die Gruppe wiederholt versucht, bei Wahlen zu Gewalt aufzustacheln. Al Shabaab will Somaliland als Staat, das demokratische System und die Idee einer verfassungsmäßigen Herrschaft delegitimieren (Sahan/SWT 31.7.2023). Die Gruppe wird auch mit dem Aufstand in Laascaanood [siehe Unterkapitel] in Verbindung gebracht (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Nach Angaben von Quellen der FFM Somalia 2023 agieren Angehörige der al Shabaab bei diesem Konflikt in Ostsomaliland aber nicht in ihrer Funktion als ebensolche, sondern als Clanangehörige (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Think/STDOK/SEM 4.2023).
Am 11.9.2022 ist es zu einem der äußerst seltenen Anschläge in Somaliland gekommen. Im Dorf Milxo (Sanaag, Bezirk Laasqoray) kamen fünf Menschen ums Leben, als ein Selbstmordattentäter in einem Teehaus einen Sprengsatz zündete. Niemand hat sich zu dem Anschlag bekannt, eine Täterschaft von al Shabaab wird lediglich vermutet (Weiss/FDD 12.9.2022).
Clankonflikte bestehen wie überall in Somalia auch in Somaliland, und es kann zu Auseinandersetzungen und Racheakten kommen, die zivile Opfern fordern. Clankonflikte stellen aber kein Sicherheitsproblem dar, das die politische Stabilität der Region gefährdet (ÖBN 11.2022). Derartige Konflikte konzentrieren sich zudem in den Regionen Sanaag und Sool (ÖBN 11.2022; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023, SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023, INGO-V/STDOK/SEM 5.2023) und sind i.d.R. lokal begrenzt (Omer/STDOK/SEM 4.2023). So bekämpfen sich beispielsweise die Isaaq-Clans der Habr Jeclo und Habr Yunis immer wieder in Ceel Afweyn (Sanaag). Auch innerhalb der Dhulbahante in Sool gibt es Konfliktlinien (Omer/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer anderen Quelle haben sich die Clankonflikte von Ceel Afweyn bereits vor drei Jahren beruhigt (INGO-V/STDOK/SEM 5.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 können zwar Männer aus Ostsomaliland von anhaltenden Blutfehden betroffen sein; in Westsomaliland ist die Situation demnach aber anders (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).
Den Behörden ist es gelungen, einen relativ wirksamen Schutz gegen Banden und Milizen zu gewährleisten (AA 15.5.2023). Üblicherweise werden Landstreitigkeiten auf traditionellem Wege geklärt - durch Älteste (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023). Die Regierung greift auch in Clankonflikte ein. So hat sie beispielsweise den interkommunalen Konflikt im Gebiet Ali Sahid (Togdheer) beenden können, ein Abkommen zwischen beiden Seiten wurde vermittelt (SLST 27.5.2023). Bei einem anderen Beispiel, bei welchem im Umfeld von Burco fünf Menschen getötet und sechs verletzt worden sind, kam es zu einer Versöhnungskonferenz. Diese wurde von mehreren Ministern Somalilands geleitet (SLST 21.6.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 greift die Regierung in Konflikte hingegen nur dann ein, wenn sie selbst Interesse am Streitgegenstand hat (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Als Normalbürger betroffen ist man durch Clankonflikte v.a. hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, weil man die Konfliktgebiete nicht bereisen kann. Grundsätzlich sind nur die involvierten Clans betroffen (Omer/STDOK/SEM 4.2023).
2023 hat sich im Clangebiet der Isaaq / Habr Yunis im Bereich Ga'an Libah (nordöstlich von Hargeysa) eine neue Miliz gesammelt (Sahan/SWT 31.7.2023; vgl. AQ15 8.2023). Die Gruppe besteht aus jungen Männern der Habr Yunis und einigen desertierten Soldaten der Armee (AQ16 9.2023). Dort, im Bereich der Ga'an-Libah-Berge von Go-Dayar (Bezirk Odweyne), sind bei einem Hinterhalt Mitte August 2023 neun Sicherheitskräfte getötet und 17 weitere verwundet worden (RD 12.8.2023; vgl. AQ15 8.2023). Nach Angaben einer Quelle hat sich die bewaffnete Gruppe nach der Entscheidung der Wahlkommission über den Wahlkalender zum Ziel gesetzt, die Regierung zu bekämpfen und die Kontrolle über die eigenen Clangebiete zu übernehmen. Fahrzeuge von NGOs und der Regierung wurden entwendet, Polizeistationen angegriffen. Älteste versuchen, die Unstimmigkeiten auf dem Verhandlungsweg zu lösen (AQ15 8.2023). Es handelt sich bei diesem Konflikt also um Clanpolitik. Es gibt Animositäten gegenüber der Kulmiye hinsichtlich nicht eingehaltener Wahlversprechen (BMLV 14.9.2023). Die Habr Yunis haben noch nie den Präsidenten gestellt. Es geht aber auch um Land (AQ16 9.2023). Eine Quelle erklärt, dass eine Eskalation unwahrscheinlich ist (BMLV 14.9.2023). Eine weitere Quelle berichtet Ende August 2023, dass ein Ältestenkomitee die Auflösung der Rebellenmilizen von Ga'an Libah bei gleichzeitiger Amnestie ausverhandelt hat. Das Komitee wird weitere Schritte überwachen (HO 30.8.2023). Ein Wiederaufflammen dieser "Rebellion" kann allerdings nicht ausgeschlossen werden (BMLV 1.12.2023).
Auch in der Region Awdal gibt es (wieder) Separatisten der Gadabursi, die entsprechenden Bestrebungen wurden von der Diaspora angezettelt. Es kommt zu kleineren Schießereien mit Vertretern des 'Awdal-State'. Auch hier ist eine Eskalation unwahrscheinlich (BMLV 14.9.2023). Für die Separatisten der gibt es abseits der Diaspora keine Unterstützung der Gadabursi vor Ort (AQ21 11.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023; BMLV 14.9.2023), diese sind seit Langem in das politische System Somalilands erfolgreich integriert (AQ21 11.2023).
Östliches Grenzgebiet: Die Grenze zu Puntland ist umstritten (AA 15.5.2023). Entlang dieser Grenze gibt es ein Nebeneinander von puntländischen und somaliländischen Institutionen. Der Streifen reicht 30-50 km nach Somaliland hinein. Sowohl die Polizei als auch die Verwaltungen beider Seiten arbeiten dort Seite an Seite. Im Rahmen von Wahlen und Wählerregistrierung kommt es mitunter zu Spannungen, die sich üblicherweise wieder legen. Keine der Verwaltungen verfügt in diesen Gebieten über die absolute Kontrolle (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Es kommt dort gelegentlich zu Schusswechseln (ÖBN 11.2022). Üblicherweise werden bewaffnete Auseinandersetzungen im Grenzgebiet schnell beruhigt, bevor diese eskalieren (Sahan 29.10.2021). Zuletzt kam es im Jahr 2018 zu teils heftigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen somaliländischen und puntländischen Truppen (AA 15.5.2023). Die Unruhen in Laascaanood zum Jahreswechsel 2022/23 haben die Spannungen zwischen Somaliland und Puntland wieder erhöht (Sahan/SWT 4.1.2023). Trotzdem ist es im Rahmen des Konflikts zu keiner direkten Konfrontation zwischen Puntland und Somaliland gekommen (BMLV 1.12.2023). In Sool werden nahezu alle Orte von der Grenze zu Äthiopien bis über die Linie Xudun-Taleex vom SSC (Dhulbahante-Miliz, siehe Folgekapitel) kontrolliert. Für Buuhoodle wird die Kontrolle als 'gemischt' angegeben (AQ15 8.2023).
Buuhoodle: Am 22.11.2022 kam es im Bezirk Buuhoodle zwischen somaliländischen und puntländischen Truppen zu einem Scharmützel (HO 22.11.2022). Anfang Dezember 2022 hat Somaliland weitere Truppen in dieses Gebiet entsandt (SLST 6.12.2022). Quellen der FFM Somalia 2023 erklären: Es gibt zwar einen somaliländischen Bürgermeister für Buuhoodle, dieser residiert aber nicht in der Stadt. Es gibt dort keine physische Präsenz Somalilands (Omer/STDOK/SEM 4.2023) und dieser Teil des beanspruchten Gebiets steht auch definitiv nicht unter Kontrolle der Regierung (SECEX/STDOK/SEM 4.2023). Einige Kilometer vor Buuhoodle "endet" Somaliland, der letzte von der Regierung kontrollierte Ort ist demnach Qoorlugud (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023). In Buuhoodle wohnen Dhulbahante, die Stadt wird im Wesentlichen von ihnen selbstverwaltet (SECEX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Omer/STDOK/SEM 4.2023). Die Stimmung ist pro-Puntland. Es gibt dort keine somaliländischen Flaggen, keine somaliländischen Nummerntafeln. Somaliland respektiert diesen Zustand (SECEX/STDOK/SEM 4.2023).
Sanaag: Auf dem Gebiet der Warsangeli sind beide Verwaltungen - jene aus Puntland und jene aus Somaliland - vertreten. Beide sind für die Menschen vor Ort nützlich, die Warsangeli pflegen zu beiden Seiten gute Kontakte. In Laasqoray gibt es ein Militärlager der somaliländischen Armee. Auch in Badhaan gibt es beide Verwaltungen, diese treten nicht in Konflikt miteinander (Omer/STDOK/SEM 4.2023). Von einer Quelle wird der ländliche Raum von Sanaag bis etwa ein Drittel westwärts der Grenze zu Puntland als von Puntland kontrolliert angegeben. Für die Orte im Nordosten der Region – insbesondere Badhaan und Laasqoray – wird die Kontrolle als 'gemischt' angegeben (AQ15 8.2023). Die Warsangeli sind von der Regierung in Hargeysa und insbesondere von der regierenden Kulmiye enttäuscht. Ob sie noch weiter am 'Projekt Somaliland' partizipieren werden, wird sich bei den nächsten Wahlen zeigen (BMLV 14.9.2023).
Vorfallszahlen: In den somaliländischen Regionen Awdal (571.230), Sanaag (325.136), Sool (478.265), Togdheer (780.092) und Woqooyi Galbeed (1.313.146) leben nach Angaben einer Quelle 3,467.869 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt zwölf Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei allen zwölf Vorfällen wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 22 derartige Vorfälle (16 davon mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und violence against civilians ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle von "violence against civilians" je 100.000 Einwohner): Togdheer 0,26; Awdal 0,35; Woqooyi Galbeed 0,38; Sanaag 1,23; Sool 1,88;
In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:
Dieses Bild zeigt Grafiken zur Entwicklung der gewaltsamen Vorfälle in den Regionen Awdal, Sanaag, Sool, Togdheer und Woqooyi Galbeed in den Jahren 2013 bis 2022.
Quelle: ACLED 2023 (und Vorgängerversionen)
Rechtsschutz, Justizwesen
Somaliland
Insgesamt ist es Somaliland gelungen, ein staatliches Gewaltmonopol zu etablieren (BS 2022, S. 8). Es besteht ein einigermaßen funktionierendes Behördennetz (ÖB 11.2022, S. 19). Eine grundlegende Rechtsstaatlichkeit konnte etabliert werden. Polizei, Justiz und andere Regierungsinstitutionen arbeiten ausreichend gut. In entlegenen Gebieten vertreten lokale Behörden (meist Älteste) die Rechtsordnung. Dort sind Frauen- und Minderheitenrechte häufig nur unzureichend geschützt (BS 2022, S. 19). Zudem mangelt es teils an der Durchsetzung von Gerichtsurteilen durch die Polizei (SDG 2.2019, S. 11). In den Grenzregionen zu Puntland ist das staatliche Gewaltmonopol umstritten (BS 2022, S. 8). Allerdings übernimmt Somaliland selbst dort zunehmend staatliche Funktionen (Meservey 9.5.2022).
Laut staatlichen Angaben wurden 2021 in Somaliland insgesamt 89 Morde begangen. 84 Tatverdächtige wurden verhaftet, fünf sind entkommen. Nach offiziellen Angaben wurden im selben Jahr insgesamt 19.230 Straftaten angezeigt. 4.400 stellten sich als falsch heraus, 6.085 Fälle wurden beigelegt. 1.077 befanden sich im September 2022 noch in Untersuchung. 7.668 wurden dem Gericht zugeführt, dabei kam es zu 6.034 Verurteilungen; 1.634 Fälle sind noch bei Gericht anhängig (RD 12.9.2022).
In Somaliland wurde ein unabhängiges und auf vier Ebenen hierarchisch strukturiertes Gerichtssystem aufgebaut. Dieses besteht aus dem Supreme Court, regionalen Berufungsgerichten, Regional- und Bezirksgerichten. Die rechtliche Infrastruktur und das Gerichtssystem decken fast alle urbanen Zentren ab (BS 2022, S. 17). Gerichte funktionieren, allerdings gibt es Kapazitätsprobleme. Es fehlt an ausgebildeten Richtern sowie an einer nachvollziehbaren Rechtsdokumentation (USDOS 12.4.2022, S. 12; vgl. ÖB 11.2022, S. 17; SDG 2.2019, S. 3f). Nach anderen Angaben wird die Gerichtsbarkeit regelmäßig als nicht ordentlich funktionierend kritisiert (BS 2022, S. 16f), Richtern und anderem Personal mangelt es demnach an Kapazitäten und Qualifikation, dem System an finanziellen Ressourcen (BS 2022, S. 16f; vgl. FH 2022b, F1). UNODC und andere UN-Agenturen unterstützen Verbesserungen im Justizsystem und bei Haftbedingungen (ÖB 11.2022, S. 17). Internationale Hilfe ist auch in Gerichte investiert worden. Dadurch hat sich die Zahl an Richtern und Richterinnen im Zeitraum 2011-2018 auf 186 mehr als verdoppelt. Es gibt auch immer mehr adäquat ausgebildete Anwälte, NGOs bieten Rechtshilfe an. In jeder Region gibt es sogenannte Mobile Courts (SDG 2.2019, S. 3f), letztere wurden mit internationaler Hilfe 2008 etabliert (ÖB 11.2022, S. 17). Mit diesen wurde der Zugang zur formellen Justiz verbessert (BS 2022, S. 17; vgl. ÖB 11.2022, S. 17). Bei der Reformierung des Justizsystems hat es zumindest einige Fortschritte gegeben (FH 2022b, F1).
In Somaliland gibt es eine klarere Trennung der Staatsgewalten (BS 2022, S. 16). Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung niedergeschrieben. Diese Gewaltenteilung wird auch weitgehend eingehalten (AA 28.6.2022, S. 8), wenngleich die Exekutive sowohl die Legislative als auch die Judikative substanziell zu beeinflussen sucht (BS 2022, S. 16; vgl. ÖB 11.2022, S. 17). Richter werden oft auf Basis ihrer politischen oder Clanzugehörigkeit ernannt. Der Justiz mangelt es folglich an Unabhängigkeit (BS 2022, S. 16f; vgl. FH 2022b, F1). Speziell bei Verfahren gegen Journalisten ist politische Einflussnahme durch staatliche Amtsträger verbreitet. Es gibt Vorwürfe hinsichtlich Korruption im Justizsystem, und es kommt zu Einflussnahme (USDOS 12.4.2022, S. 12). Zudem mischen sich auch Clanälteste regelmäßig in Gerichtsverfahren ein (BS 2022, S. 17). Das UNDP hat einige Probleme aufgezeigt. Verhaltensregeln und Fortbildung haben zu Verbesserungen geführt (LIFOS 9.4.2019, S. 35f). Laut einer Quelle sind Justiz und Rechtsprechung nicht unabhängig, sondern meist der Willkür der jeweiligen Behörden unterworfen (ÖB 11.2022, S. 17).
Im Strafrecht sind rechtsstaatliche Grundsätze ansatzweise zu beobachten. Dazu gehört das Bemühen, eine diskriminierende Strafverfolgung und Strafzumessung möglichst zu vermeiden (AA 28.6.2022, S. 16). Vor somaliländischen Gerichten gilt generell die Unschuldsvermutung, das Recht auf ein öffentliches Verfahren und das Recht auf eine Rechtsvertretung. Verteidiger dürfen Zeugen befragen und einberufen sowie gegen Urteile Berufung einlegen. Für Angeklagte, die einer schweren Straftat bezichtigt werden, gibt es eine kostenlose Rechtsvertretung. Außerdem gibt es im Land eine funktionierende Legal Aid Clinic (USDOS 12.4.2022, S. 13). Diese ist an der Universität von Hargeysa angesiedelt und wird u. a. von der EU unterstützt. Menschen, die es sich sonst nicht leisten können, erhalten dort Rechtsberatung und Rechtsvertretung (OXFAM o.D.b). Insgesamt werden die Verfahrensrechte in Somaliland eher eingehalten als in anderen Landesteilen (AA 28.6.2022, S. 16). Allerdings kommt es oft zu langen Verzögerungen (FH 2022b, F2; vgl. BS 2022, S. 17). Außerdem gibt es auch in Somaliland Militärgerichte, deren Verfahren unzureichend sind, und wo grundlegende Standards eines fairen zivilrechtlichen Strafverfahrens ignoriert werden. Dort wurden in der Vergangenheit und entgegen der Verfassung auch über angeklagte Zivilpersonen verhandelt (AA 28.6.2022, S. 9).
Neben dem formellen Recht kommen in Somaliland auch traditionelles Recht (Xeer) und die Scharia zum Einsatz (USDOS 12.4.2022, S. 12; vgl. BS 2022, S. 10/17; FH 2022b, F2). Die drei Rechtsformen sind nicht gut integriert (USDOS 12.4.2022, S. 12) und widersprechen sich manchmal gegenseitig (SDG 2.2019, S. 6). Islamische Gerichte werden in erster Linie in Familienangelegenheiten herangezogen, sie werden aber aufgrund der schnellen Entscheidungen auch bei Wirtschaftstreibenden zunehmend populär. Eine Quelle erklärt, dass formelles Recht hinsichtlich Xeer als nachrangig erachtet wird. Zudem wirken sich religiöse Normen auf Xeer aus (BS 2022, S. 10).
Oft richtet sich der Bürger zuerst an seinen Clan. Selbst bei einem Mord wird vorerst im traditionellen Rechtssystem Blutgeld verhandelt; kommt es dort zu keiner Lösung, wendet man sich an Gerichte (BFA 8.2017, S. 100). Traditionelle Konfliktlösungsmechanismen sind auch als Maslaxa bekannt (UNSOM 22.6.2022). Dabei hat Somaliland das Xeer und die damit verbundenen Kompensationszahlungen in sein Rechtssystem insofern integriert, um eine Eskalation bis hin zum Rachemord zu vermeiden. Clans beschließen weiterhin Xeer-Abkommen, der Staat übernimmt aber die Rolle der Bestrafung bei Nichteinhaltung der Vertragsbedingungen. Zum Beispiel werden Täter so lange eingesperrt, bis die Kompensationszahlung erfolgt ist. Bei zu lang andauernder Nichtzahlung kann es auch zur Vollstreckung von Exekutionen kommen (GIGA 3.7.2018). Gerichte anerkennen Xeer-Entscheide (SEM 31.5.2017, S. 34). Damit ist es auch möglich, sich selbst bei schweren Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) und nach einer Verurteilung durch ein staatliches Gericht im Rahmen des traditionellen Rechts freizukaufen bzw. die Strafe durch Kompensation zu tilgen (AE 7.9.2022).
In den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten werden Urteile häufig nach traditionellem Recht von Clanältesten gesprochen. Bei Sachverhalten, die mehrere Clans betreffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden ("Sippenhaft") spielen dabei eine wichtige Rolle (AA 28.6.2022, S. 16).
Sicherheitsbehörden
Somaliland
In Somaliland stellt sich der staatliche Schutz besser dar als in Süd-/Zentralsomalia. Das Land verfügt über eine eigene Armee und über eigene Polizeikräfte (BMLV 9.2.2023; vgl. ÖB 11.2022, S. 17). Die Sicherheitsorgane haben eine besonders starke Stellung. Die zivile Kontrolle ist zwar lückenhaft, aber stärker als im Rest des Landes (AA 28.6.2022, S. 9). Insgesamt arbeiten die Polizei und andere Regierungsinstitutionen ausreichend gut (BS 2022, S. 19) bzw. werden Polizei und Armee als fähig beschrieben (BMLV 9.2.2023; vgl. HO 12.9.2021).
Die Stärke der somaliländischen Polizei beträgt ca. 10.000 Personen (BMLV 9.2.2023). Bei der Polizei gibt es auch Frauen im Offiziersrang (Sahan 29.3.2021). Die Präsenz der Polizei reicht bis nach Ost-Somaliland. Die Menschen nehmen ihre Dienste auch in Anspruch, man kann sich bei Vergehen an die Polizei wenden. Die Polizei verhaftet Verdächtige. In diesem Sinne gibt es auch eine Form von Rechtsstaatlichkeit. Allerdings kann sich auch die Polizei der Clandynamik nicht entziehen (BMLV 9.2.2023).
Spezialeinheiten der Polizei sind die Special Police Units (SPU), die für den Schutz internationaler Organisationen und NGOs zuständig sind, sowie die Rapid Reaction Unit. Daneben gibt es die National Coast Guard (BMLV 9.2.2023) und den National Intelligence Service als nationalen Geheimdienst (BMLV 9.2.2023; vgl. JF 14.8.2020). Nach anderen Angaben ist die Einrichtung einer nachrichtendienstlich arbeitenden Innenbehörde rechtlich nicht geregelt, wiewohl es eine Einheit mit vergleichbaren Aufgaben gibt (AA 28.6.2022, S. 11).
Die Streitkräfte umfassen schätzungsweise 15.000 Soldaten. Die somaliländische Armee wird von einem zentralen Kommando in Hargeysa geführt. Sie verfügt über Regionalkommanden und ist nach westlichem Vorbild in Groß- und Kleinverbänden organisiert. Die Mannschaften der Armee sind relativ diszipliniert, Vergehen werden i. d. R. verfolgt und bestraft (BMLV 9.2.2023). Teile der Spezialeinheiten der Armee wurden und werden von Äthiopien ausgebildet (SLS 29.9.2022).
Allgemeine Menschenrechtslage
Somaliland
In der Verfassung von Somaliland ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 28.6.2022, S. 21). In den Zentren von Somaliland herrscht im Wesentlichen Rechtsstaatlichkeit, und die Polizei und andere Behörden arbeiten halbwegs gut. In den abgelegen Gebieten des Landes sorgen lokale Autoritäten für Recht und Ordnung. In diesem Kontext werden die Rechte von Frauen und lokalen Minderheiten oft nur unzureichend gewährleistet (BS 2022, S. 19).
Zu Somaliland liegen keine Erkenntnisse hinsichtlich extralegaler Tötungen oder systematischer Verfolgung sowie zu willkürlichen Festnahmen und Verschwindenlassen vor. Vorwürfe dieser Art werden nicht erhoben (AA 28.6.2022, S. 21f). Bei Human Rights Watch werden für das Jahr 2021 lediglich die Verhaftung von sieben Oppositionskandidaten und sieben Journalisten im Vorfeld der Wahlen sowie die Deportation von 1.750 Personen aus dem South West State als für Somaliland relevante Kritikpunkte hervorgehoben (HRW 13.1.2022). Freedom House berichtet, dass es immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen und überlangem Gewahrsam ohne Anklage kommt (FH 2022b, F2). Mit Stand November 2022 zeichnet sich ein eher negativer Trend im demokratischen Bereich und im Menschenrechtsbereich ab, mit Toten bei Demonstrationen und der Verhaftung von Journalisten und Oppositionellen (ÖB 11.2022, S. 17). So haben die Sicherheitskräfte etwa zum Jahreswechsel 2022/23 bei Unruhen in Laascaanood überproportional Gewalt angewendet, mehrere Menschen wurden getötet (Sahan 4.1.2023).
Minderheiten und Clans
Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, S. 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, S. 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).
Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).
In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, S. 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, S. 56; vgl. BS 2022, S. 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, S. 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, S. 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).
Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, S. 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, S. 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, S. 42; vgl. ÖB 11.2022, S. 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, S. 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, S. 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, S. 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, S. 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, S. 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, S. 14).
Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, S. 58).
Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, S. 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, S. 3; vgl. USDOS 12.4.2022, S. 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, S. 4).
Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, S. 41; vgl. AA 28.6.2022, S. 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, S. 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vgl. SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).
Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, S. 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, S. 39).
Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, S. 19; vgl. ÖB 11.2022 S. 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, S. 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, S. 11; vgl. ÖB 11.2022, S. 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, S. 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, S. 4f).
Bevölkerungsstruktur
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, S. 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, S. 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, S. 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vgl. NLMBZ 1.12.2021, S. 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, S. 44; vgl. SEM, 31.5.2017, S. 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, S. 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, S. 5).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, S. 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, S. 8).
Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, S. 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:
Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, S. 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, S. 9).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, S. 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, S. 38ff).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, S. 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, S. 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, S. 25).
Berufsständische Minderheiten, aktuelle Situation
Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung (SEM 31.5.2017, S. 14ff). Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen (UNHCR 22.12.2021, S. 57). Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können (SEM 31.5.2017, S. 14ff). Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet (UNHCR 22.12.2021, S. 57; vgl. NLMBZ 1.12.2021, S. 45; SEM 31.5.2017, S. 14ff) - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen (NLMBZ 1.12.2021, S. 45). Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (SEM 31.5.2017, S. 14ff). Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan (UNHCR 22.12.2021, S. 57).
Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye (SEM 31.5.2017, S. 43f). In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LI 21.5.2019b, S. 3).
Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet (BS 2022, S. 9). Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen (GIGA 3.7.2018; vgl. SEM 31.5.2017, S. 44ff). Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (SEM 31.5.2017, S. 44ff).
Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (SEM 31.5.2017, S. 49).
Mischehe: In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch (SEM 31.5.2017, S. 44ff; vgl. ÖB 11.2022, S. 4). Aufgrund dieses teils starken sozialen Drucks (FH 2022a, G3) kommen Mischehen äußerst selten vor (SEM 31.5.2017, S. 44ff; vgl. FIS 5.10.2018, S. 26). Diesbezüglich bestehen aber regionale Unterschiede: Im Clan-mäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden (ÖB 11.2022, S. 4; vgl. SEM 31.5.2017, S. 44ff). Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt (SEM 31.5.2017, S. 44ff). In Mogadischu sind Mischehen möglich (FIS 5.10.2018, S. 26). Auch al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen (ICG 27.6.2019, S. 7f). Die Gruppe hat Fußsoldaten, die zu Gruppen mit niedrigem Status gehören, dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (Ingiriis 2020).
Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert (SEM 31.5.2017, S. 44ff). Trotzdem können diese Ehen negative Folgen für die Ehepartner mit sich bringen – insbesondere, wenn der Mann einer Minderheit angehört (ÖB 11.2022, S. 4). So kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem "noblen" Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck (SEM 31.5.2017, S. 44ff). Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (FIS 5.10.2018, S. 26).
Somaliland
Große Clans in Somaliland: In der Region Awdal wohnen v. a. Angehörige der Dir/Gadabursi und Dir/Issa. In den Regionen Woqooyi Galbeed und Togdheer wohnen v. a. Angehörige der Isaaq-Subclans Habr Jeclo, Habr Yunis, Idagala und Habr Awal. In der Region Sool wohnen v. a. Angehörige der Darod/Dulbahante (Taleex, Xudun, Laascaanood), Isaaq/Habr Yunis (Xudun, Laascaanood) und Isaaq/Habr Jeclo (Caynabo). In der Region Sanaag wohnen v. a. Angehörige der Darod/Warsangeli (Lasqooraay, Ceerigaabo), Isaaq/Habr Yunis (Ceerigaabo) und Isaaq/Habr Jeclo (Ceel Afweyn) (EASO 2.2016, S. 72ff). Die einzelnen Clans der Minderheiten der Berufskasten in Somaliland werden unter dem Begriff "Gabooye" zusammengefasst (Muse Dheriyo, Tumal, Madhiban, Yibir) (UNHRC 28.10.2015, Abs. 43; vgl. SEM 31.5.2017, S. 16).
Wie in den restlichen Landesteilen bekennt sich die Verfassung zum Gebot der Nichtdiskriminierung (AA 28.6.2022, S. 12). In Somaliland sind Mitbestimmung und Schutz von Minderheiten vergleichsweise gut ausgeprägt (GIGA 3.7.2018). Nach anderen Angaben besteht offiziell kein Minderheitenschutz (ÖB 11.2022, S. 18). Der Eindruck entsteht, wonach Somaliland zunehmend zentralisiert wird und im Sinne spezifischer Clans agiert, während andere Clans marginalisiert bleiben (BS 2022, S. 39).
In Somaliland sind die Clanältesten der Minderheiten jedenfalls gleich wie jene der Mehrheitsclans offiziell anerkannt, und die Minderheiten sind in den politischen Parteien vertreten. Einige Älteste (Suldaan) der Gabooye sind im Oberhaus des Parlaments (Guurti) vertreten (SEM 31.5.2017, S. 48). Bei den Wahlen im Mai 2021 wurden Minderheitenangehörige ins somaliländische Unterhaus gewählt (EEAS 8.6.2021) - darunter ein Abgeordneter der Gabooye. Der neue Sprecher des Unterhauses gehört – wie auch der vorige – zum Clan der Dulbahante (ICG 12.8.2021, S. 4/7). Der stellvertretende Vorsitzende der Somaliland Human Rights Commission gehört einer Minderheit an, außerdem hat der Präsident einen eigenen Berater für Minderheitenfragen (USDOS 12.4.2022, S. 32).
Im Alltag spielt die Clanzugehörigkeit eine große Rolle (AA 28.6.2022, S. 12). Große Clans dominieren Politik und Verwaltung, wodurch kleinere Gruppen marginalisiert, gesellschaftlich manchmal diskriminiert werden. Ihr Zugang zu öffentlichen Leistungen ist schlechter (FH 2022b, B4/F4). Dies trifft v.a. auf die Gabooye zu. Diese leiden unter sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung und werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Eine systematische Verfolgung findet allerdings nicht statt (ÖB 11.2022, S. 18). Im Justizsystem treffen Minderheitenangehörige allerdings auf Vorurteile (FH 2022b, F4), und es kann vorkommen, dass Vergehen gegenüber Minderheiten-Angehörigen seitens der Polizei nicht nachgegangen wird. Sie werden von den somaliländischen Gerichten in den letzten Jahren aber mehrheitlich fair behandelt, es kommt zu keiner systematischen Benachteiligung durch Polizei und Gerichte. Die offizielle Anerkennung von Gabooye-Suldaans hat zu einer Aufwertung der berufsständischen Gruppen geführt. Ihr gesellschaftlicher Ruf hat sich dadurch generell verbessert. Damit geht auch soziale Sicherheit einher. Im Xeer (traditionelles Recht) haben Gabooye zwar ihre Rechte (SEM 31.5.2017, S. 40ff), es kann aber vorkommen, dass Mehrheitsclans aufgrund ihrer Machtstellung Kompensationszahlungen nicht tätigen (GIGA 3.7.2018).
Beispiel Sanaag: In Ceerigaabo leben alle Gabooye (ca. 500 Haushalte) außerhalb des Stadtzentrums. Der Besuch einer Grundschule ist in Sanaag möglich; doch hinsichtlich höherer Bildung stehen Gabooye oft vor finanziellen Hindernissen. In der Verwaltung der Region arbeitet nur ein Gabooye; zwei arbeiten bei Lokalräten (UNSOM 22.6.2022).
Mischehen werden stigmatisiert (FH 2022b, G3), von den Clans Isaaq und Darod vehement abgelehnt, vom Clan der Dir eher akzeptiert (SEM 31.5.2017, S. 45). Gleichzeitig kommen Mischehen im clanmäßig homogeneren Norden tendenziell seltener vor, als im stärker durchmischten Süden (ÖB 11.2022, S. 4).
Es gibt einige NGOs, die sich explizit für Minderheiten einsetzen. Hinsichtlich berufsständischer Gruppen sind dies u.a.: Daami Youth Development Organization (DYDO), Somaliland National Youth Organization (SONYO Umbrella), Ubax Social and Welfare Organization (USWO), Voices of Somaliland Minority Women Organization (VOSOMWO) (SEM 31.5.2017, S. 43);
Es kommt nur sporadisch zum Aufflammen bewaffneter Clanauseinandersetzungen, welche über kleine Schusswechsel hinausgehen. In der Regel folgt ein Aufruf der Regierung an die betroffenen Ältesten, eine Konfliktlösung herbeizuführen. Bei einer weiteren Eskalation schreiten Sicherheitskräfte ein, und die Regierung versucht, das Problem eigenständig zu lösen. Dieser Ansatz ist nicht immer erfolgreich (BFA 8.2017, S. 101).
Relevanter und von größerer Auswirkung ist das System der Blutrache. Hier können selbst Personen betroffen sein, die nach Jahren in der Diaspora nach Hause zurückkehren. Während Sicherheitskräfte in größere Clankonflikte eingreifen, tun sie dies bei Blutfehden nur selten bzw. ist ein Eingreifen nicht möglich. Gleichzeitig sind Polizisten selbst Angehörige eines Clans, was die Sache erschwert (BFA 8.2017, S. 101).
Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose
Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, S. 11f/32f).
Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 12.4.2022, S. 40). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, S. 12). In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020).
Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, S. 46f/103).
Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben (ACCORD 29.5.2019, S. 2f). Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, S. 37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri 3.5.2021).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen – allgemein
Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden (USDOS 12.4.2022, S. 37/40). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland (AA 28.6.2022, S. 18). Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten (SPC 9.2.2022). Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist (AA 28.6.2022, S. 15).
Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern, Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen (SIDRA 6.2019b, S. 6). Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt. Viele solche Fälle werden nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt (SPC 9.2.2022).
Gemäß einer aktuellen Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (SLS 6.4.2021). Der Salafismus stellt in Somalia das größte Hindernis für die Förderung von Frauen dar. Trotzdem wächst die Zahl an Polizistinnen und Soldatinnen, und auch in Behörden werden zunehmend Frauen angestellt (Sahan 9.9.2022).
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 11.2022, S. 10). Es gibt keine Zivilehe (LI 14.6.2018, S. 7). Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist (LIFOS 16.4.2019, S. 38). Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm (LI 14.6.2018, S. 8f). Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (FIS 5.10.2018, S. 26f).
Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich (LI 14.6.2018, S. 9f). Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 28.6.2022, S. 18). Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal (SPA 1.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt (LIFOS 16.4.2019, S. 10). Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden (SPA 1.2021). Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr (USDOS 12.4.2022, S. 43). Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition (LI 14.6.2018, S. 10). Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (ACCORD 31.5.2021, S. 33; vgl. LI 14.6.2018, S. 10).
Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden (LI 14.6.2018, S. 9f). Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr (LIFOS 16.4.2019, S. 11). Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen (LIFOS 16.4.2019, S. 11; vgl. LI 14.6.2018, S. 8f). In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt (LI 14.6.2018, S. 8f). Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der "runaway marriages", bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt (FIS 5.10.2018, S. 26f). Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LI 14.6.2018, S. 11).
Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich (LI 14.6.2018, S. 18f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 27f). Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist (LI 14.6.2018, S. 18). Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten (FIS 5.10.2018, S. 27f). Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung (LI 14.6.2018, S. 19). Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (ICG 27.6.2019, S. 9).
In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes (LI 14.6.2018, S. 10). Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (FIS 5.10.2018, S. 27).
Somaliland
Vom Guurti/House of Elders sind Frauen ausgeschlossen; in der Regierung sind zwei von 24 Ministern weiblich. Die Somaliland Human Rights Commission hat eine Frau als Vorsitzende (USDOS 12.4.2022, S. 32). Nach der Wahl vom Mai 2021 gibt es im Unter- bzw. Repräsentantenhaus keine Abgeordnete (HRW 13.1.2022; vgl. ICG 12.8.2021, S. 1/5; USDOS 12.4.2022, S. 32). Nur drei von 220 Lokalräten landesweit sind weiblich (USDOS 12.4.2022, S. 32).
Wie auch in Somalia finden sich in Somaliland aus der Scharia interpretierte Regeln des Zivil- und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen (AA 28.6.2022, S. 18). Nicht nur bei der Anwendung der Scharia, sondern auch hinsichtlich des traditionellen Rechts werden Frauen benachteiligt (FH 2022b, F4). Gleichwohl gibt es politische Ansätze, die mittel- bis langfristig eine Annäherung des Status von Mann und Frau anstreben (AA 28.6.2022, S. 18). In einer Stadt wie Hargeysa ist es üblich, Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (TE 11.3.2019). Seit 2015 gibt es eine Wirtschaftskammer für Frauen mit 300 registrierten Unternehmen (SZ 13.2.2017). Bei den sogenannten Household Enterprises steht mehr als die Hälfte dieser Unternehmen im Besitz von Frauen (WB 22.3.2022). Auch in der Bildung hat sich in den letzten 25 Jahren viel getan. Die Gesellschaft legt mehr Wert darauf, dass Frauen ihre Ausbildung abschließen, bevor sie eine Familie gründen. 50 % der Studierenden sind weiblich (SZ 13.2.2017).
Die Zahl an Alleinerzieherinnen ist in Somaliland gestiegen. Mitverantwortlich dafür ist die ebenfalls gestiegene Zahl an Scheidungen, die sich auch in einem Anstieg an Wiederverheirateten und Patchwork-Familien niederschlagen (FIS 5.10.2018, S. 27f).
Zwangsehen sind im Rahmen des Sexual Offences Act vom April 2018 verboten. Im März 2019 hat ein Gericht auf Basis des Gesetzes erstmals eine Scheidung genehmigt, betroffen war ein 14-jähriges, mit elf Jahren zwangsverheiratetes Mädchen in Laascaanood. Von den gesetzlich vorgesehenen Haftstrafen (5-10 Jahre) für Vater und Ehemann war zugunsten der „Familienharmonie“ abgesehen worden (HD 17.3.2019).
Häusliche Gewalt bleibt weiterhin ein Problem (FH 2022b, G3). Prinzipiell können sich Frauen in solchen Fällen zwar an Behörden wenden, in der Praxis gestaltet sich dies allerdings schwierig (FIS 5.10.2018, S. 33). Die NGO WAAPO führt Frauenhäuser in Hargeysa, Borama und Burco. Das Angebot richtet sich an Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und von FGM und dient auch dem Kinderschutz. Ein weiteres Frauenhaus soll in Sanaag entstehen (UNOCHA 2022). 2021 hat UNFPA gemeinsam mit dem somaliländischen Sozial- und Familienministerium eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, an welche sich Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt richten können. Bereits in den ersten Monaten konnte über hundert Opfern geholfen werden, u. a. durch Beratung und Vermittlung. Die Nummer der Hotline wird z. B. über das Radio verbreitet (UNFPA 28.10.2021).
Gruppenvergewaltigungen stellen in urbanen Gebieten weiterhin ein Problem dar. Täter sind oftmals Jugendliche oder Studenten. Diese Vergewaltigungen geschehen meist in ärmeren Stadtteilen, bei Migranten, zurückgekehrten Flüchtlingen oder IDPs im städtischen Raum (USDOS 12.4.2022, S. 37). Im Gegensatz zum Süden Somalias gibt es aus Somaliland so gut wie keine Berichte über Vergewaltigungen durch Uniformierte (FIS 5.10.2018, S. 32). Aufgrund sozialen Drucks werden Vergewaltigungen nur selten angezeigt (FH 2022b, G3).
Zudem gibt es gegenwärtig keine Gesetzgebung, welche das Verbrechen der Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff definieren würden (HRC 8.2021). Das Gesetz gegen Sexualdelikte ist nach Einwänden des Religionsministeriums durch den Präsidenten wieder außer Kraft gesetzt (FH 2022b, G3; vgl. BS 2022, S. 19). Ein neues Gesetz bezüglich Vergewaltigung und Sexualverbrechen wurde eingebracht und passierte im August 2020 das Repräsentantenhaus. Dieses Gesetz bricht einige internationale Menschenrechtsstandards. Es gestattet u. a. Kinder- und Zwangsehe und schließt eine Vergewaltigung in der Ehe aus (BS 2022, S. 19; vgl. FH 2022b, G3). Das Gesetz liegt derzeit beim Guurti (BS 2022, S. 19). Nach anderen Angaben ist dieses Gesetz vom Guurti bereits bewilligt worden, es ist aber unklar, ob es in Kraft getreten ist (FH 2022b, G3). Eine weitere Quelle erklärt, dass der Gesetzesentwurf auf Eis liegt, aber nach wie vor diskutiert wird (ÖB 11.2022, S. 18).
Nach wieder anderen Angaben wurde 2018 das erste Mal in der Geschichte Vergewaltigung per Gesetz zum Verbrechen erklärt, mit Haftandrohung von 4-7 Jahren, bei Gewalt und Drohungen 15-20 Jahren, im Falle von Minderjährigen unter 15 oder von Gruppenvergewaltigungen mit 20-25 Jahren, im Falle von Verletzungen oder HIV-Übertragung lebenslänglich. Schlussendlich werden Vergewaltigungen auch zur Anzeige gebracht: Von Jänner bis August 2022 wurden in Somaliland fast 300 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht, 2020 sind es 161 gewesen (Halbeeg 1.9.2022). Im Jahr 2022 sind bis November 266 Vergewaltigungen angezeigt worden, es gab 280 Beschuldigte. 240 davon wurden gefasst (SD 4.11.2022).
1.3.2. Auszug aus der EUAA Country-Guidance Somalia, Stand: August 2023
Auf den Seiten 119 ff wird eine Einschätzung hinsichtlich des Risikoprofils von Frauen und Kindern abgegeben:
Gewalt gegen Frauen und Kinder: Überblick
Diskriminierung von Frauen und Kindern
Somalia wird als eines der Länder mit der größten Geschlechterungleichheit weltweit beschrieben. Frauen sind unterrepräsentiert und haben mit Hürden bei der Beschäftigung zu kämpfen. Frauen aus armen urbanen Haushalten können gezwungen sein, einen Job anzunehmen oder sich an unternehmerischen Tätigkeiten zu beteiligen, die ein hohes Risiko von Ausbeutung und sogar Gewalt mit sich bringen. Die Einschränkungen der Teilnahme von Frauen in besser bezahlten sozio-ökonomischen Aktivitäten, speziell im Falle einer Scheidung oder des Todes des männlichen Partners, machen Frauen anfälliger für Armut und Prekarität. Eine Unterrepräsentation von Frauen existiert auch in der Gerichtsbarkeit bei Positionen als Anwalt, Richter und Staatsanwalt. Die Teilnahme von Frauen im politischen System wird in der Praxis auch durch Diskriminierung und Feindseligkeit eingeschränkt. Weiters beschränkt Diskriminierung den Zugang von Mädchen zur Schule, aufgrund der Konfliktsituation und Praktiken wie frühe Heirat und Genitalverstümmelung, von denen Mädchen in landwirtschaftlichen, ländlichen, abgelegenen, vertriebenen und nomadischen Gemeinden besonders betroffen sind.
Obwohl manche Gesetze Frauen einige Rechte gewähren, sind Frauen in der Praxis wegen der Anwendung von Gewohnheitsrecht oder der Scharia oft benachteiligt. Außerdem können Frauen nur durch eine männliche Schutzperson, einen Ehemann, Bruder, Vater oder Onkel Zugang zur traditionellen Justiz haben. Frauen, die direkt Gerechtigkeit suchen und ihren Fall einem männerdominerten Justizsystem präsentieren, wird im Zusammenhang mit der patriarchalischen Gesellschaft Stigma entgegengebracht, weil sie von der Gesellschaft als nicht verantwortlich angesehen werden.
Weiters beschränkt Al-Shabaab die Rechte von Frauen und deren Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit in schwerwiegender Weise. Frauen werden gezwungen, einen speziellen Kleidungsstil einzuhalten und von einer männlichen Person begleitet zu werden. Die Gruppe setzt ebenso eine strikte Geschlechterteilung in öffentlichen Verkehrsmitteln und im öffentlichen Leben durch.
Sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalt
Frauen und Mädchen sind zahlreichen Schwierigkeiten wie Kinderehen, Genitalverstümmelung, häuslicher Gewalt, sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt und Menschenhandel ausgesetzt. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder wird als allgegenwärtig beschrieben, speziell in Süd-/Zentralsomalia und Puntland, wobei das Problem durch die COVID-19 Pandemie noch verschärft wurde. Das Risiko von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt ist in von Al-Shabaab kontrollierten Gegenden erhöht. Dennoch bleiben Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen und Kindern aufgrund eines Klimas der Straflosigkeit und der Angst bzw. des Stigmas der Opfer unterberichtet, das gestiegene Niveau an Gewalt im Land hat Berichten zufolge zu einem Anstieg der Vorfälle sexueller Gewalt geführt. Im Zeitraum vom 23. August 2022 bis Februar 2023 wurde von acht Vorfällen konfliktbezogener Gewalt berichtet, wobei sechs Frauen bzw. ein 7-jähriges und ein 14-jähriges Mädchen betroffen waren. Stigmatisierung ist weit verbreitet und Opfer von Vergewaltigungen werden von ihren Gemeinden und Familien harsch behandelt. Opfer von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt werden oft gezwungen, ihre Peiniger als Teil der Wiedergutmachung zu heiraten. Eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung ist keine Option. Mangelndes Vertrauen in das Justizsystem, voreingenommene Beamte, mangelnde Kenntnis der eigenen Rechte, begrenzte finanzielle Möglichkeiten, Angst vor Demütigung und Sicherheitsbedenken erschweren die Strafverfolgung zusätzlich.
Sexuelle Gewalt wird von Al-Shabaab weiterhin als Strategie für soziale Kontrolle in den Gemeinden unter deren Einfluss eingesetzt. Vorfälle von Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen werden auch durch Staatsbeamte, Clanmilizen und unbekannte bewaffnete Männer begangen. In einigen Fällen wurden Überlebende und Anbieter von Dienstleistungen für Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt direkt von den Behörden bedroht, wenn solche Misshandlungen von Männern in Uniform begangen wurden. Frauen aus vertriebenen Gemeinden und/oder von schwächeren Clans waren häufiger sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt. Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen sind einem erhöhten Risiko von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt.
Häusliche Gewalt gilt in Somalia ebenso als weitverbreitet und wird generell toleriert. Außerdem sind somalische Frauen weiterhin weitverbreiteter sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt.
Vergewaltigung wird nach dem somalischen Strafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe von 5-15 Jahren bestraft. Es gibt keine staatlichen Gesetze gegen Gewalt in der Ehe, inklusive Vergewaltigung. Im Jahr 2018 wurde ein Gesetz über Sexualstraftaten initiiert, um einen rechtlichen Rahmen zur Bekämpfung sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt zu schaffen. Dennoch hat die Regierung im Juni 2021 das Gesetz noch nicht beschlossen. Im Jahr 2020 wurde der Gesetzesentwurf „Verbrechen im Zusammenhang mit Geschlechtsverkehr“ ausgearbeitet, der als großer Rückschlag für die Opfer von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt bezeichnet wird, obwohl er noch nicht beschlossen worden ist. Im Jahr 2016 erließen die puntländischen Behörden das erste Gesetz gegen Sexualverbrechen, das alle Sexualverbrechen in der Region unter Strafe stellt. Dieses Gesetz wird jedoch in der Praxis nicht angewendet. Somaliland verabschiedete im Jahr 2018 ein Gesetz gegen Sexualverbrechen, das jedoch ebenfalls noch nicht umgesetzt worden ist.
Die Bereitstellung von Dienstleistungen für Opfer von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt bleibt im Vergleich zum Bedarf und der geografischen Lage in diesem Land gering. COVID-19 hat zur Schließung einiger der bereits spärlich vorhandenen Einrichtungen geführt, während offene Notunterkünfte aus Angst vor dem Virus zögerten, neue Opfer von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt aufzunehmen. Überlebende von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt aus entlegenen Orten standen vor weiteren Herausforderungen hinsichtlich des Zugangs zu hochwertigen Dienstleistungen.
Sind die Handlungen als Verfolgung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie einzustufen?
Einige der beschriebenen Handlungen, die gegenüber Frauen und Mädchen unter diesem Profil begangen werden, sind so schwerwiegend, dass sie als Verfolgung einzustufen sind (z. B. Vergewaltigung, bestimmte Formen von körperlicher Gewalt inklusive häuslicher Gewalt sowie sexuelle Gewalt). Wenn Handlungen weniger schwerwiegend sind (z.B. Hindernisse bei der Beschäftigung, Ausbildung und beim Zugang zur Justiz) sollte die individuelle Überprüfung, ob diese als Verfolgung einzustufen sind, die Schwere und/oder Wiederholung der Handlungen oder den Umstand, ob diese als Kumulierung verschiedener Maßnahmen auftreten, beinhalten.
Was ist die Schwelle des Risikos der Verfolgung (wohlbegründete Furcht)?
Die individuelle Überprüfung, ob für den Antragsteller eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit besteht, in ganz Somalia, also Süd-/Zentralsomalia, Puntland und Somaliland, Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, sollte risikoerhöhende Umstände beinhalten, wie etwa das Alter, die Herkunftsregion und den Akteur, der das Gebiet kontrolliert, die Clanzugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer vertriebenen oder nomadischen Gemeinde, Behinderungen oder das Niveau an Unterstützung eines Hilfs- oder Clannetzwerks.
Sind die Gründe der Verfolgung von Art. 10 Statusrichtlinie umfasst (Zusammenhang)?
Sofern eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung besteht, ist anhand der zur Verfügung stehenden Informationen davon auszugehen, dass die Verfolgung unter verschiedene Gründe des Art. 10 Statusrichtlinie subsumiert werden kann, abhängig von den speziellen Umständen des Einzelfalls. Frauen und Mädchen, die sexuell missbraucht worden sind, können aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, basierend auf einem gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann (Erfahrung von sexuellem Missbrauch), und einer abgegrenzten Identität in Somalia (bezüglich Stigmatisierung durch die Gesellschaft), verfolgt werden.
Kinderehen und Zwangsheirat
In der somalischen Gesellschaft wird das Geburtsdatum nicht als entscheidendes Kriterium für die Frage, ob eine Person als erwachsen gilt, angesehen, hingegen ist die Pubertät ein Zeichen des Erwachsenwerdens. Der im Jahr 2020 initiierte „Gesetzentwurf zu Straftaten im Zusammenhang mit Geschlechtsverkehr“ würde es den Eltern erlauben, ihre Kinder, sobald sie die Pubertät, welche bereits im Alter von 10 Jahren vorliegen kann, erreichen, zu verheiraten.
Aufgrund der weit verwurzelten Geschlechterungleichheit ist die Anzahl an Kinderehen bei Mädchen höher als bei Buben. Die Praxis von frühen Hochzeiten bleibt in Somalia vorherrschend, wobei nomadische und ländliche Mädchen am stärksten betroffen sind. Mädchen werden normalerweise in einem jungen Alter verheiratet, da für die Familien ein Bedarf besteht, ihre soziale und ökonomische Sicherheit zu garantieren, und um uneheliche Kinder zu vermeiden. Frühe Ehen werden sowohl als kulturelle als auch religiöse Notwendigkeit gesehen, wobei der Wert einer Frau traditionellerweise von deren Gebärfähigkeit abhängig ist. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 werden 16 % der somalischen Mädchen im Alter von 15 Jahren und 34 % im Alter von 18 Jahren verheiratet, während laut einer anderen Quelle 8,4 % der Mädchen unter 15 Jahren verheiratet und 45,3 % der Mädchen unter 18 Jahren verheiratet werden. Während der COVID-19-Pandemie ist die Anzahl an Kinderehen in Somalia gestiegen.
Der Unterschied zwischen erzwungenen und arrangierten Ehen kann fein sein. Bräute können auch zwischen benachbarten Clans zur Bildung von Allianzen, zum Schließen von Friedensvereinbarungen und zum Gewinn von Weideflächen ausgetauscht werden. Es wurde von Praktiken im Xeer, wie etwa „dumal“ (Zwangsheirat einer Witwe mit einem männlichen Verwandten ihres verstorbenen Mannes), „higsian“ (Zwangsheirat der Schwester einer verstorbenen Ehefrau mit ihrem Witwer) und „godob reeb“ (Zwangsheirat eines Mädchens in einen geschädigten Clan als Teil einer Kompensationszahlung), berichtet. Außerdem werden Opfer von Vergewaltigungen im Rahmen der Abhilfemaßnahmen des traditionellen Justizsystems gezwungen, ihre Peiniger zu heiraten. Zwangsheirat ist auch bei Personen mit Beeinträchtigungen weit verbreitet.
Wenn sich eine Frau der Ehe widersetzt, kann dies zu Konsequenzen führen, wie etwa zur Verbannung von der nomadischen Gemeinschaft oder der Verweigerung des Sorgerechts für Kinder bzw. des Eigentums.
Sind die Handlungen als Verfolgung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie einzustufen?
Zwangsheirat und Kinderhochzeiten führen zu Verfolgung. Sofern die Konsequenzen einer Ablehnung einer Zwangsheirat weniger schwerwiegend sind, wie etwa soziale Stigmatisierung, sollte die individuelle Überprüfung, ob diese als Verfolgung einzustufen sind, die Schwere und/oder Wiederholung der Handlungen oder den Umstand, ob diese als Kumulierung verschiedener Maßnahmen auftreten, beinhalten.
Was ist die Schwelle des Risikos der Verfolgung (wohlbegründete Furcht)?
Die individuelle Überprüfung, ob für den Antragsteller eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit besteht, in ganz Somalia, also Süd-/Zentralsomalia, Puntland und Somaliland, Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, sollte risikoerhöhende Umstände beinhalten, wie etwa die Verbreitung der Praxis in der Herkunftsregion, das Alter, den sozioökonomischen Status der Familie oder Clan- bzw. Familientraditionen.
Sind die Gründe der Verfolgung von Art. 10 Statusrichtlinie umfasst (Zusammenhang)?
Laut den verfügbaren Informationen kann die Verfolgung unter diesem Profil aus Gründen der Religion und/oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bestehen. So kann etwa die Verweigerung einer Hochzeit zu einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Zusammenhang mit einem gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann (Verweigerung einer Hochzeit), und/oder einer Eigenschaft bzw einer Einstellung, die so essentiell für die Identität oder das Gewissen ist, dass eine Person nicht dazu gezwungen werden sollte, diese aufzugeben (das Recht, sich den Ehepartner aussuchen zu können), und deren abgegrenzten Identität in Somalia (Stigmatisierung) bestehen.
Alleinstehende Frauen und weibliche Haushaltsvorstände
Dieses Unterprofil betrifft alleinstehende Frauen (etwa geschiedene Frauen, unverheiratete Frauen oder Witwen) und weibliche Haushaltsvorstände. Mädchen können ebenso unter dieses Subprofil fallen.
Schutz für somalische Frauen ist mit deren Vätern, Ehemännern, Familiennetzwerken, erweiterten Familiennetzwerken und Clans verknüpft. In der somalischen Gesellschaft wird es als entgegen der Kultur und Religion gesehen, wenn eine Frau allein lebt. Die Sicherheitslage für alleinstehende Frauen ohne einem Clannetzwerk ist ziemlich fatal. Frauen, die soziale Normen gebrochen haben, werden mitunter geächtet. Außerdem ist es für eine alleinstehende Frau schwierig, eine Unterkunft zu mieten, zu kaufen oder zu verkaufen, weil sie als Prostituierte angesehen werden könnte. Eine unbegleitete Frau, die ohne einen Ehemann lebt, kann auch sexueller Gewalt ausgesetzt sein. Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand sind öfters Unterernährung ausgesetzt.
Frauen, die in Camps leben, sind einem höheren Risiko von sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt. Bei Binnenvertriebenen sind alleinstehende, geschiedene und verwitwete Frauen besonders vulnerabel. Ein Mangel an Ressourcen und steigende Lebensmittelpreise aufgrund der COVID-19 Pandemie bedeutet für viele alleinstehende binnenvertriebene Mütter, dass sie nicht in der Lage sind, Zugang zu dem zu bekommen, was sie benötigen würden, um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder zu erhalten. Die prekäre Situation von binnenvertriebenen Frauen, und speziell jene von weiblichen Haushaltsvorständen, wurde auch im November 2022 dokumentiert.
Quellen zeigen, dass Scheidungen im Land nicht unüblich sind und Scheidungen jetzt generell mehr akzeptiert werden als in der Vergangenheit. Dennoch benötigt eine Frau immer noch die Zustimmung ihres Clans für eine Scheidung und muss spezielle Gründe nennen. Nach einer Scheidung bleiben Kindern meistens in der Obhut der Mutter. Obwohl es kein sofortiges Stigma rund um die Scheidung gibt, mag die Einstellung der lokalen Gemeinden gegenüber geschiedenen Frauen abweichen. Eine Wiederverheiratung nach einer Scheidung ist verbreitet.
Generell werden Schwangerschaften vor der Hochzeit verschleiert und verneint, weshalb Frauen manchmal medizinische Probleme bezüglich ihrer Reproduktivität riskieren. Die Entdeckung einer schwangeren unverheirateten Frau würde von der Familie und der Gesellschaft als Beschmutzung der Familienehre angesehen und die Frau würde stigmatisiert bzw. möglicherweise sogar physisch attackiert werden. Außerdem würde die Großfamilie möglicherwiese die Mutter und das Kind verbannen bzw. würde der Clan diese nicht weiter schützen. Es ist berichtet worden, dass Mütter mit unehelichen Kindern mitunter gezwungen werden, in Gegenden von lokalen Sexarbeitern zu leben.
Zusammenfassung und Anleitung
Sind die Handlungen als Verfolgung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie einzustufen?
Einige der zuvor beschriebenen Handlungen gegenüber Personen unter diesem Profil sind so schwerwiegend, dass sie als Verfolgung einzustufen sind (etwa körperliche und sexuelle Gewalt). Sofern die Handlungen weniger schwerwiegend sind (etwa Ächtung), sollte die individuelle Überprüfung, ob diese als Verfolgung einzustufen sind, die Schwere und/oder Wiederholung der Handlungen oder den Umstand, ob diese als Kumulierung verschiedener Maßnahmen auftreten, beinhalten.
Was ist die Schwelle des Risikos der Verfolgung (wohlbegründete Furcht)?
Die individuelle Überprüfung, ob für den Antragsteller eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit besteht, in ganz Somalia, also Süd-/Zentralsomalia, Puntland und Somaliland, Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, sollte risikoerhöhende Umstände beinhalten, wie etwa das Vorliegen einer Binnenvertriebenensituation, den Familienstand (z. B. alleinstehende Mutter), Wahrnehmungen der Familie oder der Gesellschaft sowie das Niveau an Unterstützung von einem Hilfs- bzw. Clannetzwerk.
Im Falle von alleinstehenden Frauen und weiblichen Haushaltsvorständen ohne ein Unterstützungs- bzw. Clannetzwerk kann wohlbegründete Furcht vor Verfolgung generell in ganz Somalia, also Süd-/Zentralsomalia, Puntland und Somaliland, angenommen werden.
Sind die Gründe der Verfolgung von Art. 10 Statusrichtlinie umfasst (Zusammenhang)?
Laut den verfügbaren Informationen kann die Verfolgung dieses Profils aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen. So können etwa Frauen mit unehelichen Kindern Verfolgungshandlungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, basierend auf deren gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann (uneheliches Kind), und einer abgegrenzten Identität in Somalia (im Zusammenhang mit Stigmatisierungen durch die Gesellschaft und der Beschmutzung der Familienehre) ausgesetzt sein.
1.3.4. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zu Somalia, Stand: September 2022
Auf den Seiten 94 ff wird eine Einschätzung hinsichtlich des Risikoprofils von Frauen und Kindern abgegeben:
Abhängig von den individuellen Umständen des Falles ist UNHCR der Ansicht, dass Frauen, die unter die folgenden Kategorien fallen, wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen:
a) Frauen, die dem Risiko von geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind
b) Frauen, die dem Risiko einer Zwangsverheiratung ausgesetzt sind, bzw. Frauen, die zwangsverheiratet wurden und entkommen sind
c) Frauen, die dem Risiko von FGM ausgesetzt sind, und Frauen, die sich einer Genitalverstümmelung an ihnen selbst oder einem Familienmitglied widersetzt haben
Abhängig von den individuellen Umständen des Falles ist UNHCR der Ansicht, dass Frauen, die unter die folgenden Kategorien fallen, abhängig von den individuellen Umständen des Falles internationalen Schutz benötigen können:
a) Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt
b) Überlebende von FGM
Abhängig von den individuellen Umständen des Falles können Frauen internationalen Schutz aufgrund wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch den Staat oder nicht-staatliche Akteure wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ihrer Religion, ihrer (unterstellten) politischen Gesinnung oder anderer konventionsrelevanter Gründe, in Kombination mit einer generellen Unfähigkeit des Staates, Frauen von solchen Verfolgungshandlungen durch nicht-staatliche Akteure zu schützen, benötigen.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin
Die Feststellungen hinsichtlich des Namens der BF, ihres Geburtsdatums, ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Clan- bzw. Religionszugehörigkeit sowie ihrer Muttersprache werden anhand ihrer dahingehend übereinstimmenden Angaben im Zuge des gegenständlichen Verfahrens getroffen.
Die Feststellungen hinsichtlich des Herkunftsortes der BF ergeben sich aus ihren gleichbleibenden Angaben im verwaltungsbehördlichen und im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren. Die Feststellungen hinsichtlich der dort noch lebenden Verwandtschaft ergibt sich insbesondere aus der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 19.04.2024.
Die Feststellung, dass die BF Mutter zweier in Österreich geborener Kinder ist, ergibt sich aus ihren Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Die Feststellung hinsichtlich der strafrechtlichen Unbescholtenheit der BF stützt sich auf den im Verwaltungsakt einliegenden Strafregisterauszug.
2.2. Zu den Fluchtgründen
Die seitens der BF vorgebrachten Fluchtgründe sind aufgrund ihrer widersprüchlichen und unplausiblen sowie vagen Angaben als nicht glaubhaft einzustufen.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht dabei folgende Erwägungen in Betracht:
Die BF brachte in der Erstbefragung am 03.11.2020 (sinngemäß) als Fluchtgrund vor, sie habe im Jahr 2013 heimlich geheiratet und sei schwanger geworden. Ihre Verwandtschaft sei mit der Ehe nicht einverstanden gewesen. Sie und ihr Ehemann seien von ihrem Bruder geschlagen worden. Der Ehemann habe dann im Jahr 2014 die Flucht ergriffen und sei aus Somaliland ausgereist. Der Schwiegervater habe sie zwangsverheiraten wollen. Sie habe das aber nicht gewollt, daraufhin habe dieser sie geschlagen und eingesperrt. Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Schwiegervater sie umbringen werde.
In der Einvernahme vor dem Bundesamt am 02.12.2021 gab sie im Wesentlichen als Fluchtgrund an, ihre Familie sei gegen eine Heirat gewesen, da ihr Ehemann aus einem niedrigeren Clan als sie stamme. Als die Familie der BF erfuhr, mit wem die BF heimlich die Ehe eingegangen habe und von wem sie schwanger geworden sei, habe sie der Onkel eingesperrt und geschlagen. Dadurch habe sie ihr Kind verloren. Der Vater ihres Ehemannes sei von der Verwandtschaft der BF getötet worden. Daraufhin habe der Ehemann die Flucht ergriffen und sei im Jahr 2014 aus Somaliland geflohen. Ihr Onkel habe die BF zwangsverheiraten wollen. Sie sei dann im Jahr 2016 nach Äthiopien geflohen und von dort sei sie weiter nach Europa und schlussendlich nach Österreich eingereist. Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Onkel und ihr Bruder sie umbringen würde.
Festzuhalten ist, dass diese angeführten Verfolgungsgründe weder bewiesen noch hinreichend belegt worden sind. Daher ist zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, auf die persönliche Glaubwürdigkeit der BF und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen:
Die BF bringt in der Erstbefragung vor, dass ihr Schwiegervater sie geschlagen und eingesperrt habe, hingegen bei der Einvernahme vor dem Bundesamt sei es der Onkel gewesen. Auf Vorhalt des Bundesamtes zu diesem Widerspruch meinte die BF dass es sich um einen Übersetzungsfehler handeln könne. Der Dolmetscher wurde dann gebeten, das somalische Wort für Onkel und Schwiegervater zu nennen, wobei Onkel für „Adeer“ steht und Schwiegervater für „Sodog“. Es wurde jedoch auch angemerkt, dass es sein könne, dass andere Wörter in verschiedenen somalischen Dialekten verwendet werden. Festzuhalten ist jedoch, dass der BF das Protokoll der Erstbefragung rückübersetzt worden ist und sie angab, dass dieses korrekt geführt worden sei. Sie sei sich nur nicht immer ganz sicher gewesen, ob sie die erfassten Geburtsdaten ihrer Verwandten korrekt angegeben habe (AS 106).
Ein weiterer wesentlicher Punkt, in dem sich die Angaben in der Erstbefragung von jenen bei der Einvernahme vor dem Bundesamt unterscheiden, ist, dass die BF in der Erstbefragung noch angab, dass ihr Mann aufgrund ihres gewalttätigen Bruders die Flucht ergriffen habe, während sie in der Einvernahme vor dem Bundesamt dann vorbrachte, er sei geflüchtet, da sein Vater von der Verwandtschaft der BF getötet worden sei (AS 114). Auch wenn § 19 Abs. 1 AsylG 2005 primär der Identitätsfeststellung und der Beschreibung der Fluchtroute dient, somit nicht auf Details von Fluchtgründen abstellen soll, geht es hier um eine wesentliche Änderung der geschilderten Fluchtgeschichte der BF hinsichtlich der Ausreise ihres Ehemannes. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein solch prägendes Erlebnis - hier ein Mord am Vater ihres Ehegatten durch die eigene Verwandtschaft - auch unter Berücksichtigung des psychischen und physischen Zustandes der BF bereits im Rahmen der Erstbefragung erwähnt werden würde.
Was das Vorbringen der BF über ihre heimliche Ehe mit Herrn Khadar HASAN betrifft, so geht aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Somalia vom 08.01.2024 (Version 6) hervor, dass es gerade im städtischen Gebiet zunehmend möglich ist, den Ehepartner selbst zu wählen (AS 205ff). Aus dem „Report Somalia: Marriage and divorce“ (der Landinfo Norwegen vom 14.06.2018, S. 11ff), geht hervor, dass solche heimlichen Ehen in ganz Somalia üblich sind und akzeptiert werden. Aus diesem Report geht nur ein Bericht hervor, dass eine dieser Ehen einen tragischen Ausgang hatte, indem die Mutter des Mannes die Herkunft des Mädchens nicht wollte und eine Abtreibung verlangte. Bei diesem Eingriff starb das Mädchen. Ein solcher Einzelfall kann aber nicht so weiteres auf die BF übertragen werden. Diese stammt aus der Stadt Boorame im Somaliland, welches hinsichtlich staatlicher Maßnahmen insbesondere gegen Zwangsheirat und häuslicher Gewalt am fortschrittlichsten gilt. So geht aus der Länderinformation zu Somalia hervor: „Zwangsehen sind im Rahmen des Sexual Offences Act vom April 2018 verboten. Im März 2019 hat ein Gericht auf Basis des Gesetzes erstmals eine Scheidung genehmigt, betroffen war ein 14-jähriges, mit elf Jahren zwangsverheiratetes Mädchen in Laascaanood. Von den gesetzlich vorgesehenen Haftstrafen (5-10 Jahre) für Vater und Ehemann war zugunsten der „Familienharmonie“ abgesehen worden.
Häusliche Gewalt bleibt weiterhin ein Problem Prinzipiell können sich Frauen in solchen Fällen zwar an Behörden wenden, in der Praxis gestaltet sich dies allerdings schwierig (FIS 5.10.2018, S. 33). Die NGO WAAPO führt Frauenhäuser in Hargeysa, Borama und Burco. Das Angebot richtet sich an Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt und von FGM und dient auch dem Kinderschutz. Ein weiteres Frauenhaus soll in Sanaag entstehen (UNOCHA 2022). 2021 hat UNFPA gemeinsam mit dem somaliländischen Sozial- und Familienministerium eine 24-Stunden-Hotline eingerichtet, an welche sich Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt richten können. Bereits in den ersten Monaten konnte über hundert Opfern geholfen werden, u. a. durch Beratung und Vermittlung. Die Nummer der Hotline wird z. B. über das Radio verbreitet (UNFPA 28.10.2021).“
Ob dabei die Ehe der BF und Herrn Khadar HASAN nun den formalen Kriterien einer gültigen (heimlichen) Heirat in Somalia entsprochen hat (Ehevertrag, Anwesenheit zweier Zeugen und eines Sheiks) oder die Gültigkeit einer heimlichen Heirat generell unter somalischen Theologen umstritten ist (Report Somalia: Marriage and divorce“ [der Landinfo Norwegen vom 14.06.2018, S. 11ff]), kann dahingestellt bleiben. Primär geht es um die Glaubwürdigkeit der BF hinsichtlich ihrer Angaben, dass sie infolge ihrer heimlichen Ehe als Frau häuslicher Gewalt und einer drohenden Zwangsverheiratung ausgesetzt gewesen sei, bzw. bei einer Rückkehr ausgesetzt wäre. Dabei ist auffällig, dass die BF in der Einvernahme vor dem Bundesamt angibt, sie sei 2014 von ihrem Onkel zwei Mal eingesperrt worden: das erste Mal als sie erfahren habe, dass sie schwanger gewesen sei, für drei Monate und das zweite Mal für einen Monat, als sie sich geweigert habe, den alten Mann zu heiraten (AS 113). Danach habe sie der Zwangsheirat zugestimmt um „rauzukommen“ (AS 112). Sie sei dann Anfang des Jahres 2016 mit Hilfe ihrer Mutter aus ihren Herkunftsort geflüchtet. Wenn die BF angibt, dass sie für ca. vier Monate im Jahr 2014 eingesperrt gewesen sei und danach wieder freikam, muss sie anscheinend ca. zwei Jahre noch in ihrem Herkunftsort gelebt haben, bis sie tatsächlich Somaliland verlassen hat, um nach Äthiopien zu reisen. Bei einem solch groß verfügbaren Zeitrahmen hätte die BF auch zur Polizei gehen können und eine Anzeige über die erlebten Geschehnisse - wie insbesondere Freiheitsentzug durch den Onkel und Mord am Vater des Ehemannes - erstatten können. Aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Somalia geht hervor, dass Sicherheitsbehörden Ermittlungen gegen Mordfälle anstrengen und es zu Verurteilungen kommt, was insbesondere Somalialand betrifft (S. 124 und 142). Wie oben angeführt bestehen auch Angebote, sich als Frau vor häuslicher Gewalt zu schützen. In diesem Zusammenhang ist ihre Aussage vor dem Bundesamt unplausibel, dass sie keine staatliche Behörde oder anderweitige Organisation aufsuchen habe können, weil sie nicht viel Zeit gehabt habe und ihr Bruder und ihr Onkel sie umbringen hätten wollen. Es ist daher davon auszugehen, dass die BF letztlich aus anderen Gründen ihren Herkunftsort verlassen hat.
Auch die Tatsache, dass die BF drei Schwestern im Alter von 18 bzw. 21 Jahren hat, jedoch über keine derartigen Vorkommnisse bezüglich einer möglichen Zwangsheirat berichtete, obwohl sich diese nach wie vor im Herkunftsort der BF aufhalten (Verhandlungsprotokoll S. 3), spricht dafür, dass eine Zwangsverheiratung in der Familie der BF nicht praktiziert wird.
Selbst bei Wahrheitsunterstellung der von der BF vorgebrachten Behauptungen, geht aus der Länderinformation zu Somalia hervor, dass es in Somalia keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche soziale Normen überschritten haben, gibt. Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen.
Ein solches Ereignis lässt sich jedoch nicht aus den Angaben der BF entnehmen. Dabei ist insbesondere darauf zu verweisen, dass dem Vorbringen der BF eine solche „soziale Überschreitung“ gar nicht zu entnehmen ist: Ihre Angaben, ihr Mann stamme aus einem Minderheitenclan und sie selbst aus einem Mehrheitsclan stimmen nicht mit tatsächlichen Gegebenheiten in Somalia überein. Die BF und ihr Ehemann stammen vielmehr aus demselben Clan der Gadabursi aus der noblen Clan Familie der Dir. Die Gadabursi stellen im Herkunftsgebiet der BF und des Ehemannes die Mehrheit dar. Nach den Angaben der BF ist der Ehemann der BF auch keiner ethnischen Minderheit oder berufsständischen Minderheit zuzuordnen. Somit muss nicht näher auf die Problematik einer Mischehe, wenn ein Ehepartner einer „berufsständischen Minderheit“ angehört, eingegangen werden.
Wie das Bundesamt bereits auch im bekämpften Bescheid richtig begründete, ergaben sich schließlich auch auffallende zeitliche Widersprüche zwischen den Aussagen von der BF und ihren Ehemann. Während dieser in der Einvernahme vor dem Bundesamt am 04.05.2017 (Zahl: 14-1027632306/14862568) angab, dass die Familie der BF im Jänner 2014 von der Schwangerschaft erfahren habe (AS 77), gab die BF in der Einvernahme vor dem Bundesamt an, dass sie das im zweiten Schwangerschaftsmonat getan habe (AS 114), somit ca. im Oktober 2013. (Diese Berechnung beruht auf den Angaben der BF, die zuerst in der Einvernahme vor dem Bundesamt angab, sie habe ihren Ehemann Ende 2013 heimlich geheiratet. Auf Vorhalt des Bundesamtes, dass ihr Ehemann August 2013 als Datum angab, antwortete sie: „Ich denke August fällt noch ins Ende des Jahres“ [AS 110]. Nach ca. einen Monat der Heirat habe sie dann die Symptome der Schwangerschaft gespürt, also im September 2013.)
Ein weiterer zeitlicher Widerspruch ergibt sich darin, dass der Ehegatte in der Einvernahme vor dem Bundesamt angab, er habe von der Schwangerschaft November/Dezember 2013 erfahren, während die BF angab, dass sie zu diesem Zeitpunkt beim Arzt gewesen sei, der ihr mitgeteilt habe, dass sie ihr zweieinhalb Monate altes Baby verloren habe (AS 113).
Abschließend ist auch die Rolle des Vaters der BF nicht nachvollziehbar geschildert: so ist nicht plausibel, dass die BF ihren Vater kaum erwähnt hat. Dazu führt sie nur in der Einvernahme vor dem Bundesamt aus, dass dieser in der Zeit, wo sie geschlagen worden sei und ihr Kind verloren habe, verstorben sei (AS 112). Die BF gab an, im Jahr 2014 eingesperrt worden zu sein und zwar für ca. vier Monate. Gleichzeitig gibt sie aber auch an, dass ihr Vater Ende 2014/ Anfang 2015 verstorben sei. Der Vater muss somit die Situation der BF noch miterlebt haben und es scheint nicht plausibel warum (nur) der Onkel die Vormundschaft der BF innehatte. Die ausgeführten vagen Angaben der BF lassen eher darauf schließen, dass sie im Bemühen um eine konstruierte Geschichte zeitliche Abläufe nicht nachvollziehbar wiedergeben konnte. Im Ergebnis konnte die BF keine drohende asylrelevante Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat glaubhaft machen, insbesondere nicht, dass Mitglieder ihrer eigenen Familie oder der Familie ihres Mannes sie umbringen oder in geschützten Rechten verletzten würden – dies vor dem Hintergrund einer (angeblich) sozial unerwünschten Ehe.
2.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche über Somalia bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu Spruchteil A) Abweisung der Beschwerde
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (in der Fassung des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182; VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0083; VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0113; VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080) ist unter "Verfolgung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (Hinweis E vom 24. März 2011, 2008/23/1443, mwN).
§ 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt "Verfolgung" als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter.
Gemäß Art. 9 Abs. 1 lit a und f Statusrichtlinie können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt bzw. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind, als „Verfolgung“ angesehen werden.
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt festgehalten (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 27.06.1995, 94/20/0836; VwGH 23.07.1999, 99/20/0208; VwGH 21.09.2000, 99/20/0373; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509, mwN; VwGH 12.09.2002, 99/20/0505; VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177), dass eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant ist, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256, mwN).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichen Schutzes einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Auflage [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509, mwN; VwGH 20.09.2004, 2001/20/0430; VwGH 17.10.2006, 2006/20/0120; VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191).
Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von Anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert wird. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191).
Wie bereits in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, konnte die BF keine drohende asylrelevante Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat Somalia glaubhaft machen.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher im Ergebnis als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde im Zuge der rechtlichen Beurteilung wiedergegeben. Ob ein Fluchtvorbringen als glaubhaft einzustufen ist, ist zudem auf Ebene der Beweiswürdigung zu beurteilen.