Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr.in Zeitfogel, über die Revision der A Y, vertreten durch Mag. Dr. Peter Wagesreiter, Rechtsanwalt in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. April 2025, W119 2308143 1/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige der Volksrepublik China und Angehörige der Volksgruppe der Han, stellte am 26. September 2024 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen damit begründete, als Christin von der Familie ihres Ehemannes, die der Religionsgemeinschaft des Buddhismus angehöre, geschlagen und später für den Tod ihres Schwiegervaters verantwortlich gemacht worden zu sein. China sei nicht gewillt, sie vor häuslicher Gewalt zu schützen. Als Christin sei ihr der Zugang zu sozialen Leistungen einschließlich medizinischer Versorgung verwehrt.
2Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 23. Jänner 2025 zur Gänze ab, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Volksrepublik China zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde der Revisionswerberin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 Es legte seiner Entscheidung zusammengefasst Folgendes zugrunde:
5 Die Revisionswerberin habe keine asylrelevante Verfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit glaubhaft machen können. Insbesondere habe sie nicht glaubhaft machen können, dass sie von ihrem Ehemann und dessen Familie misshandelt und für den Tod ihres Schwiegervaters verantwortlich gemacht worden sei, weil sie Christin sei.
6 Bei einer Rückkehr nach China könne sie grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Sie könne arbeiten und ihren Lebensunterhalt finanzieren und bei den noch in China ansässigen Angehörigen wohnen. Sie sei keine mittellose, alleinstehende Frau.
7 Mit dem erstmals in der Beschwerde erstatteten Vorbringen, die Revisionswerberin sei aufgrund der Intensität der Übergriffe vor der Familie ihres Ehemannes in die Stadt Guizhou geflohen und habe, als diese sie dort aufgespürt hätte, das Land verlassen, verstoße die Revisionswerberin gegen das Neuerungsverbot, weil nicht nachvollziehbar sei, warum sie vor dem BFA nicht erwähnt habe, von ihren angeblichen Verfolgern gefunden worden zu sein. Auch mit dem Vorbringen, aufgrund von Problemen mit der Registrierung im „Hokou System“ (Wohnrechtsregistrierung) fehle ihr die Lebensgrundlage, verstoße die Revisionswerberin gegen das Neuerungsverbot, weil sie dies vor dem BFA „nicht ansatzweise behauptet“ habe. Das gleiche gelte für das Beschwerdevorbringen, nach dem ihr Ehemann und sie sich als Eltern von drei Kindern aufgrund hoher Strafzahlungen wegen des Verstoßes gegen die „Ein Kind Politik“ verschuldet hätten. Es wäre der Revisionswerberin möglich gewesen, diesbezügliches Vorbringen bereits im behördlichen Verfahren zu erstatten. Dass ihr nicht bewusst gewesen sei, welche Folgen die Verschuldung und die (daraus resultierende) Nicht-Registrierung im „Hokou System“ für sie in China hätten, sei nicht glaubhaft. Es sei davon auszugehen, dass die Revisionswerberin aufgrund der Nichtgewährung von Asyl durch das BFA versucht habe, im Beschwerdeverfahren ihr bisheriges Vorbringen „auszubauen“, um doch noch Asyl bzw. „zumindest“ subsidiären Schutz zu erhalten. Daher sei von Missbrauchsabsicht auszugehen.
8Durch die angeordnete Rückkehrentscheidung liege keine Verletzung des Art. 8 EMRK vor, weil eine Gesamtschau der individuellen Umstände ergebe, dass die privaten Interessen der Revisionswerberin an einem Verbleib im Bundesgebiet die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung nicht überwiegen würden.
9 Eine mündliche Beschwerdeverhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFAVG iVm. § 24 Abs. 4 VwGVG unterbleiben können. Das BFA habe ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren geführt, in dessen Rahmen die Revisionswerberin einvernommen worden sei. Eine Verhandlung hätte zu keiner weiteren Klärung der Sache geführt. Der maßgebliche Sachverhalt sei aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen, aktuell und vollständig.
10 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, das BVwG sei angesichts des Beschwerdeinhaltes von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen. Die Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG seien nicht vorgelegen. Das BFA habe sich im Bescheid beweiswürdigend auf Abweichungen zwischen den Aussagen der Revisionswerberin in der Ersteinvernahme und der Einvernahme vor dem BFA gestützt. Wenn das BFA es etwa als widersprüchlich gewertet habe, dass die Revisionswerberin in der Erstbefragung angegeben habe, von ihren Schwiegereltern „nur geschlagen“ worden zu sein, während sie in der Einvernahme angegeben habe, „auch beschimpft“ worden zu sein, so stelle dies eine Ergänzung bzw. Konkretisierung der Angaben bei der Erstbefragung und keinen Widerspruch dar. Dies habe die Revisionswerberin in der Beschwerde ausgeführt und sei somit den Feststellungen der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Das BFA habe sich außerdem überhaupt nicht mit der geltend gemachten Verfolgung der Revisionswerberin als Christin auseinandergesetzt. Weiters habe die Revisionswerberin in der Beschwerde dargelegt, dass die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt unvollständig und teilweise unrichtig seien. Das BVwG habe sich mit alldem nicht auseinandergesetzt und eine nachvollziehbare Begründung unterlassen, warum das Beschwerdevorbringen dem Neuerungsverbot unterliegen sollte.
11 Das BFA erstattete im vom Verwaltungsgericht durchgeführten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revision ist zulässig und begründet.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 erster Fall BFA VG nur dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFAVG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018; sowie zuletzt etwa VwGH 14.3.2025, Ra 2024/18/0344, mwN).
14 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird nicht entsprochen:
15 Die Revisionswerberin hat in der Beschwerde den durch das BFA erhobenen Sachverhalt es sei nicht glaubhaft, dass die Revisionswerberin (aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit) häusliche Gewalt durch die Familie ihres Ehemannes erfahren habe nicht bloß unsubstantiiert bestritten. So brachte sie etwa vor, die arrangierte Ehe mit ihrem Ehemann sei von respektlosem Verhalten und häuslicher Gewalt geprägt gewesen, es sei regelmäßig zu schweren Übergriffen durch ihn und seine Familie gekommen. Dies habe u.a. damit zu tun gehabt, dass sie Christin sei und sich nicht wie die Familie ihres Ehemannes zum Buddhismus bekenne. Sie habe weder von ihren Kindern noch von ihren Eltern Hilfe erhalten. In ihrem Herkunftsort gäbe es kein Frauenhaus oder eine ähnliche Einrichtung, es sei auch nicht üblich, sich mit familiären Problemen an die Polizei zu wenden und sie hätte gewusst, dass ihr die Polizei nicht helfen würde. Anhand einer Evaluierung zur Umsetzung der Frauenrechte Konvention der Vereinten Nationen aus Mai 2023 zeigte die Revisionswerberin überdies auf, dass Zweifel an der ausreichenden Schulung von Polizei, Opferschutzeinrichtungen und Gerichten in China betreffend Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt bestünden.
16 Ebenso bestritt die Revisionswerberin die Feststellungen des BFA, wonach sie sich im Falle der Rückkehr in der Anfangszeit von ihren Angehörigen unterstützen lassen und bei ihnen wohnen könne, in der Beschwerde auf substantiierte Weise, indem sie vorbrachte, weder auf Unterstützung durch ihren Ehemann oder ihre Kinder, die allesamt „auf der Seite der Schwiegereltern“ stünden, noch durch ihre Eltern, die alt seien, zählen zu können.
17 Der Feststellung des BFA, die Revisionswerberin könne überdies „im Zweifelsfall“ auf die in China vorhandene Grundversorgung zurückgreifen, trat die Beschwerde konkret entgegen, indem sie vorbrachte, der Revisionswerberin werde die Wohnrechts Registrierung im „Hokou System“, welche die Voraussetzung für den Zugang zu sozialen und medizinischen Leistungen darstelle, nicht gelingen, weil sie vermögenslos und aufgrund von Strafzahlungen verschuldet sei sowie keinen gesicherten Lebensunterhalt aufweisen könne.
18 Soweit das BVwG diesbezüglich eine Verletzung des Neuerungsverbotes und eine missbräuchliche Absicht der Revisionswerberin, das Verfahren zu verzögern, annahm, ist festzuhalten, dass das Beschwerdevorbringen in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den Äußerungen der Revisionswerberin zu ihrer finanziellen Situation vor dem BFA stand und diese näher erläuterte. Entgegen der Ansicht des BVwG lässt sich alleine daraus, dass ein bestimmtes Vorbringen schon in einem früheren Verfahrensstadium erstattet werden hätte können, keine missbräuchliche Verfahrensverzögerung ableiten.
19 Angesichts dieses Beschwerdevorbringens durfte das BVwG unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen und hätte eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
20 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des wie hier gegebenArt. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa VwGH 13.3.2025, Ra 2024/18/0441, mwN).
21Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
23Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. November 2025
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