JudikaturVwGH

Ra 2024/14/0145 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
24. Januar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Dr. in Sembacher und Mag. Bayer als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Kreil, MA, über die Revision des mj. M S, vertreten durch den Kinder und Jugendhilfeträger des Landes Oberösterreich, dieser vertreten durch Mag. Philipp Stossier, Rechtsanwalt in 4600 Wels, Dragonerstraße 54, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2024, W114 2281476 1/9E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der minderjährige Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Syriens arabischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 28. Juli 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er mit der Sicherheitslage in Syrien und der Angst, zum Wehrdienst eingezogen zu werden, begründete.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 7. September 2023 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine auf die Dauer eines Jahres befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Das Bundesverwaltungsgericht stützte seine Erwägungen darauf, dass dem Revisionswerber in seinem unter kurdischer Kontrolle liegenden Herkunftsort „Al Tabaqah (Gouvernement Raqqa)“ mangels Kontroll und Zugriffsmöglichkeiten des syrischen Regimes nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe, zum Militärdienst in der syrischen Armee einberufen zu werden. Auch durch andere Gruppen oder Milizen, insbesondere kurdische Kräfte, drohe ihm im Falle einer Rückkehr keine Einziehung zum Militärdienst und auch keine sonstige asylrelevante Verfolgung. Dieser Status würde sich bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit am 1. Jänner 2026 verlängern. Der Revisionswerber sei aus wirtschaftlichen Überlegungen geflüchtet, eine verinnerlichte politische Überzeugung, die zur Verweigerung der kurdischen Selbstverteidigungspflicht führen würde, sei nicht hervorgekommen, weshalb ein Konnex zu einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe nicht vorliege. Die Einreise in seine Herkunftsregion sei dem Revisionswerber über einen von der syrischen Regierung nicht kontrollierten Grenzübergang möglich.

5 Die dagegen gerichtete außerordentliche Revision bringt zusammengefasst vor, das Bundesverwaltungsgericht habe den Herkunftsort des Revisionswerbers unrichtig festgelegt. In dem vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Herkunftsort habe sich der Revisionswerber mit seinen verbliebenen Familienmitgliedern auf der Flucht nur vorübergehend für ein Jahr aufgehalten. Richtigerweise hätte das Bundesverwaltungsgericht Se’Alow im Gouvernement Deir ez Zor annehmen müssen. Auch beim angenommenen Herkunftsort habe das Bundesverwaltungsgericht übersehen, dass dort nach den eigenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts Regierungsenklaven und Sicherheitsquadrate der syrischen Regierung vorhanden seien. Es bestehe eine Gefahr der willkürlichen Zwangsrekrutierung. Zudem habe das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Minderjährigkeit des Revisionswerbers zu Unrecht den Konnex mit einem der in der GFK genannten Gründe verneint. Schließlich wendet sich die Revision noch gegen die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dem Revisionswerber drohe keine Zwangsrekrutierung durch kurdische Truppen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Behörden und Gerichtsakten ein Vorverfahren durchgeführt, eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision erweist sich aufgrund der von ihr aufgeworfenen Fragen als zulässig; sie ist auch begründet:

8 Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist (vgl. etwa VwGH 27.6.2017, Ra 2017/18/0005, mwN).

9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in Fällen, in denen Asylwerber nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang aufgrund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen (vgl. VwGH 30.4.2021, Ra 2021/19/0024, mwN).

10 Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (vgl. wiederum VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192, mwN).

11 Das Bundesverwaltungsgericht legte seiner Entscheidung die Annahme zugrunde, der Herkunftsort des Revisionswerbers sei in jenem Ort gelegen, an dem sich der Revisionswerber im letzten Jahr vor seiner Ausreise aufgehalten habe. Ausgehend davon ließ das Bundesverwaltungsgericht jedoch bei der Beurteilung der Frage, ob der Revisionswerber zu seinem neuen Aufenthaltsort enge Bindungen entwickelt hat, wesentliche Aspekte unberücksichtigt.

12 Nach dem Vorbringen der Revision hat der Revisionswerber bis zu seiner Ausreise den überwiegenden Teil seines Lebens in seinem Geburtsort verbracht. Sowohl der Revisionswerber als auch seine Familie hatten sich nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts in dem von ihm angenommenen Herkunftsort nur ein Jahr vor dessen Ausreise aufgehalten, dort von Almosen gelebt. Weitere Unterstützungsleistungen konnte das Bundesverwaltungsgericht nicht feststellen. Darüberhinaus mangelt es dem angefochtenen Erkenntnis an Feststellungen zu etwaigen Bindungen zum angenommenen Herkunftsort.

13 Dies vermag vor dem Hintergrund der oben dargestellten Rechtsprechung die Annahme dieses Ortes als Herkunftsort nicht zu stützen. Auch lässt das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang die Minderjährigkeit des Revisionswerbers völlig außer Acht.

14 Da das Bundesverwaltungsgericht seine Prüfung der Bindungen des Revisionswerbers an den neuen Aufenthaltsort im Wesentlichen auf den Aspekt der Aufenthaltsdauer von einem Jahr beschränkte, während es wie die Revision im Ergebnis zutreffend aufzeigt eine Prüfung der Bindungen des Revisionswerbers an seinen Geburtsort gänzlich unterließ, hat es das angefochtene Erkenntnis schon deshalb mit wesentlichen Ermittlungs und Begründungsmängeln belastet.

Damit fehlt es jedoch auch an einer rechtlich einwandfreien Grundlage für die Beurteilung, ob dem Revisionswerber vor dem Hintergrund seines Vorbringens, er habe bereits aus seinem Heimatort fliehen müssen, bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus einem der in der GFK genannten Gründe droht (vgl. VwGH 5.11.2024, Ra 2024/14/0244, mwN).

15 Im fortgesetzten Verfahren wird sich das Bundesverwaltungsgericht mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zu den Bindungen zu seinem Geburtsort und jenen im Aufenthaltsort vor der Ausreise ebenso auseinandersetzen müssen, wie mit der (auf die Bestimmung der Heimatregion aufbauenden) Frage, ob dem Revisionswerber an seinem Geburtsort so dieser als Heimatregion zu qualifizieren sei zum Entscheidungszeitpunkt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung drohe.

16 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mangelhaft begründet und war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Jänner 2025

Rückverweise