Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie die Hofräte Mag. Stickler, Mag. Cede und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision der K K in S, vertreten durch Mag. Franjo Schruiff, LL.M., Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 14/7a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Jänner 2024, W260 2270891 1/10E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Tulln), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit dem angefochtenen, im Beschwerdeweg ergangenen Erkenntnis sprach das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 10 iVm § 38 AlVG aus, dass die Revisionswerberin für den Zeitraum 11. Jänner 2023 bis 21. Februar 2023 ihren Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe.
2 Die zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) habe der Revisionswerberin am 27. Dezember 2022 eine Beschäftigung als Assistentin für Foto und Filmproduktion zugewiesen. Es sei eine Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 20 bis 30 Wochenstunden mit einem kollektivvertraglichen Mindestentgelt und Bereitschaft zur Überzahlung geboten worden. Die Revisionswerberin habe sich auf diese Stelle nicht beworben, was sie u.a. mit der nicht ausreichenden Bezahlung begründet habe.
3 Nach dem anzuwendenden Kollektivvertrag Gewerbe, Handwerk und Dienstleistung gebühre in der Verwendungsgruppe I im 1. und 2. Verwendungsjahr ein monatliches Mindestentgelt von € 1.568,92. Diesen Tarif habe der potentielle Dienstgeber, indem er ein Mindestentgelt in der Höhe von € 1.586,92 angeboten habe, angewendet. Die Revisionswerberin habe dem entgegen gehalten, dass diese Einstufung nur für Hilfstätigkeiten gelten würde. Bei der ausgeschriebenen Stelle hätte es sich aber um keine einfachen Hilfstätigkeiten gehandelt, vielmehr wäre Fachpersonal gesucht worden, forderte doch das Anforderungsprofil u.a. fachliche Ausbildungen, Fotografiekenntnisse, Videoschnitt usw. Nach ihrem Studium der Kamera und Bildtechnik und knapp zwanzigjähriger Erfahrung würde die Revisionswerberin diese Voraussetzungen erfüllen, allerdings wären das keine Hilfstätigkeiten. Die angebotene Entlohnung wäre daher nicht zumutbar.
4 Dem sei entgegenzuhalten, so das Bundesverwaltungsgericht, dass die Revisionswerberin im Bezug von Notstandshilfe stehe und ihr daher kein Berufsschutz zukomme. Bei der zugewiesenen Stelle handle es sich um eine Assistentenstelle für die Foto und Filmproduktion. Der Aufgabenbereich beinhalte laut Stellenanzeige u.a. die Mithilfe bei der Organisation des laufenden Studiobetriebs, Betreuung von Social Media, Assistenz bei Fotoshooting und Filmdrehs, Produktionsassistenz sowie Bürotätigkeiten, Fotobearbeitung, Videoschnitt, vereinzelt Einsatz als Fotografin oder Kamerafrau sowie Kontakt mit Kunden. Diese Tätigkeiten stellten „typische Assistententätigkeiten“ dar.
5 Der potentielle Dienstgeber habe den korrekten Kollektivvertragstarif angewendet. Die Bezahlung entspreche den kollektivvertraglichen Mindesterfordernissen und sei nicht von vornherein unzumutbar. Es sei auch hervorzuheben, dass Bereitschaft zur Überzahlung bestehe. Daher wäre es an der Revisionswerberin gelegen gewesen, sich zu bewerben und beim Vorstellungsgespräch die genauen Modalitäten der ausgeschriebenen Stelle, vor allem hinsichtlich der konkret geforderten Tätigkeit und der konkreten Bezahlung, zu klären. Der Einwand bezüglich der zu geringen Bezahlung gehe daher ins Leere.
6 Die Angaben der Revisionswerberin erweckten insgesamt den Eindruck, dass sie sich primär deswegen nicht beworben habe, weil ihr der angebotene Job zu „minder“ gewesen sei und nicht, weil die Bezahlung zu schlecht gewesen sei.
7 Zum Vorliegen einer Vereitelungshandlung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Revisionswerberin zumindest bewusst sein habe müssen, dass das Arbeitsverhältnis durch ihr Verhalten nicht zustande kommen könnte.
8 Da auch keine berücksichtigungswürdigen Gründe im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG vorgelegen seien, sei die Entscheidung des AMS nicht rechtswidrig gewesen.
9 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet erwogen hat:
11 Die Revisionswerberin wendet sich unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG zunächst gegen die Anwendung des Kollektivvertrags für Gewerbe, Handwerk und Dienstleistung. Der potentielle Dienstgeber habe eine Gewerbeberechtigung für Filmproduktion und Berufsfotografie und biete individuelle Entwicklung und Umsetzung von Foto und Filmprojekten an. Der wirtschaftliche Zweck sowie die Gewerbeberechtigung des potentiellen Dienstgebers seien dem fachlichen Geltungsbereich des Kollektivvertrags für Gewerbe, Handwerk und Dienstleistung nicht zuordenbar.
12 Dieses Vorbringen ist nicht nachvollziehbar, weil der genannte Kollektivvertrag nach seinem § 1 u.a. von der Bundesinnung der Berufsfotografen abgeschlossen wurde und nach seinem § 2 in fachlicher Hinsicht für alle Betriebe gilt, die einem der vertragschließenden Arbeitgeberverbände angehören. Dass der potentielle Dienstgeber der Bundesinnung der Berufsfotografen angehört, wird in der Revision aber nicht in Abrede gestellt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass dies nicht seiner Gewerbeberechtigung und der ausgeübten Tätigkeit entsprechen würde.
13 Die Revisionswerberin rügt aber auch eine unrichtige Zuordnung zur Verwendungsgruppe I des Kollektivvertrags. Die auf dieser Einstufung statt auf einer Zuordnung zur Verwendungsgruppe III beruhende angebotene Bezahlung sei unterkollektivvertraglich und mache die angebotene Beschäftigung daher mangels angemessener Entlohnung unzumutbar.
14 Mit diesem Vorbringen ist die Revisionswerberin im Ergebnis im Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.
15 Gemäß § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen, sich zum Zwecke beruflicher Ausbildung nach- oder umschulen zu lassen, an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilzunehmen, von einer sonst sich bietenden Arbeitsmöglichkeit Gebrauch zu machen und von sich aus alle gebotenen Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung zu unternehmen, soweit dies entsprechend den persönlichen Fähigkeiten zumutbar ist.
16 Gemäß § 9 Abs. 2 AlVG ist eine Beschäftigung zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten der arbeitslosen Person angemessen ist, ihre Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist, in einem nicht von Streik oder Aussperrung betroffenen Betrieb erfolgen soll, in angemessener Zeit erreichbar ist oder eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung steht sowie gesetzliche Betreuungsverpflichtungen eingehalten werden können. Als angemessene Entlohnung gilt grundsätzlich eine zumindest den jeweils anzuwendenden Normen der kollektiven Rechtsgestaltung entsprechende Entlohnung.
17 Gemäß § 10 Abs. 1 AlVG verliert u.a. eine arbeitslose Person, die sich weigert, eine ihr von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, mindestens jedoch für die Dauer der auf die Pflichtverletzung folgenden sechs Wochen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld.
18 Diese Bestimmungen sind gemäß § 38 AlVG sinngemäß auch auf die Notstandshilfe anzuwenden.
19 Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgesprochen, dass in Fällen, in denen Normen der kollektiven Rechtsgestaltung auf ein zugewiesenes Beschäftigungsverhältnis anwendbar sind, diese Normen den verbindlichen Maßstab für die Beurteilung der „angemessenen Entlohnung“ der Beschäftigung im Sinn des § 9 Abs. 2 AlVG darstellen. Das Angebot einer unterkollektivvertraglichen Entlohnung lässt die zugewiesene Beschäftigung trotz der rechtlichen Durchsetzbarkeit des kollektivvertraglichen Mindestlohnes als unzumutbar erscheinen (vgl. zum Ganzen VwGH 1.6.2017, Ra 2016/08/0120, mwN).
20 Zwar entspricht es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass eine arbeitslose Person vom AMS zu einer Beschäftigung zugewiesen werden kann, sofern diese nicht evident unzumutbar ist bzw. das AMS nicht von vornherein (etwa auf Grund eines diesbezüglichen Einwands des oder der Arbeitslosen) Kenntnis von einem die Unzumutbarkeit begründenden Umstand hat. Es liegt dann an der arbeitslosen Person, beim Vorstellungsgespräch mit dem potentiellen Dienstgeber bzw. der potentiellen Dienstgeberin die näheren Bedingungen der bekannt gegebenen Beschäftigungsmöglichkeit zu erörtern (vgl. etwa VwGH 9.6.2015, Ra 2015/08/0004, mwN).
21 Lässt das Stellenangebot aber erkennen, dass der potentielle Dienstgeber von einem unter dem Kollektivvertragstarif liegenden Entgeltanspruch ausgeht, ohne dass es sich dabei um ein offenkundiges (Schreib )Versehen bzw. (wie in dem Fall, der dem soeben zitierten Erkenntnis Ra 2015/08/0004 zugrunde lag) eine bloße (fehlerhafte) Wissensmitteilung handelt, dann ist die Beschäftigung evident unzumutbar und darf der arbeitslosen Person von vornherein nicht zugewiesen werden. Eine dennoch erfolgte Zuweisung kann nicht die unter der Sanktion des § 10 AlVG stehende Verpflichtung zur Bewerbung begründen. Denn selbst wenn die Bereitschaft zur Überzahlung signalisiert wird, liegt ein auch den allfälligen Verhandlungsspielraum über die Entlohnung determinierendes kollektivvertragswidriges Angebot vor, das den gesetzlichen Zumutbarkeitskriterien widerspricht. In einer solchen Situation obliegt es nicht etwa der arbeitslosen Person, im Vorstellungsgespräch eine mit dem Kollektivvertrag im Einklang stehende Entlohnung zu erwirken, sondern ist es Sache des AMS, die potentielle Dienstgeberin auf die notwendige Einhaltung des Kollektivvertrags hinzuweisen, bevor überhaupt eine Zuweisung erfolgen kann.
22 Im vorliegenden Fall wurde im Stelleninserat ein Mindestentgelt von € 1.586,92 brutto pro Monat auf Basis Vollzeitbeschäftigung genannt. Das scheint sich wovon auch das Bundesverwaltungsgericht ausgeht auf das Mindestgrundgehalt für die Verwendungsgruppe I im 1. und 2. Verwendungsjahr laut Angestelltenkollektivvertrag Handel, Gewerbe und Dienstleistung für das Jahr 2022 zu beziehen (dieses Mindestgrundgehalt beträgt richtigerweise € 1.568,92 insoweit dürfte im Inserat ein Schreibversehen unterlaufen sein). Das Mindestgrundgehalt für die Verwendungsgruppe II würde € 1.633,18, für die Verwendungsgruppe III € 2.014,41 betragen.
23 Für die Verwendungsgruppe I werden im Kollektivvertrag folgende Tätigkeitsmerkmale genannt: „Angestellte, die schematische oder mechanische Arbeiten verrichten, die als einfache Hilfsarbeiten zu werten sind“. Tätigkeitsmerkmale der Verwendungsgruppe II sind „Angestellte, die einfache, nicht schematische oder mechanische Arbeiten nach gegebenen Richtlinien und genauer Arbeitsanweisung verrichten, für die in der Regel eine kurze Einarbeitungszeit erforderlich ist“. Beispiele sind Schreibkräfte, FakturistIn mit einfacher Verrechnung, TelefonistIn und Angestellte in Call und Servicecentern mit einfacher Auskunftserteilung, qualifizierte, kaufmännische und administrative Hilfskräfte, InkassantIn ohne facheinschlägige Berufsausbildung, VerkäuferIn im Detailgeschäft, EDV mäßige Erfassung und Sicherung von Daten und Texten, qualifizierte technische Hilfskräfte, Technische ZeichnerIn (CAD) im Sinne der obigen Tätigkeitsmerkmale. Tätigkeitsmerkmale der Verwendungsgruppe III sind „Angestellte, die nach allgemeinen Richtlinien und Weisungen technische oder kaufmännische Arbeiten im Rahmen des ihnen erteilten Auftrages selbständig erledigen“. Beispiele sind Bürokräfte mit Korrespondenztätigkeit, Bürokräfte in Buchhaltung, Bürokräfte mit einfacher Fremdsprachentätigkeit, SekretärIn im Sinne obiger Tätigkeitsmerkmale, Angestellte im Büro, Lager und Versand mit facheinschlägiger Berufsausbildung, SachbearbeiterIn mit einschlägigen Fachkenntnissen im Sinne obiger Tätigkeitsmerkmale, selbständige Tätigkeiten in der Datenerfassung, VerkäuferIn mit Fachkenntnissen oder Fremdsprachenkenntnissen, diplomiertes Krankenpflegepersonal, VertreterIn im Sinne obiger Tätigkeitsmerkmale, ProgrammiererIn, FakturistIn, TelefonistIn und Angestellte in Call und Servicecentern mit qualifizierter Auskunftserteilung, TechnikerIn mit besonderen Fachkenntnissen während der branchenspezifischen Einarbeitungszeit.
24 Im der Revisionswerberin zugewiesenen Stellenangebot wurde der zu erfüllende Aufgabenbereich (wie auch vom Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst wiedergegeben) wie folgt beschrieben: Mithilfe bei der Organisation des laufenden Studiobetriebs, Betreuung von Social Media, Assistenz bei Fotoshootings und Filmdrehs, Produktionsassistenz sowie Bürotätigkeiten (Kenntnisse Adobe InDesign und Open Office), Fotobearbeitung (Auswahl, Beurteilung, farbliche Bearbeitung in Adobe Photoshop bzw. Bridge), Videoschnitt (Davinci, Adobe Premiere), vereinzelt Einsatz als Fotografin oder Kamerafrau sowie Kontakt mit Kunden (E Mail sowie Telefon). Im Anforderungsprofil wurde insbesondere der „Abschluss einer fachlichen Ausbildung zB. Graphische (Kolleg Fotografie oder Multimedia)“ verlangt. Vor dem Hintergrund dieser Ausschreibung ist es ohne dass endgültig die Zuordnung zur Verwendungsgruppe II oder III beurteilt werden müsste jedenfalls ausgeschlossen, dass es sich bei der angebotenen Beschäftigung um bloß „schematische oder mechanische Arbeiten, die als einfache Hilfsarbeiten zu werten sind“ handelt, sodass eine Zuordnung zur Verwendungsgruppe I gerechtfertigt wäre.
25 Somit war die angebotene Entlohnung, die nur um 18 Euro über dem Mindestgrundgehalt für die Verwendungsgruppe I und deutlich unter dem der Verwendungsgruppe II lag, unzumutbar im Sinn des § 9 Abs. 2 AlVG. Die unterlassene Bewerbung konnte der Revisionswerberin angesichts der dem Kollektivvertrag widersprechenden, nicht auf einem offenkundigen Irrtum in der Art eines Schreibversehens beruhenden Einstufung durch den potentiellen Dienstgeber mag auch im Inserat die Bereitschaft zur Überzahlung in Aussicht gestellt worden sein nicht als Vereitelung im Sinn des § 10 Abs. 1 AlVG angelastet werden.
26 Da das Bundesverwaltungsgericht dies verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
27 Von der in der Revision beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.
28 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. Jänner 2025