JudikaturVwGH

Ra 2024/06/0204 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Wirtschaftsrecht
06. Februar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser und die Hofrätinnen Mag. a Merl und Mag. Liebhart Mutzl als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten gegen die Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich jeweils vom 2. Oktober 2024, LVwG S 1771/001 2024 (Ra 2024/06/0204) und LVwG S 1769/001 2024 (Ra 2024/06/0205), betreffend Übertretungen nach dem Bundesstraßen Mautgesetz 2002 (mitbeteiligte Partei: Mag. M B, vertreten durch die Rechtsanwaltskanzlei Mag. Bernhard HOFER GmbH in 1010 Wien, Rotenturmstraße 12/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

1 Mit den angefochtenen Erkenntnissen des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich (LVwG) wurde den Beschwerden des Mitbeteiligten gegen die Straferkenntnisse der belangten Behörde jeweils vom 18. Juli 2024, mit denen über den Mitbeteiligten gemäß § 20 Abs. 1 iVm § 10 Abs. 1 iVm § 11 Abs. 1 Bundesstraßen Mautgesetz 2002 (BStMG) Geldstrafen in der Höhe von jeweils € 400, (Ersatzfreiheitsstrafe jeweils 44 Stunden) verhängt worden waren, weil er am 17. März 2023 bzw. am 27. März 2023 das Fahrzeug mit dem Kennzeichen XY auf einer näher genannten Mautstraße gelenkt habe, ohne dass die zeitabhängige Maut ordnungsgemäß entrichtet worden sei, insofern Folge gegeben, als in beiden Erkenntnissen gleichlautend „das angefochtene Straferkenntnis dahingehend abgeändert wird, dass in Anwendung des § 45 Abs. 1 Z 4 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) von einer Bestrafung abgesehen und gleichzeitig dem Beschwerdeführer unter Hinweis auf die Rechtswidrigkeit des zur Last gelegten Verhaltens nach § 45 Abs. 1 letzter Satz VStG eine Ermahnung erteilt wird. Damit hat auch der von der belangten Behörde festgesetzte Kostenbeitrag zu entfallen.“ (Spruchpunkte 1.). Die Kosten der Beschwerdeverfahren wurden dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 8 VwGVG in beiden Verfahren nicht auferlegt (Spruchpunkte 2.) und eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof jeweils für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkte 3.).

Das LVwG stellte in beiden Erkenntnissen gleichlautend fest, dass der Mitbeteiligte am 18. Jänner 2023 zwar eine Digitale Jahresvignette für 2023 erworben habe, aufgrund eines Tippfehlers des Mitbeteiligten sei diese jedoch für das Kennzeichen AB (statt XY) registriert worden. Der Mitbeteiligte habe im Zuge des Kaufes keine Kontrolle der Registrierung vorgenommen. Zu den beiden Zeitpunkten der Benutzung des mautpflichtigen Straßennetzes sei für das vom Mitbeteiligten gelenkte Fahrzeug keine Digitale Vignette im Mautsystem der ASFINAG registriert und auch keine gültige Klebevignette angebracht gewesen.

Nachdem der Mitbeteiligte mit Schreiben am 23. März 2023 zur Zahlung der Ersatzmaut aufgefordert worden sei, habe er den Tippfehler bemerkt und eine Umregistrierung auf das Kennzeichen XY beantragt; die Umregistrierung sei auch erfolgt. Der Aufforderung zur Bezahlung der Ersatzmaut sei jeweils nicht entsprochen worden.

Unter Hinweis auf näher genannte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führte das LVwG aus, in objektiver Hinsicht liege ein Verstoß gegen § 20 Abs. 1 BStMG vor. Subjektiv habe der Mitbeteiligte auch fahrlässig gehandelt, weil er bei der ihm zumutbaren und gebotenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt hätte erkennen können und müssen, dass ihm bei der Bestellung der Digitalen Jahresvignette ein Fehler unterlaufen sei. Gemäß § 45 Abs. 1 letzter Satz VStG liege es im Ermessen des LVwG, im Einzelfall eine Ermahnung auszusprechen. Der Mitbeteiligte habe glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass er am 18. Jänner 2023 eine gültige Digitale Jahresvignette habe erwerben wollen und auch das Entgelt dafür entrichtet habe.

Der Normzweck des § 10 Abs. 1 BStMG sei in der Entrichtung der zeitabhängigen Maut bei Benützung mautpflichtiger Straßen zu erblicken. Dem sei der Mitbeteiligte tatsächlich nachgekommen. Sein Verstoß durch Erwerb einer Digitalen Vignette für das unrichtige behördliche Kennzeichen erscheine im Lichte dessen geringfügig, sein Verhalten laufe dem Normzweck im Wesentlichen nicht zuwider. Das tatbildmäßige Verhalten des Mitbeteiligten bleibe erheblich hinter dem in der betreffenden Strafdrohung typisierten Unrechts und Schuldgehalt zurück, weil § 20 Abs. 1 BStMG typischer Weise die Nichtentrichtung der zeitabhängigen Maut zu sanktionieren intendiere, der Mitbeteiligte diese jedoch für die betreffenden Zeiträume beglichen habe, wenngleich nicht für das Kennzeichen seines Fahrzeuges, sodass es zu keinem Schaden gekommen sei.

Um den Mitbeteiligten künftig zu einem sorgfältigeren Verhalten im Hinblick auf die Bestimmungen des BStMG anzuhalten, sei der Ausspruch einer Ermahnung erforderlich gewesen.

2 Dagegen richten sich die beiden inhaltlich gleichlautenden Amtsrevisionen, in denen jeweils beantragt wird, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, in eventu wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Zur Zulässigkeit wurde jeweils ein Abweichen von näher angeführter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 45 Abs. 1 Z 4 VStG genannt.

3 In der Revisionsbeantwortung beantragte der Mitbeteiligte, die Revisionen kostenpflichtig als unzulässig zurückzuweisen, in eventu als unbegründet abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionsverfahren wegen ihres sachlichen und rechtlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden und darüber erwogen:

4 Die Revisionen sind zulässig.

5 Die Revisionswerberin bringt in beiden Revisionen jeweils gleichlautend vor, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Ermahnung lägen nicht vor. § 45 Abs. 1 Z 4 VStG setze voraus, dass die dort genannten Umstände nämlich die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat und das Verschulden des Beschuldigten müssten gering sein kumulativ vorlägen. Fehle es an einer dieser Voraussetzungen, komme eine Ermahnung nach § 45 Abs. 1 letzter Satz VStG nicht in Frage.

Auch wenn der Mitbeteiligte durch den Erwerb einer Digitalen Vignette die Maut für ein unrichtiges KFZ Kennzeichen entrichtet und dem Normzweck des § 10 Abs. 1 BStMG im Wesentlichen nicht zuwidergehandelt habe, begründe dies allenfalls, dass das strafrechtlich geschützte Rechtsgut nur geringfügig beeinträchtigt worden und somit eine von drei Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 45 Abs. 1 Z 4 VStG gegeben sei. Die beiden anderen Voraussetzungen, nämlich die geringe Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und das geringe Verschulden des Beschuldigten, lägen im gegenständlichen Fall nicht vor.

§ 20 Abs. 1 BStMG schütze das bedeutende öffentliche Interesse an der ordnungsgemäßen Entrichtung der gesetzlich vorgeschriebenen Maut vor der Benützung von Mautstrecken; der gesetzliche Strafrahmen sehe für eine Übertretung des § 20 Abs. 1 BStMG Geldstrafen von € 300, bis zu € 3.000, vor. Sowohl der Normzweck als auch die Höhe des gesetzlichen Strafrahmens sprächen gegen eine geringe Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes; bereits aus diesem Grund sei eine Anwendung des § 45 Abs. 1 Z 4 VStG nicht möglich.

Es liege auch kein geringes Verschulden des Beschuldigten vor. Diesbezüglich sei nicht auf den Zeitpunkt der Registrierung des Kennzeichens beim Erwerb der Digitalen Vignette abzustellen, weil § 20 Abs. 1 BStMG die Benützung einer Mautstrecke ohne ordnungsgemäß entrichtete Maut sanktioniere. Den Bestimmungen der Mautordnung zufolge wäre der Mitbeteiligte verpflichtet gewesen, sich unmittelbar vor dem Befahren des mautpflichtigen Straßennetzes von der ordnungsgemäßen Entrichtung der zeitabhängigen Maut für den Zeitraum der beabsichtigen Nutzung etwa durch eine kostenlose Abfrage des Kennzeichens seines KFZ in der Vignettenevidenz der ASFINAG zu vergewissern. Derartige Feststellungen habe das LVwG nicht getroffen. Der Mitbeteiligte habe auch nicht der in der Mautordnung geregelten Verpflichtungen entsprochen, im Zuge des Kaufes der Digitalen Vignette die Bestellbestätigung auf die Korrektheit der Daten, insbesondere im Hinblick auf das registrierte KFZ Kennzeichen, zu kontrollieren. Der Mitbeteiligte habe somit geradezu das typische Tatbild des § 20 Abs. 1 BStMG verwirklicht; daher liege kein geringes Verschulden vor.

6 Gemäß § 10 Abs. 1 BStMG unterliegt die Benützung von Mautstrecken mit einspurigen Kraftfahrzeugen und mit mehrspurigen Kraftfahrzeugen, deren höchstes zulässiges Gesamtgewicht nicht mehr als 3,5 Tonnen beträgt, der zeitabhängigen Maut.

Gemäß § 20 Abs. 1 BStMG begehen Kraftfahrzeuglenker, die Mautstrecken benützen, ohne die nach § 10 geschuldete zeitabhängige Maut ordnungsgemäß entrichtet zu haben, eine Verwaltungsübertretung und sind mit Geldstrafe von 300 € bis zu 3000 € zu bestrafen.

Punkt 1.7 der gemäß den §§ 14 und 15 BStMG erlassenen und fallbezogen anzuwendenden Mautordnung (Version 70, gültig ab 1. Dezember 2022) lautet auszugsweise:

1.7 MITWIRKUNGSPFLICHTEN

Vor dem Befahren des mautpflichtigen Straßennetzes hat sich der Lenker eines mautpflichtigen Kraftfahrzeugs zu vergewissern, dass die zeitabhängige Maut für den Zeitraum der beabsichtigen Nutzung des mautpflichtigen Straßennetzes (vorab) ordnungsgemäß entrichtet wurde. Dies beinhaltet jedenfalls die Überprüfung, ob die Maut mit der dem Kraftfahrzeug entsprechende Vignettenart ordnungsgemäß entrichtet wurde.

...

Bei Verwendung der Digitalen Vignette hat jedenfalls eine Abfrage des Kraftfahrzeugkennzeichens in der Vignettenevidenz (siehe Punkt 1) unmittelbar vor Nutzung des mautpflichtigen Straßennetzes zu erfolgen, welche Aufschluss darüber gibt, ob ein Kraftfahrzeug über eine gültige Digitale Vignette verfügt und für welchen Zeitraum diese gilt (bzw. gelten, sofern das Kraftfahrzeug über mehrere Digitale Vignetten verfügt).

...

Sollte die zeitabhängige Maut nicht ordnungsgemäß vorab entrichtet worden sein, hat der Kraftfahrzeuglenker von seiner Absicht, das mautpflichtige Straßennetz zu befahren, Abstand zu nehmen. Andernfalls wird der Tatbestand der Mautprellerei gemäß Punkt 1.9 verwirklicht.“

§ 45 Abs. 1 VStG, BGBl. Nr. 52/1991 idF BGBl. Nr. 33/2013, lautet auszugsweise:

§ 45. (1) Die Behörde hat von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn

...

4. die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat und das Verschulden des Beschuldigten gering sind;

...

Anstatt die Einstellung zu verfügen, kann die Behörde dem Beschuldigten im Fall der Z 4 unter Hinweis auf die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens mit Bescheid eine Ermahnung erteilen, wenn dies geboten erscheint, um ihn von der Begehung strafbarer Handlungen gleicher Art abzuhalten.“

7 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 45 Abs. 1 Z 4 VStG müssen die dort genannten Umstände geringe Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes, geringe Intensität der Beeinträchtigung dieses Rechtsgutes durch die Tat sowie geringes Verschulden kumulativ vorliegen. Fehlt es an einer der in § 45 Abs. 1 Z 4 VStG genannten Voraussetzungen für die Einstellung des Strafverfahrens, kommt auch keine Ermahnung nach § 45 Abs. 1 letzter Satz VStG in Frage (vgl. etwa VwGH 14.9.2021, Ra 2018/06/0240, Rn. 26, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof verwies in seinem Erkenntnis VwGH 26.4.2021, Ra 2020/06/0257, Rn. 14, ebenfalls eine Bestrafung gemäß § 20 Abs. 1 iVm § 10 Abs. 1 iVm § 11 Abs. 1 BStMG betreffend, auf die Erläuternden Bemerkungen (RV 562 BlgNR 26. GP) zu § 29 Abs. 3 BStMG idF BGBl. I Nr. 45/2019 , wonach „die Bedeutung des durch die Strafbestimmungen des BStMG geschützten Rechtsgutes im Hinblick auf die Höhe des im BStMG vorgesehenen Strafrahmens (für die Verwaltungsübertretungen gemäß § 20 und 32 Abs. 1 zweiter Satz beträgt die Mindeststrafe 300 € und für alle Verwaltungsübertretungen beträgt die Höchststrafe 3 000 €) nicht gering im Sinne des § 33a Abs. 1 VStG ist“. Diese Wertung des Gesetzgebers ist auch bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob wie im vorliegenden Fall eine Ermahnung gemäß § 45 Abs. 1 letzter Satz VStG ausgesprochen werden kann. Im Beschluss VwGH 8.9.2016, Ra 2016/06/0099, Rn. 12 (ebenfalls betreffend eine Bestrafung gemäß § 20 Abs. 1 iVm § 10 Abs. 1 und § 11 Abs. 1 BStMG), bestätigte der Verwaltungsgerichtshof die Entscheidung der Behörde insofern, als „weder die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes, nämlich die Ermöglichung der Finanzierung und Aufrechterhaltung des hochrangigen Straßennetzes in Österreich, noch die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat als gering anzusehen seien, zumal die Vignette nicht ordnungsgemäß aufgeklebt gewesen und sie dadurch ungültig geworden sei.“

Zu § 20 BStMG iVm mit der Mautordnung führte der Verwaltungsgerichtshof in VwGH 23.3.2022, Ra 2020/06/0156 aus, dass sich der Lenker eines mautpflichtigen Kraftfahrzeuges für den jeweils beabsichtigten Nutzungszeitraum von der ordnungsgemäßen Entrichtung der zeitabhängigen Maut, im Falle der Nutzung einer digitalen Vignette durch eine Abfrage des Kennzeichens in der Vignettenevidenz, unmittelbar vor der Benützung des mautpflichtigen Straßennetzes zu vergewissern hat.

8 Die angefochtenen Erkenntnisse stehen mit dieser Rechtsprechung nicht im Einklang.

9 Da das LVwG dies verkannte und die angefochtenen Erkenntnisse von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweichen, waren sie gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am 6. Februar 2025

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