JudikaturVwGH

Ra 2024/02/0007 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
27. März 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter sowie die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer Kober und Mag. Schindler als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Andrés, über die Revision des P, Rechtsanwalt in W, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 20. September 2023, VGW 031/011/9986/2023 3, betreffend Übertretung des KFG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 9. Juni 2023 wurde der Revisionswerber schuldig erkannt, er habe als Zulassungsbesitzer eines dem Kennzeichen nach bestimmten Motorrades zu verantworten, dass dieses am 21. Oktober 2022 um 08:07 Uhr auf der L Straße, gegenüber 2A, ohne vorschriftsgemäße Begutachtungsplakette (Ablauf der Gültigkeit der Plakette mit der Lochung 04/2022) verwendet worden sei. Der Revisionswerber habe dadurch § 103 Abs. 1 Z 1 KFG verletzt, weshalb über ihn gemäß § 134 Abs. 1 KFG eine Geldstrafe von € 112, (Ersatzfreiheitsstrafe 11 Stunden) verhängt und ihm ein Kostenbeitrag gemäß § 64 Abs. 1 und 2 VStG vorgeschrieben wurde.

2 In der dagegen erhobenen Beschwerde bemängelte der Revisionswerber, dass er bereits im Einspruch gegen die dem angefochtenen Straferkenntnis vorangegangenen Strafverfügung vom 19. Mai 2023 darauf hingewiesen habe, dass ein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot vorliege. Mit Anonymverfügung der Landespolizeidirektion Wien vom 28. Dezember 2022 sei bereits der Vorwurf erhoben worden, es wäre am 27. Dezember 2022 um 14:26 Uhr, L Straße, nächst ONr. 1, keine den Vorschriften entsprechende Begutachtungsplankette angebracht gewesen (Ablauf der Gültigkeit der Plakette mit der Lochung 04/2022). Die damals mit € 75, verhängte Geldstrafe sei vom Revisionswerber am 21. Jänner 2023 bezahlt worden. Das Motorrad sei zwischen den beiden Tatzeitpunkten durchgehend an derselben Stelle mit der abgelaufenen Prüfplakette abgestellt gewesen und nicht bewegt worden. Dieses sei nämlich von einem anderen Fahrzeug am 25. April 2022 an einer näher bezeichneten Adresse umgestoßen und beschädigt worden und danach am 19. Mai 2022 abgeschleppt und am Tatort nahe einer Werkstätte abgestellt worden. Aufgrund einer mühsamen Versicherungsabwicklung sei das Motorrad zunächst nicht bewegt und erst nach der Anonymverfügung vom 28. Dezember 2022 verbracht worden. Es liege sohin ein Dauerdelikt vor.

3 Mit Verfahrensanordnung vom 1. August 2023 forderte das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) den Revisionswerber auf, binnen sechs Wochen den Namen und eine ladungsfähige Adresse des Mitarbeiters des genannten Abschleppdienstes bekanntzugeben und entsprechende Beweisunterlagen zum behaupteten Dauerdelikt vorzulegen. Diese gerichtliche Anordnung wurde am 7. August 2023 dem Revisionswerber zugestellt. Dieser erstattete mit Schriftsatz vom 18. September 2023 eine umfangreiche Stellungnahme. Der am 18. September 2023 zur Post gegebene Schriftsatz langte am 21. September 2023 beim Verwaltungsgericht ein.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. September 2023 wies das Verwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab.

5 In der Begründung verwies das Verwaltungsgericht darauf, dass eine Beweisaufnahme aufgrund der klaren Beweislage habe unterbleiben können. Es sei auch kein entsprechender Nachweis für die behauptete Doppelbestrafung vorgelegt worden. Das Unterbleiben der mündlichen Verhandlung begründete es mit dem unbestritten gebliebenen Sachverhalt und dem Unterbleiben eines entsprechenden Antrags durch den Revisionswerber. Dem stünden auch keine aus Art. 6 EMRK verbrieften Rechte entgegen, zumal der Revisionswerber im Rahmen des an ihn ergangenen Verbesserungsauftrages die Möglichkeit der Beweisvorlage, die offenkundig bewusst im Zuge der Beschwerdeerhebung unterlassen worden sei, gehabt hätte.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit zusammengefasst vorbringt, das Verwaltungsgericht sei seiner amtswegigen Ermittlungspflicht nicht nachgekommen und habe noch vor dem Einlangen der aufgetragenen Äußerung, die fristgerecht erstattet worden sei, samt Beweisunterlagen sein Erkenntnis erlassen. Das Verwaltungsgericht wäre bei Außerachtlassung dieser Verfahrensmängel zum Ergebnis gekommen, dass ein Dauerdelikt vorliege und eine nach der ergangenen Anonymverfügung vom 28. Dezember 2022 erneute Bestrafung dem Doppelbestrafungsverbot widerspreche.

7 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 7.9.2022, Ra 2022/02/0162, mwN).

10 Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gelten zudem im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist (vgl. VwGH 25.5.2021, Ra 2021/02/0055, mwN).

11 Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welches es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zugrunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können; die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht ihrer aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst soweit das möglich ist für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. VwGH 4.3.2022, Ra 2020/02/0213, mwN).

12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die hier gegenständliche gemäß § 103 Abs. 1 KFG dem Zulassungsbesitzer aufgetragene Sorge für den Zustand seines Fahrzeuges grundsätzlich als Dauerdelikt zu werten (vgl. VwGH 16.10.2018, Ra 2018/02/0296, unter Hinweis auf VwGH 30.6.1982, 81/03/0097, und VwGH 26.4.1989, 88/03/0096). Die Annahme eines Dauerdelikts scheidet allerdings bei mehrfachem „Verwenden“ eines ohne entsprechende Begutachtungsplakette ausgestatteten Kraftfahrzeuges aus (vgl. VwGH 22.11.2016, Ra 2016/02/0045 mwN; erneut VwGH 16.10.2018, Ra 2018/02/0296).

13 Der Revisionswerber hatte in seiner Beschwerde den Sachverhalt somit in einem die Bestrafung möglicherweise verhindernden Umfang bestritten und ein konkretes, sachverhaltsbezogenes verfahrensrelevantes Vorbringen erstattet, das jedenfalls aufzuklären war.

14 Das Verwaltungsgericht hat zwar die Relevanz des in der Beschwerde zum Vorliegen eines Dauerdelikts und einer Doppelbestrafung erstatteten Vorbringens erkannt, es jedoch unterlassen, die in diesem Zusammenhang zur Erstattung eines ergänzenden Vorbringens und Vorlage von Beweismitteln eingeräumte Frist samt angemessener Berücksichtigung des Postlaufes abzuwarten und sich mit dem Vorbringen näher auseinanderzusetzen. Es hätte von Amts wegen entsprechende Feststellungen zu treffen gehabt und dafür die notwendigen Erhebungen, erforderlichenfalls einschließlich einer mündlichen Verhandlung samt Einvernahme des Revisionswerbers, durchführen müssen, zumal die in der Beschwerde angesprochene Anonymverfügung vom 28. Dezember 2022 bereits mit dem Einspruch gegen die Strafverfügung vom 19. Mai 2023 vorgelegt wurde und im Verwaltungsakt aufliegt.

15 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das bekämpfte Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. März 2024

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