Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 7. September 2023 mündlich verkündete und mit 21. September 2023 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, I421 2128345 2/27E, betreffend ersatzlose Behebung eines Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: D W), den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der 1965 geborene Mitbeteiligte, ein deutscher Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, der im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 12. Oktober 2016 zurückgewiesen wurde. In weiterer Folge blieb der Mitbeteiligte in Österreich.
2 Mit Bescheid vom 27. März 2020 erließ das von der Niederlassungsbehörde gemäß § 55 Abs. 3 NAG befasste Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Mitbeteiligten gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von sechs Monaten befristetes Aufenthaltsverbot und erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat. Das BFA begründete das Aufenthaltsverbot mit einer vom Mitbeteiligten ausgehenden tatsächlichen und erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aufgrund von dessen strafgerichtlichen Verurteilungen in Deutschland und seiner vom BFA angenommenen ideologischen Nähe zu „verfassungsfeindlichen Denk- und Begründungsmustern der sogenannten ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ Szene“.
3 Der dagegen vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde gab das BVwG im ersten Rechtsgang mit dem am 18. Dezember 2020 mündlich verkündeten und mit 2. Februar 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis Folge und behob den Bescheid ersatzlos.
4 Der Verwaltungsgerichtshof hob das in Rn. 3 genannte Erkenntnis des BVwG in Stattgebung einer vom BFA erhobenen außerordentlichen Revision mit dem Erkenntnis VwGH 29.6.2023, Ra 2021/21/0084, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf. Dem lag zugrunde, dass sich das BVwG, das die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 67 Abs. 1 FPG gegenüber dem Mitbeteiligten verneint hatte, in Verkennung der Rechtslage nicht mit dem Vorliegen der Tatbestandserfordernisse für die Erlassung einer Ausweisung nach § 66 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG auseinandergesetzt hatte.
5 Im fortgesetzten Verfahren gab das BVwG mit dem nunmehr angefochtenen, am 7. September 2023 mündlich verkündeten und mit 21. September 2023 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis der Beschwerde des Mitbeteiligten erneut Folge und behob den Bescheid wiederum ersatzlos. Unter einem sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 In seiner Begründung prüfte das BVwG ausgehend davon, der Mitbeteiligte habe mittlerweile das Recht auf Daueraufenthalt iSd § 53a NAG erworben das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 67 Abs. 1 FPG anhand des Gefährdungsmaßstabes des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG („schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“). Es verneinte die Erfüllung dieses Gefährdungsmaßstabes, weil das Verhalten des in Österreich unbescholtenen Mitbeteiligten nicht (einmal) die Annahme rechtfertige, sein Aufenthalt würde die öffentliche Ordnung oder Sicherheit in Österreich gefährden. Seine strafgerichtlichen Verurteilungen in Deutschland zuletzt zu Geldstrafen wegen Tathandlungen in den Jahren 2013 (Betrug) und 2015 (Nötigung und versuchte Nötigung) würden auf Taten beruhen, deren Begehung mehrere Jahre zurückliege und die zum Teil in Österreich nicht gerichtlich strafbar seien (etwa Fahren eines Kraftfahrzeuges ohne Fahrerlaubnis, Trunkenheit im Verkehr). Der Umstand, dass der Mitbeteiligte im Jahr 2016 offenbar in einem psychisch beeinträchtigten Zustand einen Antrag auf internationalen Schutz und später einen Antrag auf Übernahme in die Grundversorgung gestellt habe, rechtfertige keinesfalls die Annahme, von ihm gehe gegenwärtig die genannte Gefahr aus. Aus diesen Gründen verneinte das BVwG sodann auch das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für eine Ausweisung gemäß § 66 FPG.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.
8 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
9 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
10 Vorauszuschicken ist, dass das BVwG der vom Verwaltungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis VwGH 29.6.2023, Ra 2021/21/0084, geäußerten Rechtsanschauung (siehe dort Rn. 9/10) entsprochen hat, indem es nach Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die Tatbestandserfordernisse für die Erlassung einer Ausweisung nach § 66 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG geprüft und den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens damit vollständig erledigt hat. Dass das BVwG davon ausging, der Mitbeteiligte erfülle die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht im Sinne des § 51 NAG, wird in der Revision nicht beanstandet.
11 Unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG wird in der Zulässigkeitsbegründung der Revision nunmehr geltend gemacht, das BFA sei in seinem Bescheid vom 27. März 2020 auf der Grundlage des Verhaltens des Mitbeteiligten während des Behördenverfahrens und unter Berücksichtigung seiner Verurteilungen in Deutschland begründet davon ausgegangen, dass dieser der Ideologie der eine staatsfeindliche Bewegung darstellenden „Reichsbürgerbewegung“ nahestehe und aus diesem Grund eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Das BVwG habe eine davon abweichende Gefährdungsprognose vorgenommen, ohne ausreichend auf die im Bescheid dargelegten Argumente des BFA einzugehen, was näher zitierter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes widerspreche.
12 Ausgehend von der in der Revision nicht beanstandeten Prämisse, der Mitbeteiligte habe gemäß § 53a Abs. 1 NAG aufgrund eines mehr als fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthaltes im Bundesgebiet das Daueraufenthaltsrecht erworben, zog das BVwG zu Recht nicht nur bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Erlassung einer Ausweisung, sondern auch in Bezug auf das Aufenthaltsverbot den in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehenen Gefährdungsmaßstab, der jenem in Art. 28 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) entspricht, heran (siehe VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181, Punkt 3. der Entscheidungsgründe, und daran anknüpfend etwa VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, Rn. 5, mwN).
13 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das „persönliche Verhalten“ des Fremden abzustellen ist und etwa strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. etwa VwGH 19.2.2014, 2013/22/0309, mwN; aus der jüngeren Rechtsprechung siehe etwa VwGH 21.12.2022, Ra 2022/21/0213, Rn. 14, mwN). Das gilt freilich sinngemäß auch für eine Gefährdungsprognose iSd § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG.
14 Das BVwG hat die Gefährdungsprognose im Einklang mit dieser Rechtsprechung vorgenommen, indem es seiner Beurteilung das (unstrittige) persönliche Verhalten des Mitbeteiligten zugrunde gelegt hat. In jedenfalls vertretbarer Weise kam das BVwG dabei unter Berücksichtigung der bereits länger zurückliegenden strafbaren Handlungen, die der Mitbeteiligte in Deutschland gesetzt hatte zu dem Ergebnis, dass sein Aufenthalt in Österreich keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit iSd § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG darstelle (siehe dazu, dass insoweit für die Zulässigkeit einer Revision unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG das Vertretbarkeitskalkül maßgeblich ist, etwa VwGH 16.8.2022, Ra 2020/21/0321, Rn. 13, mwN).
15 Das BFA vermag weder mit dem Verweis auf die in seinem Bescheid angenommene lediglich mit der Stellung eines unzulässigen Antrages auf internationalen Schutz und eines Antrages auf Aufnahme in die Grundversorgung begründete „ausgeprägte (rechts )querulatorische Neigung“ des Mitbeteiligten noch mit dem Hinweis auf die von ihm zu Beginn des Verfahrens über die Gewährung von internationalem Schutz den nicht bestrittenen Feststellungen des BVwG zufolge in einem psychisch beeinträchtigten Zustand getätigten Äußerungen in Bezug auf sein Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland die Vertretbarkeit der vom BVwG vorgenommenen Gefährdungsprognose im Ergebnis in Frage zu stellen.
16 Soweit der Amtsrevisionswerber rügt, das BVwG habe sich mit der von ihm angenommenen Gesinnung des Mitbeteiligten als der „Reichsbürgerbewegung“ nahe stehend nicht auseinandergesetzt, gelingt es ihm nicht, die Relevanz des behaupteten Begründungsmangels darzutun. Denn diesem Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass eine Gesinnung oder Ideologie von vornherein nur dann eine die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Mitbeteiligten rechtfertigende Gefährdung begründen kann, wenn sich wie schon in Rn. 13 dargestellt wurde diese Gesinnung in einem bestimmten persönlichen Verhalten des Fremden manifestiert, aus dem die anzuwendende Gefährdungsannahme abzuleiten ist. Dass die vom BVwG auf Grundlage des persönlichen Verhaltens des Mitbeteiligten getroffene Gefährdungsprognose jedenfalls vertretbar war, wurde bereits ausgeführt.
17 In der Revision wird auch noch ins Treffen geführt, die Gefährlichkeit einer Bewegung, wie der „Reichsbürgerbewegung“, die das „deutsche Äquivalent zur hiesigen Staatsverweigererbewegung“ darstelle, habe den Gesetzgeber sogar dazu veranlasst, den Straftatbestand des § 247a StGB (Staatsfeindliche Bewegung) zu schaffen. Schon von daher stelle der Mitbeteiligte, der die Existenz der Bundesrepublik Deutschland verleugnet habe, eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar. Abgesehen davon, dass der Mitbeteiligte derartige Aussagen in späteren Befragungen nicht wiederholte und in der Revision auch nicht aufgezeigt wird, dass das persönliche Verhalten des Mitbeteiligten einen der Tatbestände des § 247a Abs. 1 oder 2 StGB erfüllt hätte, ist dieses Vorbringen aber schon deswegen nicht zielführend, weil die genannten Tatbestände gegen die Republik Österreich gerichtete staatsfeindliche Bewegungen zum Inhalt haben (vgl. § 247a Abs. 3 StGB).
18 Die Amtsrevision des BFA das im Übrigen eine nachvollziehbare Begründung dafür schuldig bleibt, weshalb es noch immer die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Mitbeteiligten für erforderlich hält, obwohl die vom BFA ursprünglich vorgesehene Dauer von sechs Monaten längst verstrichen ist, der berufstätige Mitbeteiligte in völlig geordneten Verhältnissen lebt, mittlerweile unstrittig ein Daueraufenthaltsrecht erlangt hat und sich in Österreich seit vielen Jahren nichts zu Schulden kommen ließ war daher mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 22. Februar 2024
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