Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des H C, vertreten durch Mag. Patrick Gaulin, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Andreas Hofer Straße 2 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Februar 2023, I419 2266309 1/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1989 geborene Revisionswerber, ein tunesischer Staatsangehöriger, hatte im Juni 2015 in Deutschland erfolglos internationalen Schutz beantragt. Nach seiner Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen im Jahr 2016 wurden ihm in Deutschland, wo er auch in der Folge einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachging, zunächst im Jänner 2018 eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis und danach im Februar 2021 eine (unbefristete) Niederlassungserlaubnis als Familienangehöriger erteilt.
2 Mit Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 16. November 2022 wurde der Revisionswerber wegen des als Mitglied einer kriminellen Vereinigung begangenen Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 2, Abs. 4 erster Fall FPG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten rechtskräftig verurteilt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe am 30. Mai 2022 mit weiteren Mitgliedern der kriminellen Vereinigung mit Bereicherungsvorsatz sechzehn Fremde von Szeged (im Süden Ungarns) nach Budapest und anschließend sechs tunesische Staatsangehörige von Budapest nach Österreich gebracht. Nach seiner Festnahme am 30. Mai 2022 befand sich der Revisionswerber zunächst in Untersuchungs und dann in Strafhaft.
3 Vor diesem Hintergrund sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 7. Dezember 2022 aus, dass dem Revisionswerber (von Amts wegen) kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt werde (Spruchpunkt I.), und erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG wegen unrechtmäßigen Aufenthalts eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG (Spruchpunkt II.). Unter einem stellte es gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt III.), und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen ihn ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IV.). Schließlich erkannte das BFA einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab und gewährte somit gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkte V. und VI.).
4 Die nur gegen die Spruchpunkte II. bis VI. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 3. Februar 2023 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
6 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend gemacht, weil das BVwG das Familienleben des Revisionswerbers mit seiner Ehefrau in Deutschland wegen seiner Strafhaft ungeachtet ihrer Besuche dort nicht (entsprechend) beachtet habe. Aus diesem Grund erweist sich die Revision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
7 Voranzustellen ist, dass das BVwG trotz des Umstands, dass der Revisionswerber über einen in Deutschland ausgestellten Aufenthaltstitel verfügte, von seinem unrechtmäßigen Aufenthalt in Österreich ausging und deshalb die Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG stützte, weil der Revisionswerber schon aufgrund seiner (bereits bei der Einreise verübten) Straftat eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle und damit eine der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt nach § 31 Abs. 1 Z 3 FPG iVm Art. 21 Abs. 1 Schengener Durchführungsübereinkommen fehle. Gemäß § 52 Abs. 6 FPG kann gegen einen nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der im Besitz eines Aufenthaltstitels eines anderen Mitgliedstaates ist, nur dann eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG erlassen werden, wenn er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommt oder seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist (vgl. dazu des Näheren VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0172, Rn. 11 bis 14, mwN). Das Erfordernis einer sofortigen Ausreise des Revisionswerbers nach seiner Haftentlassung begründete das BVwG mit dessen Delinquenz und dem Fehlen privater oder familiärer Anknüpfungspunkte im Inland.
8 Diesen Überlegungen des BVwG tritt die Revision nicht konkret entgegen, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.
9 Soweit sich die Revision gegen die vom BVwG nach § 9 BFA VG vorgenommene Interessenabwägung wendet, zeigt sie jedoch die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses auf:
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat schon in seinem grundlegenden Erkenntnis VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, in Punkt 3. der Entscheidungsgründe darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem durch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot bewirkten Eingriff in das Privat oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden dürfe, sondern dass auch die Situation in den anderen Mitgliedstaaten „in den Blick“ zu nehmen sei. Das folgere unzweifelhaft daraus, dass diese aufenthaltsbeendenden Maßnahmen grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bezogen sein sollen. Familiären Bindungen in einem anderen Mitgliedstaat ist daher dadurch Rechnung zu tragen, dass die bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes zu beantwortende Frage nach einem zulässigen Eingriff in das Privat oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden darf, sondern dass auch die Situation in dem anderen „Schengen Staat“ zu berücksichtigen ist (siehe auch dazu nochmals VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0172, nunmehr Rn. 8, mwN).
11 Dem hat das BVwG nicht Rechnung getragen. Es gab zwar unter Bezugnahme auf den Beschluss VwGH 28.5.2015, Ra 2014/22/0037, einen entsprechenden Rechtssatz wieder, vertrat aber unter Bezugnahme auf Art. 25 Abs. 2 SDÜ letztlich die Auffassung, die deutschen Behörden hätten bei der Frage der Entziehung des dem Revisionswerber erteilten Aufenthaltstitels über die Fortsetzung des Familienlebens in Deutschland zu entscheiden. Das trifft zwar zu (siehe zu den sich aus Art. 25 SDÜ ergebenden Implikationen EuGH 16.1.2018, E , C 240/17, worauf bereits in VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0236, Rn. 7, verwiesen wurde), doch ändert das nichts daran, dass schon bei der Erlassung von Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot wegen ihrer grundsätzlich „schengenweiten“ Geltung darauf Bedacht zu nehmen ist, ob damit in maßgebliche private und familiäre Interessen, die sonst im „Schengenraum“ bestehen, eingegriffen wird (vgl. zu einer inhaltsgleichen Begründung des BVwG neuerlich VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0172, nunmehr Rn. 9).
12 Das BVwG hätte daher auf das Vorbringen in der Beschwerde, dass sich der Revisionswerber mit seiner Ehefrau in Deutschland ein gemeinsames Leben aufgebaut habe, Bedacht nehmen sowie sich mit der Frage der familiären und privaten Bindungen des Revisionswerbers in Deutschland näher auseinandersetzen müssen. Daran ändert auch der vom BVwG hervorgehobene Umstand nichts, dass sich der Revisionswerber aufgrund seiner Haft in Österreich seit Ende Mai 2022 nicht mehr in Deutschland aufgehalten habe. Dieser Aufenthaltsunterbrechung, die das BVwG überdies lediglich im Zuge der zur (weniger eingriffsintensiven) Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung ins Treffen führte, kann im vorliegenden Fall nämlich keine maßgeblich relativierende Bedeutung dergestalt beigemessen werden, dass eine eingehende Auseinandersetzung mit dem in Deutschland bestehenden Privat und Familienleben des Revisionswerbers entbehrlich wäre.
13 Das BVwG unterließ wie gesagt in Verkennung der Rechtslage, die familiären und privaten Bindungen des Revisionswerbers in Deutschland entsprechend zu prüfen und die daraus resultierenden Interessen am Verbleib in Deutschland im Rahmen der sowohl für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als auch eines Einreiseverbotes vorzunehmenden Interessenabwägung nach § 9 BFA VG den öffentlichen Interessen an einer Beendigung des Aufenthalts (im gesamten „Schengenraum“) gegenüber zu stellen, um beurteilen zu können, ob der mit den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bewirkte Eingriff nach Art. 8 EMRK verhältnismäßig wäre.
14 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat aufzuheben.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. August 2024