Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des R M O, vertreten durch Dr. Gerald Ruhri, Dr. Claudia Ruhri und Mag. Christian Fauland, Rechtsanwälte in 8010 Graz, Münzgrabenstraße 92a, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2023, I421 2261696 1/9E, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde als verspätet (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Mit Bescheid vom 3. Februar 2022 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber, einen deutschen Staatsangehörigen, gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot, erteilte ihm in Anwendung des letzten Halbsatzes des § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub und erkannte einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs. 3 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab.
2 Da der Revisionswerber bei einem Zustellversuch am 7. Februar 2022 in der Wohnung an seiner Meldeadresse in Graz nicht angetroffen werden konnte, wurde dieser Bescheid beim Zustellpostamt hinterlegt (Beginn der Abholfrist: 8. Februar 2022), vom Revisionswerber jedoch nicht innerhalb der Abholfrist behoben.
3 Aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung vom 16. Juni 2021 befand sich der Revisionswerber ab 17. März 2022 in Strafhaft in der Justizanstalt Graz Jakomini und anschließend in der Justizanstalt Graz Karlau.
4 Mit dem am 27. Oktober 2022 zur Post gegebenen Schriftsatz seines rechtsanwaltlichen Vertreters vom 25. Oktober 2022 erhob der Revisionswerber gegen den unter Rn. 1 erwähnten Bescheid des BFA eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Zur Rechtzeitigkeit brachte der Revisionswerber unter anderem vor, er sei seit Ende Juni 2021 bis zu seinem Strafantritt am 17. März 2022 an einer näher genannten neuen Adresse in Graz wohnhaft gewesen. Wegen „Abwesenheit“ des Revisionswerbers von der Zustelladresse habe die Rechtsmittelfrist erst durch die in Entsprechung seines Ansuchens in der Justizanstalt Graz Karlau erfolgte Aushändigung des Bescheids am 30. September 2022 zu laufen begonnen.
5 Über Verspätungsvorhalt des BVwG vom 11. November 2022 erstattete der Revisionswerber durch seinen Rechtsvertreter am 25. November 2022 eine näher begründete Stellungnahme und stellte der Sache nach einen Verhandlungsantrag.
6 Mit dem angefochtenen Beschluss vom 1. Februar 2023 wies das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde als verspätet zurück. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 Dazu vertrat das BVwG in seiner Begründung die Ansicht, der angefochtene Bescheid sei dem Revisionswerber am 8. Februar 2022 rechtswirksam durch Hinterlegung zugestellt worden. Die vierwöchige Beschwerdefrist habe daher am 8. März 2022 geendet, weshalb die am 27. Oktober 2022 zur Post gegebene Beschwerde verspätet sei. Es liege kein Nachweis dafür vor, dass der Revisionswerber an einer anderen Adresse als der Zustelladresse wohnhaft gewesen sei. Das Absehen von der Durchführung einer Verhandlung begründete das BVwG mit Hinweis auf § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG.
8 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
9 Gemäß § 2 Z 4 ZustG stellt (u.a.) die Wohnung eine Abgabestelle dar, an der ein Dokument gemäß § 13 Abs. 1 ZustG dem Empfänger zugestellt werden darf. Unter einer Wohnung im genannten Sinn ist jede Räumlichkeit zu verstehen, die der Empfänger tatsächlich benützt, wo er also tatsächlich wohnt. Der dazu erforderliche regelmäßige Aufenthalt des Empfängers ist dabei nach objektiven Gesichtspunkten ex post und ohne Rücksicht darauf zu beurteilen, wie sich die Verhältnisse dem Zustellorgan seinerzeit subjektiv geboten haben, sowie ohne Rücksicht auf die Absichten des Empfängers. Die Eigenschaft eines Ortes als Abgabestelle geht (erst) verloren, wenn die Nahebeziehung des Empfängers zu ihm auf Dauer oder doch für einen so langen Zeitraum erlischt, dass nach den Gepflogenheiten des Lebens das Warten auf eine Rückkehr in angemessener Zeit nicht zumutbar ist (vgl. etwa VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0064, Rn. 10, mwN).
10 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG erkennbar vor, das BVwG habe eine nachvollziehbare Beweiswürdigung zu der als nicht erwiesen angenommenen Abwesenheit des Revisionswerbers von der Zustelladresse unterlassen.
11 Diese Rüge trifft zu, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.
12 Zwar liegt in diesem Zusammenhang eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (siehe des Näheren etwa VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0010, Rn. 8, mwN). Nach dieser Judikatur ist der Verwaltungsgerichtshof nämlich zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen, allerdings hat er insbesondere doch zu prüfen, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist, ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind und ob das Verwaltungsgericht dabei alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Diesen Vorgaben hat das BVwG im vorliegenden Fall nur mangelhaft entsprochen.
13 Das BVwG ging entscheidungswesentlich davon aus, der Revisionswerber habe keinen Nachweis dafür erbracht, dass er im Zustellzeitpunkt an einer anderen Adresse als seiner Meldeadresse an der die Zustellung des Bescheids vom 3. Februar 2022 versucht worden war wohnhaft gewesen sei. Wie die Revision zutreffend aufzeigt, lassen sich dem angefochtenen Erkenntnis dazu allerdings überhaupt keine beweiswürdigenden Erwägungen entnehmen. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Eintragungen im Zentralen Melderegister bloße Indizwirkung für das Vorliegen einer Abgabestelle iSd § 2 Z 4 ZustG zukommt (vgl. neuerlich VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0064, nunmehr Rn. 12 mit dem Hinweis auf VwGH 25.3.2010, 2010/21/0007).
14 Ausgehend davon hätte das BVwG auch nicht von der Durchführung einer Verhandlung absehen dürfen, sondern es wäre in deren Rahmen zu prüfen gewesen, ob der Revisionswerber entsprechend seinem Vorbringen zur Rechtzeitigkeit der Beschwerde im Zustellzeitpunkt den regelmäßigen Aufenthalt an seiner Meldeadresse aufgegeben hatte. Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG kann zwar die Verhandlung unter anderem dann entfallen, wenn die Beschwerde zurückzuweisen ist. Dabei übersieht das BVwG jedoch, dass trotz Erfüllung des genannten Tatbestandes die Durchführung einer Verhandlung in Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens des Verwaltungsgerichts geboten sein kann (vgl. VwGH 4.3.2020, Ra 2019/21/0214, Rn. 18, mwN), etwa wenn für die Zulässigkeit oder Rechtzeitigkeit der Beschwerde relevante Sachverhaltsfragen durch die strittige Auslegung von Urkunden und die beantragte Einvernahme von Personen zu klären sind (vgl. VwGH 13.2.2023, Ra 2023/03/0007, Rn. 22, mwN).
15 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung bereits enthalten ist.
Wien, am 27. April 2023
Rückverweise