JudikaturVwGH

Ra 2023/18/0031 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Verwaltungsgerichtsbarkeit
15. November 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des S O, vertreten durch Dr. in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen Spruchpunkt A) I. das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2022, W226 2203001 1/13E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er stammt aus A und stellte am 1. Juli 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er mit einer Verfolgung durch seine Familie aufgrund seiner Bisexualität begründete.

2 Mit Stellungnahme vom 12. April 2018 gab er bekannt, tatsächlich nur homosexuell zu sein. Aus Scham vor der der Erstbefragung beigezogenen weiblichen Dolmetscherin habe er angegeben, bisexuell zu sein.

3 Mit Bescheid vom 2. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.), und hielt fest, dass eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.).

4 In der dagegen erhobenen Beschwerde setzte der Revisionswerber der Annahme des BFA, wonach es ihm zumutbar und möglich sei, sich unbehelligt in Moskau oder St. Petersburg niederzulassen, entgegen, näher genannte Berichte würden die Entführung von aus Tschetschenien stammenden sexuellen Minderheiten in Großstädten der Russischen Föderation dokumentieren. Die Annahme, dass dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe, beruhe lediglich auf Mutmaßungen und lasse außer Acht, dass er sich bislang versteckt und ohne Meldung in St. Petersburg aufgehalten habe. Zudem habe er mit anderen homosexuellen Tschetschenen in einer durch eine russische NGO angemieteten Wohnung gelebt und ständig Angst gehabt, erkannt, verraten oder getötet zu werden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union könne es ihm nicht zugemutet werden, seine sexuelle Orientierung (weiterhin) zu verbergen.

5 Mit Schriftsatz vom 31. März 2022 brachte der Revisionswerber unter anderem vor, die „vorhandenen Länderberichte“ würden nur die Situation homosexueller ethnischer Russen und Tschetschenen in Tschetschenien abbilden, nicht aber die Lage homosexueller Männer tschetschenischer Abstammung in der Russischen Föderation. Unter einem wurde die Einholung von Länderinformationen über in russischen Großstädten lebende homosexuelle Tschetschenen beantragt.

6 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.). Hinsichtlich Spruchpunkt IV. des Bescheides gab es der Beschwerde statt, sprach aus, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, und erteilte dem Revisionswerber einen mit zwölf Monaten befristeten Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ (Spruchpunkt A) II.). Im Übrigen behob es die Spruchpunkte V. und VI. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) III.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das BVwG für nicht zulässig.

7 Soweit hier maßgeblich, hielt das BVwG in seiner Begründung fest, das Vorbringen des Revisionswerbers sowohl hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung als auch hinsichtlich des Bestehens einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft in Österreich sei glaubhaft. Die Lage sexueller Minderheiten im Nordkaukasus stelle sich als „besonders gravierend“ dar, weshalb es nicht ausgeschlossen werden könne, dass Homosexuelle in Tschetschenien Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte ausgesetzt seien. Diese würden aber nicht das für eine landesweite asylrelevante Verfolgung erforderliche Ausmaß erreichen. Entgegen des als nicht glaubhaft befundenen Vorbringens des Revisionswerbers sei dessen sexuelle Orientierung zudem bislang niemandem im Herkunftsstaat bekannt geworden. Das BVwG verwies dabei auf die divergierenden Angaben des Revisionswerbers zum behaupteten Bekanntwerden seiner sexuellen Orientierung bei der Erstbefragung und während des weiteren Verfahrens sowie auf den Umstand, dass der Revisionswerber bislang nicht in das Visier der tschetschenischen Sicherheitsbehörden geraten sei. Es bestehe weder ein Haftbefehl gegen ihn noch werde nach ihm gefahndet. Zudem sei es ihm möglich gewesen, sich über mehrere Jahre lang im Familienverband aufzuhalten und einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, die ihn in täglichen Kontakt mit zahlreichen Personen gebracht habe. Die behauptete Festnahme seines damaligen gleichgeschlechtlichen Partners habe er nicht zum Anlass genommen, unmittelbar auszureisen. Er sei weitere zwei Monate in Tschetschenien verblieben, davon einen beachtlichen Teil im Familienverband, bis er nach St. Petersburg gereist sei. Dort sei er zwar einmal im Rahmen einer Passkontrolle mit russischen Sicherheitskräften in Kontakt gelangt, diese hätten aber weder weitere Schritte gegen ihn veranlasst noch ihn festgenommen. Hinzu komme, dass es den eigenen Angaben des Revisionswerbers nach nicht seinem Naturell entspreche, „seine Homosexualität hinauszuschreien“, und er auch nicht behaupte, gegen das seit 2013 bestehende Gesetz zum Verbot der an Minderjährige gerichteten Propaganda von nicht-traditionellen Beziehungen verstoßen zu haben. Zur Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in die Großstädte der Russischen Föderation führte das BVwG weiters aus, es sei dem Revisionswerber aufgrund seines Alters, überdurchschnittlichen Ausbildungsstandes und seiner bisher gewonnenen Arbeitserfahrung möglich und zumutbar, sich etwa in Moskau oder St. Petersburg niederzulassen. Insbesondere in St. Petersburg habe er bereits zwei Monate gelebt und sich in die Obhut einer LGBT Organisation begeben, die dort ohne ihrerseits Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein operiere. In St. Petersburg finde zudem jährlich ein Queerfest statt.

8 Gegen dieses Erkenntnis brachte der Revisionswerber zunächst eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ein, der deren Behandlung mit Beschluss vom 29. November 2022, E 1921/2022 5, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

9 Die daraufhin erstattete außerordentliche Revision wendet sich nur gegen Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses und damit gegen die Nichtgewährung internationalen Schutzes. Zu ihrer Zulässigkeit macht sie ein Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend. Es sei bereits festgehalten worden, dass von einem Asylwerber nicht erwartet werden könne, seine Homosexualität geheim zu halten, um eine Verfolgung zu vermeiden (Hinweis auf VwGH 13.1.2022, Ra 2020/14/0214 und EuGH 7.11.2013, C 199/12 bis C 201/12). In Verkennung dieser Rechtsprechung habe das BVwG eine bestehende Verfolgungsgefahr zu Unrecht mit dem Argument verneint, es entspreche nicht dem Naturell des Revisionswerbers, „seine Homosexualität hinauszuschreien“, er müsse sich daher „nicht zurücknehmen“ und könne seine sexuelle Orientierung „in einem für ihn ausreichendem Maß ausleben“. Überdies seien dem BVwG relevante Verfahrensmängel unterlaufen. Es habe wesentliche Feststellungen zur Art und Weise, wie der Revisionswerber seine sexuelle Orientierung auslebe, unterlassen, obwohl er im Rahmen der mündlichen Verhandlung konkrete Angaben dazu erstattet habe, etwa, dass er die Hand seines Partners öffentlich halten und ihn küssen wolle.

10 Schließlich macht die Revision auch die Verletzung von Ermittlungspflichten im Allgemeinen und die unterbliebene Berücksichtigung des mit Schriftsatz vom 31. März 2022 gestellten Beweisantrages zur Lage homosexueller Tschetschenen in der Russischen Föderation im Besonderen geltend. Bereits aus den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses ergebe sich, dass sich die Lage für Homosexuelle in der Russischen Föderation regional sehr unterschiedlich gestalte und die Lage von nicht aus Tschetschenien stammenden homosexuellen Männern, die in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebten, nicht gleichzusetzen sei mit jener von aus Tschetschenien stammenden homosexuellen Männern. In diesem Sinne habe der Revisionswerber im Verfahren auch einen Beweisantrag zur Einholung von Länderinformationen über in russischen Großstädten lebende homosexuelle Tschetschenen sowie zur Lage von LGBTIQ Personen nach Ausbruch des Ukraine-Konfliktes gestellt.

11 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt (auch) von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 7.7.2023, Ra 2022/18/0218, mwN).

15 Weiters ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach das BVwG bei seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde legen muss, wobei zu beachten ist, dass bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben können (vgl. VwGH 18.11.2021, Ra 2021/18/0286, mwN).

16 Neben der Aufnahme aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise hat das Verwaltungsgericht auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 21.10.2021, Ra 2021/18/0066, mwN).

17 Im vorliegenden Revisionsfall wird das angefochtene Erkenntnis den eben dargestellten Leitlinien der hg. Rechtsprechung nicht gerecht.

18 Das BVwG zog zwar das zum Entscheidungszeitpunkt seines Erkenntnisses vom 31. Mai 2022 aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 21. April 2022, Version 7, heran; die Revision macht jedoch zutreffend geltend, dass dieses Länderinformationsblatt keine aussagekräftigen aktuellen Informationen zur Lage über in russischen Großstädten lebende homosexuelle Tschetschenen enthielt. Demgegenüber hat der Revisionswerber bereits in seiner Beschwerde vom 27. Juli 2018, in einer Stellungnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 24. März 2022 und zuletzt in einer Stellungnahme vom 31. März 2022 auf die Notwendigkeit hingewiesen, diesbezüglich entsprechende Ermittlungen durchzuführen. Dabei brachte er vor, dass die russischen Großstädte keine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative für homosexuelle Tschetschenen darstellten und er sich im Falle einer offiziellen Meldung der Gefahr aussetze, ins Visier der tschetschenischen Behörden zu geraten. Im Rahmen der Stellungnahme vom 31. März 2022 beantragte der Revisionswerber die Einholung aktueller Länderinformationen über die Lage von in russischen Großstädten lebenden homosexuellen Männern tschetschenischer Abstammung.

19 Die Revision, in der auch die Relevanz des Verfahrensfehlers aufgezeigt wird, macht vor diesem Hintergrund zu Recht geltend, dass sich das BVwG begründungslos über diese Beweisanträge hinweggesetzt hat. Sie zeigt zudem auf, dass sich bereits aus den vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen selbst ergibt, dass die Lage von nicht aus Tschetschenien stammenden homosexuellen Männern, die in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebten, nicht gleichgesetzt werden könne mit jener von aus Tschetschenien stammenden homosexuellen Männern: So stellte das BVwG etwa fest, dass sich die Lage Homosexueller in der Russischen Föderation „regional sehr unterschiedlich“ gestalte (vgl. Erkenntnis, Seite 45), Betroffene in anderen Teilen Russlands außerhalb Tschetscheniens teilweise keine Sicherheit fänden und es in einigen Fällen zu Entführungen gekommen sei (vgl. Erkenntnis, Seite 47). Sicherheitskräfte, die Kadryrow zuzurechnen seien, seien Aussagen von NGOs zufolge auch in Moskau präsent. Es gebe Berichte von Fällen, in welchen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden, welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme hätten, Flüchtende in andere Landesteile verfolgten, sowie davon, dass LGBTI Personen gegen ihren Willen nach Tschetschenien zurückgeholt würden (vgl. Erkenntnis, Seite 29).

20 Die Revision verweist dazu außerdem darauf, dass etwa die ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) in ihrer „Annual Review of the Human Rights Situation of Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex People in Europe and Central Asia 2022“ von Fällen zwangsweiser Rückführungen von wegen ihrer sexuellen Orientierung in das westliche Russland geflüchteten Tschetscheninnen und Tschetschenen berichte. Dabei seien Personen nach Tschetschenien überführt, unter falschen Terrorismusanschuldigungen ohne Beweise festgehalten, psychologischer Folter und körperlicher Misshandlung ausgesetzt worden und hätten keinen Zugang zu einem Anwalt gehabt.

21 Darüber hinaus macht die Revision auch zutreffend geltend, dass sich das BVwG nur unzureichend mit der Prozessbehauptung des Revisionswerbers auseinandergesetzt hat, er wolle seine sexuelle Orientierung künftig nicht mehr verheimlichen und werde deshalb ins Visier tschetschenischer Behörden geraten sowie einer Verfolgung durch diese auch in russischen Großstädten ausgesetzt sein.

22 In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass es nach der Auffassung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) unbeachtlich ist, ob die Gefahr einer Verfolgung im Sinn des Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie dadurch vermieden werden könnte, dass der Betroffene beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person; es kann von einem Asylwerber nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält, um eine Verfolgung zu vermeiden (EuGH 7.11.2013, Minister voor Immigratie en Asiel/X, Y, Z , C 199/12 bis C 201/12, Rn. 70 ff; vgl zuletzt auch VwGH 12.9.2023, Ra 2023/18/0052).

23 Das angefochtene Erkenntnis war daher in seinem Spruchpunkt A) I. gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf weiteres Revisionsvorbringen näher eingegangen werden müsste.

24 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. November 2023

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