Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Mag. Berger und Dr. Horvath als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der B L, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2023, W242 1415591 4/8E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 11. Februar 2022 wurde ein Antrag der Revisionswerberin, einer mongolischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 Asylgesetz (AsylG 2005) wegen des Mangels der Vorlage eines Reisedokuments gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ein auf die Heilung dieses Mangels gerichteter Antrag gemäß § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 iVm. § 8 Asylgesetz Durchführungsverordnung 2005 abgewiesen. Unter einem wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerberin in die Mongolei zulässig sei. Der Revisionswerberin wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt und der Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt.
2 Der dagegen gerichteten Beschwerde der Revisionswerberin gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung lediglich insoweit Folge, als es den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde aufhob und der Revisionswerberin eine Frist für ihre freiwillige Ausreise einräumte. Im Übrigen also betreffend die Verweigerung der Heilung des Mangels des Antrags auf Verleihung des Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 sowie dessen Zurückweisung, die Erlassung der Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Eine Revision dagegen erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
3 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision, in der ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in den nachstehend näher erörterten Punkten behauptet wird.
4 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Die Revision wendet sich in der Darlegung ihrer Zulässigkeit zunächst gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) iVm Art. 8 EMRK angestellte Interessenabwägung.
8 Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG (vgl. VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
9 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. erneut VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
10 Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist zwar nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0165, sowie erneut 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, jeweils mwN).
11 Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können. Dazu zählen etwa das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, eine zweifache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren, oder die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, sowie dem folgend erneut VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, jeweils mwN).
12 Dem Umstand, dass der Aufenthaltsstatus des Fremden ein unsicherer war, kommt zwar Bedeutung zu, er hat aber nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist. Allerdings ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Inlandsaufenthalt überwiegend unrechtmäßig war (vgl. erneut VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
13 Im Ergebnis bedeutet das, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalts eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (vgl. erneut VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, sowie dem folgend erneut VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
14 Die Revisionswerberin begründet den Vorwurf der Rechtswidrigkeit der durch das Bundesverwaltungsgericht angestellten Interessenabwägung mit der Dauer ihres Aufenthalts von mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet unter besonderer Hervorkehrung ihrer Ehe mit einem in Österreich niedergelassenen Partner mongolischer Abstammung, ihren Deutschkenntnissen, ihrer Beziehung zu in Österreich lebenden Verwandten und einer Einstellungszusage.
15 Unabhängig davon, ob man zugrunde legt, dass sich die Revisionswerberin durchgehend etwas unter zehn Jahre im Bundesgebiet aufhält (vgl. zur Anwendung des dargestellten Maßstabs auch bei knapp zehnjähriger Aufenthaltsdauer VwGH 10.11.2015, Ro 2015/19/0001) oder wie sie die Dauer eines früheren Inlandsaufenthalts hinzurechnet, obwohl sie zwischenzeitlich für beträchtliche Zeit freiwillig wieder in den Herkunftsstaat zurückkehrte, und daher von einer Aufenthaltsdauer von mehr als zehn Jahren ausgeht, hatte das Bundesverwaltungsgericht neben der langen Aufenthaltsdauer fallbezogen weitere Umstände gewichtend einzubeziehen. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigte insbesondere, dass die Revisionswerberin wiederholt unrechtmäßig in das Bundesgebiet einreiste, nach einem unter falscher Identität gestellten Antrag auf internationalen Schutz (ebenso erfolglos) mehrere auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln gerichtete Anträge stellte, erst während ihres rechtswidrigen Aufenthalts im Bewusstsein um dessen Unsicherheit die Partnerschaft und Ehe mit ihrem Gatten einging, keine signifikant fortgeschrittenen Deutschkenntnisse aufweist, intakte Bindungen zum Herkunftsstaat hat und im Bundesgebiet noch nie erwerbstätig und auch noch nie gemeinnützig tätig war. Weiters berücksichtigte das Bundesverwaltungsgericht vor allem den durch die Revisionswerberin eingeräumten Umstand, dass sie sich keinen (neuen) Reisepass ausstellen ließ, um ihre Aufenthaltsbeendigung zu erschweren.
16 Mit Blick darauf konnte das Bundesverwaltungsgericht im Lichte der vorzitierten Rechtsprechung fallbezogen jedenfalls nicht unvertretbar davon ausgehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Revisionswerberin im Bundesgebiet deren Interessen an einem weiteren Verbleib überwiegt.
17 Ferner wendet sich die Revisionswerberin gegen die Verweigerung der Heilung des Mangels der unterlassenen Vorlage eines Reisedokuments anlässlich des Antrags auf Erteilung des Aufenthaltstitels.
18 In diesem Zusammenhang wendet sich die Revisionswerberin gegen die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass es ihr möglich gewesen wäre, sich einen (neuen) Reisepass ausstellen zu lassen. Sie moniert, dass diese Feststellung durch das Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts nicht getragen werden könne, sondern Nachforschungen dazu hätten angestellt werden müssen.
19 Die Frage, ob eine (weitere) Beweisaufnahme im Rahmen der Ermittlungen notwendig ist, unterliegt der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichts. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG läge in diesem Zusammenhang nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. VwGH 19.4.2023, Ra 2022/17/0232, mwN).
20 Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. erneut VwGH 19.4.2023, Ra 2022/17/0232, mwN).
21 Mit ihrem Vorbringen zeigt die Revisionswerberin weder wegen der Unterlassung weiterer Beweisaufnahmen noch betreffend die Beweiswürdigung einen im Revisionsverfahren aufzugreifenden Mangel auf, zumal sich das Bundesverwaltungsgericht insofern auch tragend auf die Angabe der Revisionswerberin stützte, seitens der Botschaft der Mongolei bereits in der Vergangenheit einen Reisepass ausgestellt bekommen zu haben, den sie jedoch verloren habe.
Entgegen ihrer Annahme ist für die Revisionswerberin auch aus dem Erkenntnis VwGH 31.8.2017, Ro 2016/21/0019, schon deshalb nichts zu gewinnen, weil dieses ausschließlich die Heilung von mangelhaften Anträgen auf Erteilung von hier nicht einschlägigen Aufenthaltstiteln nach § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 betrifft.
22 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 27. Oktober 2023