Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Andrés, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Jänner 2023, 1. G305 2232043 2/12E, 2. G305 2215578 2/6E, 3. G305 2215579 2/6E, 4. G305 2215582 2/6E, 5. G305 2215581 2/6E und 6. G305 2215580 2/6E, betreffend Wiederaufnahmeanträge (mitbeteiligte Parteien: 1. R A, 2. Ah S, 3. Ay S, 4. Az S, 5. Mo S und 6. Mu S, alle in S, alle vertreten durch die Kocher Bucher Rechtsanwälte OG in 8010 Graz, Friedrichgasse 31), zu Recht erkannt:
Die angefochtenen Beschlüsse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts aufgehoben.
Ein Kostenersatz an die Mitbeteiligten findet nicht statt.
1 Die mitbeteiligten Parteien sind Staatsangehörige des Irak. Die Erstmitbeteiligte und der Viertmitbeteiligte sind die Eltern der übrigen Mitbeteiligten und reisten mit diesen ihren gemeinsamen Kindern, einem Bruder des Viertmitbeteiligten und der in der Zwischenzeit in Österreich verstorbenen Mutter des Viertmitbeteiligten im Jahr 2016 nach Österreich ein und stellten Anträge auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005.
2 Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Februar 2022 wurde diesen Anträgen im Beschwerdeverfahren stattgegeben und den Mitbeteiligten der Status der Asylberechtigten zuerkannt, sowie ausgesprochen, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme und ihnen eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Dabei erachtete das Bundesverwaltungsgericht die vom Viertmitbeteiligten vorgebrachte Verfolgung infolge einer unterstellten Anhängerschaft zum „Islamischen Staat“ und einer Verfolgung durch Private aufgrund von Vorfällen aus dem Jahr 2014 als glaubhaft und hielt fest, dass sich diese Verfolgung auch auf nahe Verwandte, konkret den Zweitmitbeteiligten (den volljährigen Sohn des Viertmitbeteiligten und der Erstmitbeteiligten) erstreckte. Den übrigen Mitbeteiligten sei im Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 derselbe Schutz zuzuerkennen. Diese Erkenntnisse erwuchsen in Rechtskraft.
3 Am 22. September 2022 beantragte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Wiederaufnahme der Asylverfahren der Mitbeteiligten mit näherer Begründung und unter Vorlage einer „Red Notice“, eines durch Interpol ausgestellten internationalen Haftbefehls gegen den Viertmitbeteiligten. Dieser sei dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 13. September 2022 zugegangen.
4 Mit den angefochtenen Beschlüssen wies das Bundesverwaltungsgericht diese Anträge auf Wiederaufnahme ab (Spruchpunkt I.) und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.).
5 Diese Entscheidungen begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme nicht erfüllt seien. Ein nicht näher bezeichnetes Erhebungsverfahren der Staatsanwaltschaft und eine damit verbundene massive Straffälligkeit des Vaters der Familie sei bereits Gegenstand der rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren gewesen. In dem unter Rz. 2 zitierten Erkenntnis sei dargelegt, dass auch der nunmehr vorgelegte internationale Haftbefehl nichts an der asylrelevanten Gefährdung der Familie bei einer Rückkehr in den Irak ändere. Zudem ergebe sich aus einer dementsprechenden Stellungnahme der Staatsanwaltschaft L., dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien, weshalb auch von Seiten der österreichischen Strafverfolgung im weitesten Sinne keine Änderung gegeben sei. Nach einer allfälligen strafgerichtlichen Verurteilung des Vaters der Familie werde dann dieses Faktum im Wege eines Asylaberkennungsverfahrens zu prüfen sein. Die Anträge des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl seien daher abzuweisen gewesen.
6 Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG abgewichen. Es habe sich nicht näher mit dem neu hervorgekommenen Beweismittel einer Interpol Fahndung gegen den Viertmitbeteiligten wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation und damit dem Vorliegen des Wiederaufnahmegrundes des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG auseinandergesetzt. Das sei wesentlich, weil das Bundesverwaltungsgericht zum Vorliegen eines möglichen Asylausschlussgrundes im Erkenntnis vom 28. Februar 2022 im wiederaufzunehmenden Verfahren noch ausgeführt habe, dass im Ermittlungsverfahren bisher keine Hinweise auf eine extremistische Einstellung des Viertmitbeteiligten oder eine konkrete Verbindung zu einer als Terrororganisation oder einer solchen nahestehenden Organisation hervorgekommen seien, die einen Asylausschlussgrund hervorgebracht hätten. Vor diesem Hintergrund sei das Hervorkommen des neuen Beweismittels objektiv geeignet, in Zweifel zu ziehen, dass dem Viertmitbeteiligten seine terroristische Gesinnung bloß unterstellt worden sei, und hätte daher zu einem anderen Spruch, nämlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 3 Z 2 AsylG 2005 wegen Setzung eines Asylausschlussgrundes statt Zuerkennung von Asyl nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 führen müssen: Dies wäre infolgedessen auch hinsichtlich der übrigen Mitbeteiligten im Familienverfahren relevant gewesen.
7 Der Verwaltungsgerichtshof führte ein Vorverfahren durch, in welchem die mitbeteiligten Parteien Revisionsbeantwortungen erstatteten und die kostenpflichtige Zurück , in eventu Abweisung der Revision beantragten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Amtsrevision erweist sich als zulässig und begründet.
9 Gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und denen allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.
10 Gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG rechtfertigen neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel (also solche, die bereits zur Zeit des früheren Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden) bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen eine Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn sie die Richtigkeit des angenommenen Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt als zweifelhaft erscheinen lassen. Gleiches gilt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für neu entstandene Beweismittel, sofern sie sich auf „alte“ d.h. nicht ebenfalls erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene Tatsachen beziehen. Hingegen ist bei Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung eingetreten sind, kein Antrag auf Wiederaufnahme, sondern ein neuer Antrag zu stellen, weil in diesem Fall einem auf der Basis des geänderten Sachverhalts gestellten Antrag die Rechtskraft bereits erlassener Bescheide nicht entgegensteht (vgl. VwGH 20.3.2019, Ra 2019/20/0096; 8.8.2017, Ra 2017/19/0120, jeweils mwN).
11 Wie in der Amtsrevision zutreffend aufgezeigt wird, liegt gegenständlich ein Beweismittel im oben beschriebenen Sinn vor. Die nach Zustellung des Erkenntnisses, also „neu“ entstandene „Red Notice“ bezieht sich nämlich auf eine bereits vor Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens bestehende Strafverfolgung des Zweitmitbeteiligten aufgrund des Verdachts der Teilnahme an einem Überfall auf eine Polizeistation im Jahr 2004 als Mitglied der Ansar al-Sunnaan, einer islamistischen Gruppierung.
12 Die Wiederaufnahme des Verfahrens setzt die Eignung der neuen Tatsachen oder Beweismittel voraus, dass diese allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Ergebnis herbeigeführt hätten. Ob diese Eignung vorliegt, ist eine Rechtsfrage, die im Wiederaufnahmeverfahren zu beantworten ist; ob tatsächlich ein anderes Ergebnis des Verfahrens zustande kommt, ist sodann eine Frage, die im wiederaufgenommenen Verfahren zu klären ist.
13 Tauglich ist ein Beweismittel als Wiederaufnahmegrund (ungeachtet des Erfordernisses der Neuheit) also nur dann, wenn es nach seinem objektiven Inhalt und unvorgreiflich der Bewertung seiner Glaubwürdigkeit die abstrakte Eignung besitzt, jene Tatsachen in Zweifel zu ziehen, auf welche das Bundesverwaltungsgericht entweder die den Gegenstand des Wiederaufnahmeverfahrens bildende Entscheidung oder zumindest die zum Ergebnis dieser Entscheidung führende Beweiswürdigung tragend gestützt hat (vgl. zu alldem VwGH 18.1.2017, Ra 2016/18/0197, mwN).
14 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seiner Entscheidung aber weder damit auseinandergesetzt, ob es sich bei dem Beweismittel um eine neu hervorgekommene Tatsache handelt, noch damit, ob das Beweismittel geeignet sei, eine andere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen. Vielmehr vermeinte es, erst eine rechtskräftige Verurteilung des Viertmitbeteiligten könne zu einer Aberkennung des Asylstatus führen (iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005). Dabei übersieht es den vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl behaupteten, nun auf eine „Red Notice“ gestützten Ausschlussgrund des § 6 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 (Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit).
15 Ausgehend davon hat das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Die angefochtenenen Beschlüsse waren daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
16 Ein Kostenersatz an die Mitbeteiligten findet nicht statt, da Mitbeteiligte nach § 47 Abs. 3 VwGG Anspruch auf Aufwandersatz nur im Fall der Abweisung der Revision haben (vgl. VwGH 6.9.2023, Ra 2023/05/0063, mwN).
Wien, am 15. Juli 2024
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